BFH Beschluss v. - V B 169/06

Zugangsfiktion nach § 122 AO; Darstellung des Sachverhalts der Prozessbeteiligten im Sitzungsprotokoll

Gesetze: AO § 122 Abs. 2; FGO § 94; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1; ZPO § 160 Abs. 2

Instanzenzug:

Gründe

I. 1. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist Unternehmer. Da er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) die Umsatzsteuerschätzbescheide 2001 und 2002, die vom Rechenzentrum der Finanzverwaltung unter dem Datum ausgedruckt wurden. Hiergegen legte der Kläger mit Fax vom ohne Begründung Einspruch ein mit dem Hinweis, dass ihm die Bescheide am —also erst vierzehn Tage nach dem im Bescheid ausgedruckten Datum— bekanntgegeben worden seien. Auf Hinweis des FA, dass die Einspruchsfrist mit Ablauf des verstrichen und der Einspruch vom somit verspätet eingegangen sei, trug er vor, er habe den Zeitpunkt des Bescheiderhalts mit seinem Datumsstempel und Unterschrift dokumentiert. Es sei nunmehr Sache des FA, Absendung und Zugang der Bescheide zu beweisen.

2. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Es führte aus, der Kläger habe keine besonderen Umstände dargetan, die gegen eine regelmäßige Bekanntgabe binnen drei Tagen nach Aufgabe zur Post sprechen würden, da er weder umgezogen noch in Urlaub gewesen sei.

3. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil des Einzelrichters ab. Es schloss sich der Begründung des FA an und führte ergänzend aus: In der mündlichen Verhandlung habe der Vertreter des FA zur Überzeugung des Gerichts im Einzelnen vorgetragen, dass bei computergestütztem Versand durch das Landesrechenzentrum die Übereinstimmung von Bescheiddatum und Absendedatum gewährleistet sei. Der allgemeine Hinweis des Klägers auf mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Post sei ebenso wenig wie der Hinweis auf den selbst angebrachten Eingangsvermerk geeignet, die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zu entkräften. Da der Kläger zudem die Briefumschläge nicht aufbewahrt habe, könne das Gericht nicht prüfen, ob die Umschläge —wie vorgetragen— tatsächlich keinerlei Datumsaufdruck enthielten. Es sei nicht verständlich, weshalb sich der Kläger bei Feststellung dieser Unregelmäßigkeiten (vierzehntägiger Postlauf und Fehlen eines Datumsaufdrucks auf dem Umschlag) nicht umgehend vor Ablauf der regelmäßigen Einspruchsfrist an das FA gewandt habe.

4. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der auf grundsätzliche Bedeutung, Divergenz und Verfahrensfehler gestützten Nichtzulassungsbeschwerde.

II. Die Beschwerde ist unbegründet.

Nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen diese Voraussetzungen dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

1. a) Die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmangels scheidet aus. Es ist nicht verfahrensfehlerhaft, wenn das FG im Sitzungsprotokoll den Sachvortrag des Vertreters des FA über die Modalitäten der Postaufgabe im Rechenzentrum nicht im Einzelnen wiedergegeben hat. Nach § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sind in das Protokoll „die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufzunehmen”, wozu nach der Rechtsprechung des BFH nur der äußere Hergang der Verhandlung bzw. die für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten zählt (vgl. , BFH/NV 2005, 1586; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 94 Rz 7). Die Sachverhaltsdarstellung der Prozessbeteiligten gehört nicht dazu (, BFH/NV 2006, 557), sofern sie nicht ausnahmsweise ausdrücklich als Partei vernommen worden sind. Eine Vernehmung des Klägers als Partei nach § 82 FGO i.V.m. § 450 Abs. 1 Satz 1 ZPO wurde jedoch laut Protokoll nicht angeordnet.

b) Das FG hat auch nicht verfahrensfehlerhaft die Beweislastregeln für die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts nach § 122 AO verkannt (zur Einstufung von Fehlern bei Beweislastverteilung als Verfahrensmangel vgl. , BFH/NV 2002, 661).

aa) Gemäß § 122 Abs. 2 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zeitpunkt des Zugangs zu beweisen. Dies führt nach der Rechtsprechung des BFH jedoch nicht dazu, dass bereits jedes beliebige Bestreiten des Zugangszeitpunktes die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 AO außer Kraft setzt. Dies gilt vielmehr nur dann, wenn der Empfänger substantiiert Tatsachen vorträgt, die schlüssig auf den verspäteten Zugang hindeuten und damit Zweifel an der Zugangsvermutung begründen (, BFH/NV 2007, 389). Von diesen Rechtsgrundsätzen ist auch das FG ausgegangen, wenn es ausführt, dass „der allgemeine Einwand des Klägers auf mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Finanzbehörde nicht ausreicht, diesen Anscheinsbeweis zu entkräften”.

bb) Es ist auch verfahrensfehlerfrei, wenn das FG bei seiner Beweiswürdigung zum Nachteil des Klägers berücksichtigt hat, dass dieser den behaupteten atypischen vierzehntägigen Postlauf entweder anhand des Poststempels oder —sollte bei Versendung durch die Zentralstelle kein Datum aufgedruckt worden sein— anhand des Bescheiddatums erkennen konnte und er es unterlassen hat, diesen Umstand umgehend dem FA anzuzeigen und sich mit diesem über die zu beachtende Frist zu verständigen. Diese Obliegenheit zur Beweisvorsorge entspricht der Rechtsprechung des , BFH/NV 1987, 412).

c) Fehl geht auch die Rüge der mangelnden Sachaufklärung. Das FG hat den Vertreter des FA dazu befragt, wie im Einzelnen der Ablauf der Postversendung durch das Rechenzentrum gestaltet war und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das durchgeführte Verfahren die Gewähr für die Übereinstimmung von maschinellem Bescheiddatum und tatsächlichen Aufgabetag biete. Wenn der Bevollmächtigte rügt, das FG hätte nicht das Zustellverfahren im Allgemeinen, sondern den individuellen Postlauf der streitigen Bescheide ermitteln müssen, so fehlt der Vortrag, welche Beweismittel zur Klärung dieser Frage zur Verfügung gestanden haben und weshalb der Bevollmächtigte nicht von sich aus einen entsprechenden konkreten Beweisantrag gestellt hat (, BStBl II 1989, 727).

2. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nach ständiger Rechtsprechung des BFH zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalles maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (, BFH/NV 2003, 60).

Als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sieht der Kläger die rechtliche Problematik an, „dass täglich viele hunderttausende Bescheide ohne individuelles Datum der Absendung bekanntgegeben würden und dadurch der Steuerbürger künftig keinen Nachweis der verspäteten Absendung führen könne”. Es ist jedoch bereits geklärt, dass eine gesetzliche Verpflichtung der Finanzbehörde, den Tag der Aufgabe zur Post aktenkundig zu machen, nicht besteht (, BFH/NV 2006, 1681; Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 122 AO Rz 59). Vermerkt die Finanzbehörde den Zeitpunkt der Aufgabe zur Post nicht, so trifft sie im Bestreitensfalle die Feststellungslast. Es ist dann Sache des FG, in freier Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO den Vortrag der Beteiligten und den sonstigen Akteninhalt zu verwerten sowie erforderlichenfalls Beweis zu erheben (§ 81 FGO). Die auf diese Weise zustande gekommene Entscheidung kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob das FG entweder von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist oder mit seiner Sachverhaltswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat (vgl. , BFH/NV 2002, 1). Da die Rechtslage somit auch hinsichtlich der fehlenden Erforderlichkeit eines Aufgabevermerkes geklärt ist, war die Beschwerde nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.

3. Die Divergenzrüge hat der Kläger nicht ordnungsgemäß erhoben (hierzu z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 40 ff.).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1454 Nr. 8
DAAAC-48520