BGH Beschluss v. - StB 39/22

Gründe

I.

1Der Angeklagte wurde am vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 91/20), mittlerweile aufgrund des am verkündeten Haftbefehls des (5 - 2 StE 7/20).

2Gegenstand des aktuell vollstreckten Haftbefehls ist neben tateinheitlich begangenen Waffendelikten der Vorwurf, der Angeklagte habe ab dem Spätsommer 2019 bis Februar 2020 als Rädelsführer eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich rädelsführerschaftlich an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4, § 52 Abs. 1 StGB).

3Mit Beschlüssen vom (AK 27/20), vom (AK 46/20) und vom (AK 19-28/21) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Generalbundesanwalt hat am Anklage gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem an. Am hat der Senat eine erste Haftbeschwerde des Angeklagten verworfen (StB 30/21).

4Nunmehr hat dieser mit Schriftsatz seines Verteidigers vom erneut Beschwerde gegen den Haftbefehl erhoben. Er wendet sich - wie zuvor - gegen den dringenden Tatverdacht sowie die Annahme von Fluchtgefahr und Verhältnismäßigkeit; lege man die "höchste denkbare Strafe" zugrunde, sei nach Anrechnung der bisher erlittenen Haft "vermutlich schon eine Vollverbüßung eingetreten".

5Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

6Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde bleibt in der Sache erneut ohne Erfolg.

71. Der Angeklagte ist der ihm im angefochtenen Haftbefehl angelasteten Tat weiterhin dringend verdächtig. Auf die früheren Entscheidungen des Senats, den dort in Bezug genommenen Inhalt der Sachakten und der Anklageschrift sowie auf die in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse, die das Oberlandesgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung nochmals dargelegt und um den neu hinzugekommenen Prozessstoff ergänzt hat, wird verwiesen. Angesichts der laufenden Hauptverhandlung überprüft der Senat die tatgerichtliche Beurteilung des dringenden Tatverdachts nach wie vor nur eingeschränkt (s. bereits , juris Rn. 11). Nach den insoweit anzulegenden Maßstäben (s. zu diesen etwa , BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN) tragen auch die jüngsten Ausführungen des Oberlandesgerichts die Annahme des dringenden Tatverdachts und genügen den Anforderungen an Nachvollziehbarkeit sowie Plausibilität. Eine abschließende Analyse der gewonnenen Beweisergebnisse ist dem Urteil vorbehalten.

8Soweit sich der Staatsschutzsenat im Nichtabhilfebeschluss vom zur Verwertbarkeit von polizeilichen Vernehmungen der Mitangeklagten verhalten hat, bedarf diese Rechtsfrage für die Haftfortdauer des - insoweit nur mittelbar betroffenen - Beschwerdeführers angesichts der Vielzahl anderer Beweismittel derzeit keiner abschließenden Klärung (zur Verwertung von Beschuldigtenangaben im Fall einer zu Unrecht unterbliebenen Pflichtverteidigerbestellung s. , NJW 2022, 2126, 2128).

9Der Senat vermag deshalb nicht der Ansicht des Beschwerdeführers beizutreten, der nach der Verdachtslage maßgebende Sachverhalt sei dahin zu beurteilen, dass noch kein vollendetes Gründen im Sinne des § 129a Abs. 1 StGB vorliege. In rechtlicher Hinsicht wird auf den vollzogenen Haftbefehl nach Maßgabe der Ausführungen im Beschluss vom (StB 30/21, juris Rn. 14) verwiesen.

102. An den Haftgründen der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität hat sich ebenfalls nichts geändert.

11a) Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

12aa) Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Das Oberlandesgericht hat in seiner Nichtabhilfeentscheidung die bislang etwa zweieinhalbjährige Inhaftierung des Beschwerdeführers bedacht und prognostiziert, dass er im Fall seiner Verurteilung noch immer eine zu vollstreckende Haftzeit von Gewicht zu gegenwärtigen hat. Diese Beurteilung ist nicht zu beanstanden. Denn die mögliche Strafe für den Angeklagten wird dem Rahmen des § 129a Abs. 4 Variante 1 StGB zu entnehmen sein, der eine Freiheitsstrafe zwischen drei und 15 Jahren (§ 38 Abs. 2 StGB) vorsieht. Hinzu kommt, dass rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe und Ziele strafschärfend wirken (§ 46 Abs. 2 StGB; vgl. im Übrigen BT-Drucks. 18/3007 S. 15; , BGHR StGB § 60 Absehen, fehlerhaft 1 Rn. 14 mwN).

13bb) Eine Aussetzung des Strafrests gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung hat das Oberlandesgericht bei seiner Einschätzung in den Blick genommen (vgl. dazu , BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom - 2 BvR 644/12, BVerfG 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner , juris Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 23). Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass eine solche für den Angeklagten im Fall seiner Verurteilung in Betracht kommt. Denn für die Aussetzungsentscheidung ist das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu berücksichtigen (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB; vgl. , NStZ-RR 2018, 255 mwN). Dieses wäre bei einer vorzeitigen Entlassung des Angeklagten in hohem Maße gefährdet. Ihm wird nicht nur eine terroristische Straftat und somit ein Delikt vorgeworfen, bei dem erfahrungsgemäß die besondere Gefahr besteht, dass sich Beschuldigte in den Untergrund absetzen (vgl. KK-Graf, StPO, 8. Aufl., § 112 Rn. 23), sondern er war vor seiner Inhaftierung auch hochwahrscheinlich mit aller Kraft bemüht, den deutschen Staat und seine Vertreter zu bekämpfen, darunter Politiker und Polizisten. Für eine Abkehr von dieser Gesinnung ist nichts ersichtlich.

14cc) Der Angeklagte ist überdies in der rechtsextremistischen Szene vernetzt und wird im Fall des Untertauchens voraussichtlich von diesen Kreisen Unterstützung erfahren. Er verfügt außerdem - wie bereits in früheren Entscheidungen ausgeführt - über Kontakte und ein Haus in Italien.

15dd) Zu fluchthemmenden Umständen haben sich ebenfalls keine Neuerungen ergeben. Sie werden mit der Haftbeschwerde auch nicht geltend gemacht.

16b) Die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) ebenso weiterhin auf den dort geregelten (subsidiären) Haftgrund gestützt werden kann.

17c) Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend.

183. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; zu den insoweit nach st. Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa , NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN).

19a) Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung und -vollstreckung ist bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens noch immer dahin aufzulösen, dass die Untersuchungshaft fortzudauern hat. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Verbrechen wiegen schwer. Die Gründung und die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven haben eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund hat das in die Abwägung einzustellende Legalitätsprinzip, das die Aufklärung und Ahndung von Straftaten gebietet, besonderes Gewicht. Es ist für den Rechtsstaat ein genauso wichtiger Grundsatz wie der Freiheitsanspruch des Beschuldigten und die Unschuldsvermutung (vgl. , BVerfGK 7, 421 Rn. 21).

20b) Der Blick auf die konkrete Straferwartung und den Gesichtspunkt, ob die Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung hypothetisch ausgesetzt werden könnte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Staatsschutzsenat hat die Einschätzung des Angeklagten, er habe rechnerisch mindestens zwei Drittel seiner Strafzeit erreicht, als "ersichtlich realitätsfern" eingestuft. Wie ausgeführt, ist eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zudem vorliegend nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass der Termin des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keine starre Grenze bildet, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets unverhältnismäßig wäre. Wenn es im Einzelfall notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die Vollstreckung der Strafe zu sichern, darf die Untersuchungshaft auch bis zur Höhe der zu verhängenden oder noch nicht rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe vollzogen werden (vgl. , juris Rn. 25 mwN).

21c) Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet. Das Verfahren ist durchweg mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Insoweit wird zunächst auf die vorangegangenen Haftentscheidungen des Senats verwiesen, insbesondere die letzte vom (StB 30/21). Seither ist der Beschleunigungsgrundsatz weiterhin gewahrt worden. Zwischen dem und dem hat an 85 Tagen und damit im Schnitt mehr als einmal wöchentlich eine Hauptverhandlung stattgefunden (zu diesem Erfordernis s. etwa , StV 2013, 640 Rn. 39 ff.; , NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Weitere ursprünglich vorgesehene Termine haben wegen Covid-19-Ausbrüchen in Haftanstalten oder Erkrankungen der Prozessbeteiligten aufgehoben werden müssen. Die Anberaumung von Ersatzterminen für die ausgefallenen ist an Verhinderungen der Verteidiger gescheitert. Der Staatsschutzsenat hat außerdem mittlerweile viermal ein jeweils umfangreiches Urkundenkonvolut an die Verfahrensbeteiligten ausgegeben und insoweit das Selbstleseverfahren angeordnet (zur beschleunigenden Wirkung des Selbstleseverfahrens s. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom - 2 BvR 1190/06, juris Rn. 6; , juris Rn. 12).

Berg                   Paul                    Erbguth

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:200922BSTB39.22.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-23827