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NWB Nr. 51 vom Seite 3505

Die Schätzung im Steuerstrafrecht

Teil 1: Grundlagen der fiskalischen Schätzung

Dr. Henning Wenzel

[i]v. Wedelstädt, Schätzung, infoCenter, NWB TAAAB-04869 Schätzungen spielen im Steuerrecht und im Steuerstrafrecht gleichermaßen eine Rolle. Während bei fiskalischen Schätzungen zahlreiche Publikationen und Urteile zu Verprobungs- und Schätzungsmethoden vorhanden sind, tappt die Verteidigung bei strafprozessualen Schätzungen zumeist im Dunkeln. Allerdings müssen bei der zielgerichteten Verteidigung neben dem Strafrecht auch die Grundlagen der fiskalischen Schätzung beherrscht werden, da diese den Grundstein der strafrechtlichen Schätzung bilden. Im nachfolgenden ersten Teil der dreiteiligen Aufsatzreihe zu den strafrechtlichen Besonderheiten der Schätzung werden daher zunächst die wichtigsten Grundlagen der fiskalischen Schätzung in Bezug auf deren Angreifbarkeit wiederholt. Hierdurch erlangt die strafprozessuale Verteidigung Instrumente an die Hand, mit denen sie ihre Verteidigung strukturell aufbauen kann.

I. Grundlagen

[i]Schätzung von BesteuerungsgrundlagenDas Steuer- und das Steuerstrafrecht hängen eng zusammen, da die Steuerhinterziehung ein Blanketttatbestand ist. Die Bestimmung bzw. Herleitung des objektiven Tatbestands wird maßgeblich vom formalen und materiellen Steuerrecht ausgefüllt. Besonders der Taterfolg der vollendeten Steuerverkürzung baut auf dem Vergleich zwischen bislang erklärten Tatsachen (Begehung) bzw. der nicht erfolgten Erklärung (Unterlassung) und dem steuerlich materiell richtigen Ergebnis auf (vgl. Wenzel, NWB 13/2019 S. 879, 881). Das materiell richtige steuerliche Ergebnis lässt sich allerdings nicht immer auf dem üblichen Weg vollständig ausermitteln; der anzulegende Sachverhalt bleibt nicht selten unscharf und unvollständig. Um diese Aufklärungslücke zu schließen, hat der Gesetzgeber im Steuerrecht mit § 162 Abs. 1 Satz 1 AO die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen eingeführt. S. 3506

[i]Zugmaier/Nöcker/Webel, § 162 AO, NWB QAAAH-03961 Wie noch genauer zu zeigen ist, können in bestimmten Sachverhaltskonstellationen die steuerlichen Schätzmethoden auch auf das Steuerstrafrecht partiell übertragen werden (vgl. Schmitz/Wulf in MüKo Strafgesetzbuch, 3. Aufl. 2019, § 370 AO Rz. 200). Grundsätzlich können damit im fiskalischen und strafprozessualen Verfahren dieselben Schätzmethoden zum Einsatz kommen, auch wenn im strafprozessualen Ermittlungsverfahren deutlich restriktivere Voraussetzungen gelten.

Hinweis:

[i]Rechtskonformität der Schätzung prüfenDiese noch aufzuzeigenden Differenzierungen führen in der Praxis dazu, dass gerade im Steuerstrafrecht die Steuerfahndung und die Außendienste in ihren Schätzungsergebnissen ungenau sind. Aber auch im Steuerrecht sind Schätzungen immer wieder streitanfällig, da die Grundlagen nicht richtig gewählt wurden. Die durchgeführten Schätzungen sollten sowohl im fiskalischen Steuerverfahren als auch im strafprozessualen Ermittlungsverfahren getrennt voneinander kritisch analysiert und auf ihre Rechtskonformität überprüft werden.

[i]Unterschiedliche ErmittlungsrechteAufgrund der differenzierten Ermittlungsrechte unterscheiden sich die Befugnisse und Möglichkeiten der Außenprüfung und der Steuerfahndung signifikant. In der Praxis wird die überwiegende Anzahl an Steuerstrafverfahren durch die Außenprüfung begleitet. Ihre (steuerlich) ermittelten Erkenntnisse werden im Nachgang durch die Strafsachen- und Bußgeldstellen in das strafprozessuale Ermittlungsverfahren transferiert, das sich durch eine Formstrenge und einem Beweisrecht mit (deutlich) höheren Hürden auszeichnet.

Hinweis:

Die Steuerfahndung kann/soll neben den Ermittlungsvorschriften der Strafprozessordnung auch die steuerlichen Verfahrensvorschriften zur Ermittlung des fiskalischen Ergebnisses anwenden. In dieser Dualität des Rechts ist aus dem Rechtsgedanken des § 393 Abs. 1 AO heraus (Steuerpflichtiger und zugleich Beschuldigter) auf das Transparenzgebot zu achten, wonach dem betroffenen Bürger mit „offenem Visier“ gegenübergetreten werden muss (Beispiel: Differenzierung zwischen Außenprüfungsbericht und Strafvorwurf). Ein Verstoß gegen dieses Transparenzgebot kann im konkreten Einzelfall zu einem Beweisverwertungsverbot führen (ausführlich Tants, Beweisverwertungsverbote, 2020, S. 191 ff.).

[i]Fehlerhafte Anwendung der SchätzungsgrundsätzeIn nicht wenigen Sachverhaltskonstellationen stecken die Fehler nicht im (strafrechtlichen) Detail, sondern darin, dass die Ermittlungsbehörde bereits die allgemein gültigen Grundlagen der Schätzung nicht beachtet. Dieser Grundlagenfehler wirkt sich regelmäßig zugleich auf das fiskalische und das strafprozessuale Ermittlungsverfahren aus, wie vor allem die nicht selten erfolgreichen strafprozessualen Revisionsverfahren zeigen.

Hinweis:

Bevor die Details geprüft werden, sollte der Steuerberater und/oder Verteidiger ein besonderes Augenmerk auf die vollständige Einhaltung der allgemein gültigen Schätzungsgrundsätze legen. Die durchgeführte Schätzung sollte vor allem methodisch überprüft und hinsichtlich ihrer inneren Logik nachvollzogen werden.

II. Begriffsbestimmung

[i]Schätzung ≠ VerprobungUnter dem Begriff „Schätzung“ wird im Folgenden die Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen der Art und Höhe nach anhand zu wählender Schätzungsmethoden verstanden. Die Schätzung ist von der sog. Verprobung zu unterscheiden, mit der z. B. die Buchführung eines Steuerpflichtigen auf Schlüssigkeit überprüft und gegebenenfalls widerlegt werden kann (dazu instruktiv Wenzel, StBp 2022 S. 17, 20 ff.). Gleichwohl ist S. 3507darauf hinzuweisen, dass nicht selten die Methoden in beiden Fällen zugleich angewandt werden können und so Überschneidungen zwischen der Verprobung und der Schätzung bestehen. Gleichwohl müssen die Ergebnisse einer Verprobung und der anschließend durchgeführten Schätzung getrennt voneinander erkennbar und nachvollziehbar sein, da bei den (Ergänzungs)Schätzungen auch die materiell richtigen Tatsachen mit einzubeziehen sind.

III. Obliegenheitsverletzungen als Grundvoraussetzung einer fiskalischen Schätzung

[i]BeweislastverteilungDie Finanzbehörde hat gem. §§ 88, 89 AO die wahrheitsgemäße und vollständige Aufklärung abgabenrechtlich bedeutsamer Tatsachen sicherzustellen. Der Steuerpflichtige hat gem. §§ 90 ff., 140 ff., 200 AO bei dieser Aufklärung mitzuwirken (vgl. zu Betriebsprüfungen Nöcker, NWB 42/2016 S. 3157, 3161). Für den Fall, dass die Tatsachen trotz der Amtsermittlungspflicht nicht aufgeklärt werden können, gilt der Grundsatz des non liquet („es ist nicht klar“). Danach ist im fiskalischen Verfahren – anders als im Steuerstrafverfahren – eine Beweislastverteilung vorzunehmen (ausführlich Jörißen, AO-StB 2022 S. 320 ff.).

  • Bei Unaufklärbarkeit bzw. Unerweislichkeit steuerbegründender bzw. steuererhöhender Tatsachen hat das Finanzamt die den Steuerpflichtigen belastenden Tatsachen nachweislich darzulegen. Gelingt dieser Beweis nicht, geht dies zulasten des Fiskus.

  • Bei steuermindernden Tatsachen obliegt hingegen dem Steuerpflichtigen die Darlegungs- und Beweislast. Die mangelnde Beweisbarkeit geht zu seinen Lasten; die behaupteten Tatsachen werden nicht steuermindernd berücksichtigt.

[i]BeweismaßDie Finanzverwaltung hat den maßgeblichen Sachverhalt und den dazu zu führenden Beweis grundsätzlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erbringen. Wenn die Aufklärung einer steuerbegründenden Tatsache jedoch dadurch scheitert, dass der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht ausreichend nachgekommen ist, verringert sich das Beweismaß, das das Finanzamt bei der Feststellung des Sachverhalts anzuwenden hat. So z. B. wenn der Steuerpflichtige zur Höhe des Umsatzes eines bestimmten Jahres oder zur Qualifizierung von Zahlungen als Betriebseinnahmen keine oder nur unvollständige Aufzeichnungen vorlegt. Das Finanzamt darf sich dann im fiskalischen Verfahren mit einem geringeren Grad an Überzeugung begnügen. In letzter Konsequenz kann die unaufklärbare Tatsache gem. § 162 AO geschätzt werden.

[i]WechselwirkungZwischen dem Obliegenheitsverstoß des Steuerpflichtigen und der Reduzierung der Untersuchungs- und Nachweispflicht der Finanzbehörde besteht eine flexible Wechselwirkung:

  • Je schwerwiegender die mangelnde Mitwirkung ist, desto eher ist die Ermittlungspflicht der Finanzverwaltung reduziert und die Schätzungsbefugnis eröffnet.

  • Je weitreichender der Steuerpflichtige seinen Obliegenheiten nicht nachkommt, desto höher darf eine steuerliche Schätzung und unter Umständen ein fiskalischer Sicherheitszuschlag ausfallen.

Hinweis:

[i]Mitwirkungspflichtverletzung bewiesen?Die Finanzverwaltung muss im fiskalischen Verfahren für Dritte konkret nachvollziehbar und verschriftlicht herausarbeiten, ob der Steuerpflichtige überhaupt gegen seine Obliegenheiten verstoßen hat. Die mangelnde Mitwirkung darf nicht nur behauptet werden, sondern sie muss substantiiert mit Tatsachen unterfüttert sein, die einem Beweisverfahren ggf. standhalten können. Die Steuerberatung und ggf. Verteidigung sollte im Detail prüfen, was dem Steuerpflichtigen hinsichtlich seiner Mitwirkungspflichtverletzung vorgeworfen wird, ob dieser Vorwurf beweisbar ist und S. 3508welchen Grad bzw. Umfang dieser Vorwurf hat. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich Rückschlüsse für eine sachgerechte Erwiderung erarbeiten.

IV. Feststellen der Schätzungsbefugnis

1. Voraussetzungen

[i]Liegt ein Besteuerungstatbestand vor?Die Prüfung von Schätzungen erfolgt in drei Stufen (vgl. Steinhauff, AO-StB 2019 S. 260). Auf der ersten Stufe ist die Schätzungsbefugnis zu prüfen. Diese stellt die „Eingangstür“ zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen dar. Wie im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren muss auch im fiskalischen Verfahren aufgrund von Tatsachen und Erkenntnissen feststehen, dass ein Besteuerungstatbestand (z. B. selbständige oder gewerbliche Einkünfte, umsatzsteuerpflichtige Umsätze) überhaupt erfüllt ist. Die Voraussetzungen der Schätzungsbefugnis selbst müssen erweislich feststehen.

[i]Mögliche ObliegenheitsverletzungenDie zuvor als notwendig beschriebene Obliegenheitsverletzung wird in § 162 Abs. 2 AO für die wichtigsten Fälle konkretisiert:

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