BGH Beschluss v. - StB 16/22

Notwendige Begründung eines Nichtabhilfebeschlusses bei Haftbeschwerde während laufender Hauptverhandlung: Tatrichterliche Prüfung des fortbestehenden dringenden Tatverdachts, der fortbestehenden Fluchtgefahr bei einem Tatvorwurf mit terroristischem, ausländerfeindlichen Hintergrund und der Unverhältnismäßigkeit weiterer Inhaftierung

Gesetze: § 112 Abs 2 Nr 2 StPO, § 112 Abs 3 StPO, §§ 112ff StPO, § 116 StPO, § 304 Abs 4 S 2 Halbs 2 Nr 1 StPO, § 306 Abs 1 StPO, § 309 StPO, § 51 Abs 1 S 1 StGB, § 57 Abs 1 StGB, § 129a Abs 1 StGB, § 129a Abs 2 StGB

Instanzenzug: Az: 5 - 2 StE 7/20

Gründe

I.

1Der Angeklagte wurde am vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 118/20), nunmehr aufgrund des am verkündeten Haftbefehls des (5 - 2 StE 7/20).

2Gegenstand des derzeit vollstreckten Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe im Februar 2020 eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) - die "Gruppe       " - unterstützt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB), sowie tatmehrheitlich (§ 53 StGB) hierzu unerlaubt Munition und eine verbotene Hieb- und Stoßwaffe besessen (§ 52 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB).

3Mit Beschlüssen vom (AK 24/20), vom (AK 43/20) und vom (AK 19-28/21) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

4Der Generalbundesanwalt hat am Anklage gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem an.

5Mit Schriftsatz vom hat der Angeklagte durch seine Verteidiger beantragt, den Haftbefehl des Oberlandesgerichts aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag hat das abgelehnt. Zur Begründung hat es zum dringenden Tatverdacht und zur fortbestehenden Fluchtgefahr ausgeführt. Die Straferwartung hat es mit Blick auf mehrere Strafmilderungsgründe dahin konkretisiert, dass der Angeklagte mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen habe, welche die von ihm bereits erlittene Untersuchungshaft "um einige Monate übersteigen" werde. Es hat eine vorzeitige Strafaussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB angesichts der tief verwurzelten rechtsradikalen Gesinnung des Angeklagten als unwahrscheinlich angesehen und angenommen, dass von dem somit "weiterhin drohenden Vollzug einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe" ein erheblicher Fluchtanreiz ausgehe.

6Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Er wendet sich gegen die Annahme von Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

7Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde, die sich zutreffend gegen den Haftfortdauerbeschluss des als die zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung richtet (s. , juris Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), bleibt in der Sache ohne Erfolg.

81. Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl vom angelasteten Taten weiterhin dringend verdächtig. Dies folgt aus dem Inhalt der Sachakten und den in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnissen, zu denen das Oberlandesgericht im angefochtenen Haftbefehl und in seiner Entscheidung vom im Einzelnen Stellung genommen hat (zu den Maßstäben, nach denen das Beschwerdegericht nach st. Rspr. die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das erkennende Gericht zu prüfen hat, s. etwa , juris Rn. 16 f. mwN). Die Darlegung der bisherigen Beweisergebnisse trägt die Annahme des dringenden Tatverdachts und genügt den Anforderungen an Nachvollziehbarkeit sowie Plausibilität. Eine abschließende Analyse der gewonnenen Beweisergebnisse ist dem Urteil vorbehalten.

9In rechtlicher Hinsicht ist der geschilderte Sachverhalt im angegriffenen Haftbefehl zutreffend gewürdigt.

102. Mit dem Wegfall des dringenden Tatverdachts in Bezug auf die angeklagte Beteiligung als Mitglied in einer terroristischen Vereinigung nach § 129a Abs. 1 StGB entfällt der - subsidiäre - Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO. Es besteht aber weiter derjenige der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Dieser setzt voraus, dass es bei Würdigung der konkreten Einzelfallumstände wahrscheinlicher ist, dass sich der Angeklagte dem weiteren Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Das ist hier der Fall.

11Zwar hat sich die subjektive Straferwartung des Angeklagten mittlerweile erheblich reduziert. Hierfür ist die zu verbüßende Zeit maßgeblich, die nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB verbleibt, und eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu bedenken (vgl. dazu , BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom - 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner , juris Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 23). Bei dem Zwei-Drittel-Termin des § 57 Abs. 1 StGB handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets ausscheidet (, NStZ-RR 2018 Rn. 12; OLG Frankfurt, Beschluss vom - 1 Ws 186/18, juris Rn. 14; BeckOK StPO/Krauß, 42. Ed., § 112 Rn. 46). Dem Tatgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt bei der diesbezüglichen Einschätzung ein Beurteilungsspielraum zu.

12Eine schematische Betrachtung anhand anderer genereller Größenordnungen, etwa die Forderung einer verbleibenden Haftfortdauer von einem bestimmten Zeitraum, verbietet sich bei der Prüfung der Fluchtgefahr ebenfalls (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 23 mwN; KK-StPO/Graf, 8. Aufl., § 112 Rn. 20 mwN).

13Bei der im Raum stehenden schwerwiegenden Tat mit terroristischem Bezug, die ihren Ursprung in ausländerfeindlichen und rassistischen Motiven des Angeklagten findet, ist für die Aussetzungsentscheidung zudem das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ein bedeutender Umstand (vgl. , NStZ-RR 2018, 255 Rn. 13 mwN). Aus der Natur dieser Art von Straftaten folgt regelmäßig eine besondere Gefahr, dass sich Beschuldigte in den Untergrund absetzen (KK-StPO/Graf, 8. Aufl., § 112 Rn. 23). So liegt es auch bei diesem Angeklagten. Nach derzeitigem Ermittlungsstand war er angesichts der ihm vorgeworfenen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in der Vergangenheit bemüht, den Staat und seine Institutionen zu bekämpfen, und bereit, hierfür persönlich viel zu riskieren. Das Oberlandesgericht hat nach der bisherigen Beweisaufnahme nicht erkennen können, dass insoweit bei ihm ein Sinneswandel eingetreten ist und er mit der rechtsextremen Szene gebrochen hat. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass der Angeklagte nunmehr bereit ist, sich den Strafverfolgungsbehörden und damit dem von ihm verhassten "System" freiwillig zu stellen.

14Im Fall des Untertauchens kann der Angeklagte außerdem mit Unterstützung aus rechtsextremistischen Kreisen rechnen. Er gehört dieser Szene seit vielen Jahren an, war Vizepräsident der Gruppierung "                                         " und Chef der "                                 ".

15Fluchthemmende Umstände sind ebenfalls nicht erkennbar. Der Angeklagte lebte vor seiner Inhaftierung allein und hatte weder eine Arbeit, noch führte er eine Beziehung. Von der Mutter seiner Tochter ist er seit vielen Jahren getrennt. Über die Wohnmöglichkeit in O.      bei S.     , über die der Angeklagte im Fall einer Aufhebung des Haftbefehls verfügen will, ist Näheres nicht bekannt. Seine sozialen Bezüge außerhalb der rechtsextremistischen Szene und deren Tragfähigkeit bleiben damit unklar.

16Nach allem sprechen derzeit die überwiegenden Gründe weiterhin dafür, dass er sich im Fall seiner Haftentlassung dem Verfahren entziehen wird.

173. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

184. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

19a) Der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung ist nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt unter anderem, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom - 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; vom - 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 Rn. 57 f.; , NStZ-RR 2016, 217).

20b) An diesen Maßstäben gemessen, ist die weitere Inhaftierung des Angeklagten derzeit noch gerechtfertigt.

21aa) Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind, wie vom Oberlandesgericht im Haftbefehl und im Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt, bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche (zu diesem Erfordernis s. etwa , juris Rn. 39 ff.; , NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet.

22bb) Die verbleibende Straferwartung beträgt immerhin noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. - 1 Ws 146/07, NStZ-RR 2008, 157; KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 mwN; MüKoStPO/Böhm, § 120 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 4).

23Zudem hat der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. , BVerfGK 7, 421, 426).

24Nach allem ist die Untersuchungshaft des Angeklagten trotz ihrer erheblichen Dauer von inzwischen über zwei Jahren derzeit noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht wird als das mit der Sache befasste Tatgericht jedoch im Blick behalten müssen, ab wann die Inhaftierung des Angeklagten die voraussichtlich von ihm zu verbüßende Haftzeit überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt stünde die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aller Voraussicht nach außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe. Das gilt besonders dann, wenn bis dahin der Abschluss des Verfahrens nicht absehbar sein sollte.

Schäfer                     Berg                     Erbguth

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:200422BSTB16.22.0

Fundstelle(n):
IAAAJ-16838