BGH Beschluss v. - StB 5/16

Untersuchungshaft: Nachprüfung der Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das erkennende Gericht im Haftbeschwerdeverfahren; Verhältnismäßigkeit lang andauernder Untersuchungshaft bei komplexen Fällen mit Auslandsbezug

Gesetze: § 120 Abs 1 S 1 StPO vom , § 121 StPO vom , § 122 StPO vom , § 304 Abs 4 StPO vom

Instanzenzug: Az: 3 StE 2/14 - 2 - 7 St 5/14

Gründe

I.

1Der Angeklagte ist auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Generalbundesanwalts beim -2) und des zugrundeliegenden Haftbefehls des Ermittlungsrichters des ) am in Kroatien festgenommen und - bewilligt durch Beschluss des Bezirksgerichts Varazdin vom (Kv-eun 8/14) sowie durch Beschluss des Obersten Gerichts der Republik Kroatien vom (Kz-eun 20/14-6) - am an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert worden. Seit diesem Zeitpunkt befindet er sich im vorliegenden Strafverfahren ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2Den Haftbefehl gegen den Angeklagten vom hat der Ermittlungsrichter des ) abgeändert und neu gefasst; zugleich hat er den Vollzug der Untersuchungshaft angeordnet. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, als Leiter eines Geheimdienstes des ehemaligen Jugoslawien seinen damaligen Untergebenen, den Mitangeklagten P.     , damit beauftragt zu haben, den Mord an dem Exilkroaten D.     , der am in W.         getötet wurde, zu planen und logistisch vorzubereiten.

3Unter dem hat der Generalbundesanwalt wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord bei dem Oberlandesgericht München gegen den Angeklagten Anklage erhoben, die am beim dortigen 7. Strafsenat eingegangen ist. Dieser Senat des Oberlandesgerichts hat am die Anklage des Generalbundesanwalts zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und zugleich Haftfortdauer gegen den Angeklagten angeordnet (§ 207 Abs. 4 StPO). Erneut und bislang letztmalig hat der 7. Strafsenat des ), mit dem die Akten dem Bundesgerichtshof im Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden sind, Haftfortdauer gegen den Angeklagten angeordnet.

4Am hat die Hauptverhandlung vor dem 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts München begonnen, die bisher an insgesamt 99 Tagen durchgeführt worden ist. Derzeit sind weitere 27 Hauptverhandlungstage bis zum bestimmt.

5Mit Schriftsatz seiner Verteidiger vom hat der Angeklagte Haftbeschwerde eingelegt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben.

6Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

7Die Beschwerde ist in ihrer Auslegung durch den Senat gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO zulässig.

8Der Schriftsatz der Verteidiger des Angeklagten vom ist als Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung des anzusehen (§ 300 StPO). Diese Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft war die zeitlich letzte, den Bestand des Haftbefehls gegen den Angeklagten betreffende Entscheidung, gegen die eine Beschwerde zulässig erhoben werden kann. Der aus der Regelung des § 117 Abs. 2 StPO abgeleitete allgemeine Grundsatz, dass der Beschuldigte nur die jeweils letzte Haftentscheidung anfechten kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), liegt die Erwägung zugrunde, dass es einem vernünftigen Verfahrensablauf widersprechen würde, wenn ein Beschwerdeführer in beliebiger Art und Weise auf frühere, möglicherweise in ihrer Begründung bereits überholte Haftentscheidungen zurückgreifen und es hierdurch im Ergebnis zu einander widersprechenden Entscheidungen verschiedener mit der Sache befasster Gerichte kommen könnte.

III.

9Das Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

101. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der dringende Tatverdacht, an der Tötung von       D.       beteiligt gewesen zu sein. Sein Beschwerdevorbringen ist nicht geeignet, ein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Insofern gilt:

11a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. Beschlüsse vom - StB 1/15, BGHR StPO § 304 Abs. 4 Haftbefehl 3; vom - StB 12/12, NJW 2013, 247, 248; vom - StB 21/03, StV 2004, 143; vom  - StB 11/03, NStZ-RR 2003, 368). Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen, unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss das Beschwerdegericht in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen, damit den erhöhten Anforderungen, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen zu stellen sind, ausreichend Rechnung getragen werden kann. Daraus folgt indes nicht, dass das Tatgericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung unterziehen muss. Die abschließende Bewertung der Beweise durch das Oberlandesgericht und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste (vgl. auch , juris Rn. 7 mwN).

12b) Nach diesen Maßstäben ist die durch den Nichtabhilfebeschluss vom näher begründete Bewertung des Oberlandesgerichts, dass der dringende Tatverdacht der Beihilfe zum Mord gegen den Angeklagten weiterhin besteht, nicht zu beanstanden. Auf die Ausführungen in den Gründen dieser Nichtabhilfeentscheidung wird Bezug genommen. Wie sich daraus im Einzelnen ergibt, stellen die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts der Beteiligung des Angeklagten an der Tötung von      D.        nach vorläufiger Bewertung nicht in Frage. Für den Senat besteht auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens, das eine abweichende Bewertung des in der Hauptverhandlung zu erwartenden Beweisergebnisses vornimmt, kein greifbarer Anhaltspunkt, der es rechtfertigen würde, von der - keine ins Auge fallenden Unplausibilitäten enthaltenden - Bewertung des bisher erzielten Kenntnisstandes und der noch nicht erhobenen Beweise durch das Oberlandesgericht abzuweichen und in eigener Einschätzung der Beweislage den dringenden Tatverdacht zu verneinen.

132. Zutreffend ist das Oberlandesgericht auch davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten neben dem Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO weiterhin vorliegt. Dem gegebenen erheblichen Fluchtanreiz stehen weiterhin keine privaten Bindungen und sozialen Beziehungen des Angeklagten in Deutschland gegenüber. Diese Umstände schließen auch eine Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1 StPO aus. Mildere Maßnahmen, mit denen der Zweck der Untersuchungshaft ebenfalls zu erreichen wäre, sind nicht ersichtlich.

143. Die Untersuchungshaft hat mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der gegebenen Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens - auch angesichts der bereits nahezu zwei Jahre währenden Untersuchungshaft und der zu erwartenden Gesamtdauer des Verfahrens - fortzudauern. Ihr weiterer Vollzug steht angesichts der gegebenen Besonderheiten auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

15a) Hierbei ist freilich das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit in besonderer Weise zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

16Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass diese nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.

17Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa mwN, juris Rn. 39 ff.; , juris Rn. 12 ff.).

18b) Daran gemessen ist der Haftbefehl gegen den Angeklagten aufrechtzuerhalten und die Untersuchungshaft weiter zu vollziehen. Der Generalbundesanwalt hat nach der Festnahme des Angeklagten in Kroatien und seiner Auslieferung am die Ermittlungen mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung abgeschlossen und bereits unter dem die Anklage gegen den Angeklagten erhoben. Auch die Durchführung des Zwischenverfahrens und der bisherige Verlauf der Hauptverhandlung lassen erhebliche vermeidbare Verzögerungen (vgl. hierzu , StV 2009, 479, 480 f.) nicht erkennen. Zwar ergibt die rein rechnerische Betrachtung der "Sitzungsfrequenz" mit Blick auf den seit Beginn der Hauptverhandlung am verstrichenen Zeitraum und die Anzahl von bisher 99 Verhandlungstagen, dass das Oberlandesgericht die Hauptverhandlung im Durchschnitt an weniger als zwei Tagen pro Woche durchgeführt hat. Jedoch ist - auch ohne Darlegung des Verlaufs der bisherigen Hauptverhandlung im Detail und der Ursachen hierfür im Einzelnen (vgl. hierzu , juris Rn. 18 ff.) - aus der Nichtabhilfeentscheidung vom hinreichend ersichtlich, dass das Oberlandesgericht seine Hauptverhandlung mit der in Haftsachen gebotenen zügigen Verfahrensweise durchgeführt hat, insbesondere eine höhere "Sitzungsfrequenz" wegen der Besonderheiten der vorliegenden Sache nicht möglich war. Hierfür war insbesondere deren Auslandsbezug verantwortlich, der mit Blick auf den Aufklärungsgrundsatz eine hohe Zahl neuer Rechtshilfeersuchen und schwierige Zeugenladungen notwendig machte. Auf die Ausführungen des Oberlandesgerichts hierzu wird Bezug genommen. Anhaltspunkte dafür, dass diese den besonderen Verlauf der Hauptverhandlung nicht zutreffend wiedergeben, bestehen nicht. Bedeutsame Verzögerungen oder Versäumnisse, die die Fortdauer der Untersuchungshaft mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hindern würden, sind nicht ersichtlich.

19Nach alledem ist der weitere Vollzug der Untersuchungshaft angesichts der Bedeutung der Sache und der konkreten Erwartung einer hohen Freiheitsstrafe immer noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Becker                                  Schäfer                                 Tiemann

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:210416BSTB5.16.0

Fundstelle(n):
YAAAF-73961