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NWB Nr. 2 vom Seite 105

Die Schätzung im Steuerstrafrecht

Teil 3: Teilschätzung, Vollschätzung, Kompensationsverbot und Strafzumessung

Dr. Henning Wenzel

[i]zu Teil 1 und 2 s. Wenzel, NWB 51-52/2023 S. 3505; ders., NWB 1/2024 S. 39Im zweiten Teil der dreiteiligen Aufsatzreihe „Die Schätzung im Steuerstrafrecht“ wurden die strafprozessualen Grundlagen und deren Anwendung auf die griffweisen Schätzungen beschrieben (s. Wenzel, NWB 1/2024 S. 39). In diesem dritten und letzten Teil werden die Besonderheiten zu den drei Stufen einer Schätzung behandelt. Gegenstand der Erörterungen sind die Abgrenzung von konkreter Berechnung und Schätzung, die Unterscheidung von konkreten und generalisierenden Schätzungsmethoden, die Auswirkungen einer Schätzung auf die Tateinziehung von Taterträgen, die neuen Vorgaben des BGH beim Kompensationsverbot und die Auswirkung der steuerlichen Obliegenheitsverletzungen auf die Strafbestimmung.

I. Eingeschränkte Anwendbarkeit des Steuerrechts

[i]Wirken sich die Beweislastverschiebungen ...Die Anforderungen an eine fiskalischen Schätzung i. S. des § 162 AO werden durch weitere formelle Vorgaben der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung konkretisiert (vgl. ausführlich Schmidt-Liebig, NWB F. 17 S. 1847, 1849). Neben den weitreichenden Obliegenheiten des Steuerpflichtigen aus §§ 88, 90 ff., 200 AO führt insbesondere § 162 Abs. 2 und 3 AO zu einer Beweislastverschiebung zuungunsten des Steuerpflichtigen. Auch die Grundlagen und Vorgaben der GoBD können Auswirkungen auf eine Schätzungsbefugnis haben (vgl. Vetten/Gerster, NWB 51/2019 S. 3778, 3784). Fraglich ist deshalb, ob sich diese aus der Heranziehung der fiskalischen Methoden ergebenden Beweislastverschiebungen auch auf den Strafprozess auswirken.

[i]... auf den Strafprozess aus?Dies ist aber abzulehnen, weil die weitreichenden Beweiserleichterungen bzw. Beweislastverschiebungen dem im Strafprozess vorhandenem eigenen Regelwerk widersprechen (vgl. , HFR 1995 S. 476, Rz. 21). Allerdings ist aus der Grundidee der Beweiserleichterungen der mittelbare S. 106Rückschluss zu ziehen, dass sich der Beschuldigte auch im Steuerstrafrecht mögliche Unsicherheiten zu seinem Nachteil entgegenhalten lassen muss (vgl. BGH 5 StR 134/94, Rz. 22). Diese Annahme ist m. E. nur dann möglich, wenn der evident wichtige Grundsatz „in dubio pro reo“ beachtet wird. Es ist Aufgabe der Ermittlungsbehörden und des erkennenden Gerichts, im Zuge des strafprozessualen Beweismaßes den Sachverhalt soweit präzise aufzuklären, dass gerade vor dem Hintergrund des Grundsatzes „in dubio pro reo“ keine Zweifel und damit Ungenauigkeiten mehr verbleiben (vgl. auch Reichling, wistra 2019 S. 222, 225). Daher können die formellen steuerrechtlichen Normen der Beweislastverteilung wie z. B. § 90 AO sowie der Begründung bzw. Auslösung von Schätzungsgrundlagen z. B. § 162 Abs. 2 und 3 AO tatbestandlich nicht auf den Strafprozess direkt, analog oder indirekt angewandt werden.

[i]Besonderheiten des Strafprozessrechts sind zu beachtenAus dem Fiskalrecht sind allein die dort rechtlich abgesicherten und praktisch erprobten Schätzungsmethoden unter Beachtung und Einbindung der Besonderheiten des Strafprozessrechts zu übernehmen; insoweit kann nicht jede fiskalische Schätzungsmethode eine singuläre, direkte Anwendung finden, wie noch zu zeigen sein wird.

II. Konkrete Berechnung versus Schätzungsbefugnis

[i]Drei StufenAuch die Durchführung der strafprozessualen Schätzung orientiert sich an den fiskalisch geprägten drei Stufen einer Schätzung (vgl. , NWB FAAAF-83093), wenn zuvor nachweislich festgestellt wurde, dass der Beschuldigte einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat. Bei der Übernahme bzw. Ausgestaltung der drei Stufen müssen die engeren Voraussetzungen des Strafprozessrechts beachtet und implementiert werden.

[i]Erste Stufe: Konkrete BerechnungWie beim Steuerrecht ist auch beim Steuerstrafrecht auf der ersten Stufe die Schätzungsbefugnis zu ermitteln. Um eine solche Befugnis überhaupt zu erhalten, muss jedoch mit einem weiterreichenden Aufwand zunächst versucht werden, anhand präsenter Beweismittel eine konkrete Berechnung durchzuführen, die dem Ergebnis eines ordnungsgemäßen Bestandsvergleichs oder einer ordnungsgemäßen EinnahmenS. 107überschussrechnung möglichst nahekommt (vgl. , NWB KAAAH-69347). Insbesondere sind die erweiterten Möglichkeiten des Strafprozessrechts einzusetzen. Es sind hierzu Kontenabfragen mit anschließender Einvernahme der Banken als Zeugen, Durchsuchungen, Zeugenbefragungen, Durchsicht von elektronischen Unterlagen und Quellen (z. B. E-Mail-Konten, Chatverläufe) und in speziellen Fallkonstellationen auch verdeckte Maßnahmen (Telekommunikationsüberwachung, Observation, akustische Überwachung außerhalb des Wohnraums usw.) möglich und ermessensgerecht zu nutzen.

Hinweis:

[i]AStBV (St) 2023, BStBl 2023 I S. 103Die strafprozessualen Ermittlungsrechte stehen den Außenprüfungsdiensten nicht zu. Sie führen ihre eigenen Aufklärungsschritte auf der Grundlage der Abgabenordnung weiter durch. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie deshalb von der restriktiveren Anwendung im Steuerstrafrecht befreit wären, da sie ab der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im Auftrag der Strafsachen- und Bußgeldstelle die Ermittlungen führen und ihren Weisungen unterliegen (vgl. Nr. 17 Abs. 4 Satz 3 und 4 AStBV (St) 2023). [i]Außenprüfung untersteht BuStraDen Ermittlungsbehörden (Strafsachen- und Bußgeldstelle oder Staatsanwaltschaft) stehen die strafprozessualen Ermittlungsmöglichkeiten zu, die sie eigenständig ausüben können. Bei Außenprüfungen werden insbesondere regelmäßig die Kontenabfrage gem. § 24c KWG mit der anschließenden Anforderung von vollständigen Kontounterlagen bei Banken oder die Zeugenvernehmung in Betracht kommen; zu den Zeugenvernehmungen gehört es unter anderem, Unterlagen bei Vertragspartnern anzufordern. [i]BuStra stehen strafprozessuale Ermittlungsmöglichkeiten zuDie daraus gewonnenen Erkenntnisse können den Außenprüfungsdiensten zur weiteren Verwendung bei ihren fiskalischen Überprüfungen überlassen werden. Unterlässt die Ermittlungsbehörde solche Nachforschungen (aus Bequemlichkeit oder Verwaltungsökonomie), kann im Einzelfall die Schätzungsbefugnis trotz der Lückenhaftigkeit der Buchführung oder der Aufzeichnungen ausgeschlossen sein; eine Transformation der rechtmäßigen fiskalischen Schätzung in das Steuerstrafverfahren ist dann aus Verfahrensgründen nicht möglich. [i]Erkenntnisse der BuStra rechtfertigen aber nicht automatisch Schätzungen der AußenprüfungDer Verteidiger sollte bei der Akteneinsicht speziell darauf achten, wie die Außenprüfungsdienste ermittelt haben, welche Maßnahmen durch die Ermittlungsbehörde durchgeführt wurden und in welchem Umfang die dort gewonnenen Erkenntnisse in das Schätzungsverfahren eingeflossen sind. Allerdings sind die vorgenannten Ermittlungshandlungen der Ermittlungsorgane nicht rein formalistisch bindend; steht von Anfang an wegen z. B. erheblicher Unregelmäßigkeiten in der Buchführung fest, dass eine vollständige oder nahezu umfassende Aufklärung anhand der strafprozessualen Mittel nicht möglich ist, wird die Schätzungsbefugnis nicht formal gesperrt. Maßgeblich ist damit der konkrete Einzelfall mit seinem Sachverhalt. Im Zweifel hat die Ermittlungsbehörde von ihrem Weisungs- und Lenkungsrecht Gebrauch zu machen und die Steuerfahndung hinzuzuziehen bzw. den Vorgang vollständig auf diese zu übertragen.

Solange durch Nachermittlungen ein in sich schlüssiges, ein wirtschaftlich mögliches und ein in sich vernünftiges Ergebnis erreichbar ist, ist auf der ersten Stufe die konkrete Ermittlung und Berechnung indiziert, eine Schätzung bleibt dann ausgeschlossen. Dieses Ergebnis kann sich in den unterschiedlichen Ermittlungsstadien hin zu einer Schätzungsbefugnis verändern.

Hinweis:

[i]Verteidigung sollte Beweismittel kritisch prüfenZwar kann Anklage bereits bei einem hinreichenden Tatverdacht erhoben werden, jedoch sollte bei der Beweiswürdigung der strengere Maßstab des Hauptverfahrens angelegt werden, um im Hauptverfahren auf eine kritische Nachprüfung der Verteidigung und des Gerichts vorbereitet zu sein. Die Verteidigung sollte die vorgelegten Beweismittel besonders kritisch prüfen, ob sie nicht vom steuerlichen Verfahren S. 108ohne Anpassungen übernommen wurden, ob sie dem erhöhten Beweismaß des Strafprozesses standhalten und ob das Maß an Gewissheit erreicht wird, mit dem der Betriebsvergleich oder die Einnahmenüberschussrechnung hergestellt ist.

[i]Strafprozessuale SchätzungsbefugnisVerbleiben trotz Ermittlungsmaßnahmen einzelne Lücken, wird die strafprozessuale Schätzung erst zulässig, wenn die Buchführung mit quantitativ zahlreichen oder qualitativ bedeutsamen nicht behebbaren Mängeln versehen ist (vgl. , NWB IAAAE-80075, Rz. 10); geringe Mängel der Buchführung führen hingegen nicht zu einer strafprozessualen Schätzungsbefugnis, sie sind vielmehr aufgrund der oben eingeführten Postulate durch eine konkrete Berechnung zu beheben. Können solche geringfügigen Mängel nicht weiter aufgeklärt werden, wirkt sich dieses Aufklärungsdefizit entsprechend dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zugunsten des Beschuldigten aus (vgl. , NWB KAAAH-69347, Rz. 4).

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