Gegenvorstellung bei dem Ausgangsgericht, nicht außerordentliche Beschwerde an den BFH zur Beseitigung schweren Verfahrensunrechts in unanfechtbarer Gerichtsentscheidung
Leitsatz
1. Eine außerordentliche Beschwerde wegen sog. greifbarer Gesetzwidrigkeit ist im Finanzprozess seit In-Kraft-Treten des § 321 a ZPO nicht mehr statthaft.
2. Stattdessen kann zur Beseitigung schweren Verfahrensunrechts in mit förmlichen Rechtsmitteln nicht anfechtbaren Entscheidungen eine fristgebundene Gegenvorstellung bei dem Ausgangsgericht entsprechend § 321 a ZPO erhoben werden.
Gesetze: FGO §§ 128, 155ZPO § 321 a
Instanzenzug: (F)
Tatbestand
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) ist Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Gegen den Bescheid des Antragsgegners und Beschwerdegegners (Finanzamt - FA -) über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte 1996 erhob der Antragsteller Einspruch und begehrte die Berücksichtigung weiterer Betriebsausgaben von 44 795 DM aus einem Einkauf von Waren im Ausland. Nachdem das FA einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheids in Höhe des streitigen Betrages abgelehnt hatte, stellte der Antragsteller einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht (FG).
Das FA nahm zu der Antragsschrift mit Schriftsatz vom Stellung. Eine Abschrift dieses Schreibens wurde auf Verfügung des Berichterstatters des FG-Senats vom am folgenden Tag an den Antragsteller gesandt. Dabei wurde ihm Gelegenheit zur Gegenäußerung binnen einer bestimmten Frist gegeben. Diese Frist endete nach Angaben des Antragstellers am . Dieselbe Datumsangabe befindet sich auch neben der Verfügung des Berichterstatters, der allerdings eine Frist von einer Woche gesetzt hatte.
Mit Beschluss vom lehnte das FG den Aussetzungsantrag ab und erklärte den Beschluss für unanfechtbar. Die für die Beteiligten bestimmten Ausfertigungen des Beschlusses wurden am mit einfachem Brief zur Post gegeben. An demselben Tag ging ein Schriftsatz des Bevollmächtigten des Antragstellers beim FG ein, mit dem zu dem Schreiben des FA vom Stellung genommen wurde.
Am legte der Bevollmächtigte des Antragstellers beim FG ,,gegen die Nichtzulassung der Revision ... nach § 116 FGO Beschwerde ein''. Er rügte einen Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO), auf dem die Entscheidung beruhen könne. Die Entscheidung verletze § 119 Nr. 3 FGO, weil das FG vor Ablauf der Stellungnahmefrist am entschieden habe.
Das FG hat die Beschwerde ohne eigene Stellungnahme an den Bundesfinanzhof (BFH) weitergeleitet.
Gründe
Der BFH ist für die Entscheidung über die Beschwerde nicht zuständig. Die Beschwerde war wieder an das zuständige FG zurückzugeben.
1. Der beschließende Senat versteht die Beschwerde im Sinne einer rechtsschutzgewährenden Auslegung nicht als förmliches Rechtsmittel gegen die Nichtzulassung der Revision oder auch der Beschwerde, denn ein solches Rechtsmittel wäre unzulässig.
Die Revision ist nach § 115 Abs. 1 Satz 1 FGO ein Rechtsmittel, das - unter weiteren Voraussetzungen - nur gegen Urteile oder Gerichtsbescheide des FG eingelegt werden kann. Gegen andere Entscheidungen ist nach § 128 Abs. 1 FGO grundsätzlich nur die Beschwerde statthaft. Gegen die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 und 5 FGO steht den Beteiligten die Beschwerde nach § 128 Abs. 3 Satz 1 FGO aber nur zu, wenn sie in der Entscheidung zugelassen worden ist. Das FG hat die Beschwerde nicht zugelassen, vielmehr ausdrücklich auf die Unanfechtbarkeit des Beschlusses hingewiesen.
Ein Rechtsmittel gegen die Nichtzulassung der Beschwerde gegen eine Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung sieht die FGO nicht vor. Im Unterschied zur Nichtzulassung der Revision gibt es kein eigenständiges Verfahren zur Prüfung der Voraussetzungen für die Zulassung der Beschwerde. Insbesondere ergibt sich ein solches Verfahren nicht aus dem Verweis auf § 115 Abs. 2 FGO in § 128 Abs. 3 Satz 2 FGO (vgl. z. B. Senatsbeschluss vom IV B 61/97, BFH/NV 1998, 344, m. w. N.). Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bestehen gegen die Regelung keine verfassungsmäßigen Bedenken (Beschluss vom 2 BvR 502/77, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs, Rechtsspruch 39).
2. Der Rechtsbehelf des Antragstellers kann auch keinen Erfolg haben, wenn er in eine außerordentliche Beschwerde umgedeutet würde. Ein solcher Rechtsbehelf ist nicht mehr statthaft.
a) Allerdings hat der BFH die Statthaftigkeit eines solchen, in der FGO nicht vorgesehenen Rechtsbehelfs ausnahmsweise für Sonderfälle sog. greifbarer Gesetzwidrigkeit in Erwägung gezogen, d. h. für Fälle, in denen die erstinstanzliche Entscheidung jeglicher Grundlage entbehrt und damit eine nicht hinnehmbare Gesetzwidrigkeit zur Folge hat (vgl. z. B. Senatsbeschlüsse vom IV B 98/00, BFH/NV 2001, 332, und vom IV B 135/90, BFH/NV 1992, 509). Der kraft Gesetzes unanfechtbare Beschluss musste danach unter schwerwiegender Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen sein oder auf einer Gesetzesauslegung beruhen, die offensichtlich dem Wortlaut und dem Zweck des Gesetzes widerspricht und die eine Gesetzesanwendung zur Folge hat, die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte (, BFH/NV 1995, 791, m. w. N.).
b) Ein solcher Rechtsbehelf ist im Finanzprozess seit In-Kraft-Treten des Zivilprozessreformgesetzes vom (BGBl. I 2001, 1887) mit der Einfügung eines § 321 a in die Zivilprozessordnung (ZPO) generell nicht mehr statthaft. Nach § 321 a Abs. 1 ZPO ist auf Rüge der durch ein unanfechtbares Urteil beschwerten Partei der Prozess vor dem Gericht des ersten Rechtszuges fortzuführen, wenn dieses Gericht den Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Vorschrift dient der Entlastung des BVerfG, indem sie eine instanzinterne Behebung von Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör bei unanfechtbaren Entscheidungen schafft und damit eine schnelle und prozessökonomische Beseitigung von Verfahrensunrecht ermöglicht (BTDrucks 14/4722, 63; Vollkommer in Zöller, Zivilprozessordnung, 23. Aufl. 2002, § 321 a Rn. 1). Über die konkrete Schaffung eines Rechtsbehelfs im erstinstanzlichen Verfahren vor den Zivilgerichten hinaus ist § 321 a ZPO der allgemeine Rechtsgrundsatz zu entnehmen, dass die Beseitigung schweren Verfahrensunrechts nach Ergehen einer mit förmlichen Rechtsmitteln nicht anfechtbaren Entscheidung durch das entscheidende Gericht selbst (iudex a quo) zu erfolgen hat. Nachdem sich der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 321 a ZPO dazu entschieden hat, das Ausgangsgericht selbst zur Beseitigung eines von ihm veranlassten Verfahrensunrechts zu verpflichten, entfällt das Bedürfnis dafür, das BVerfG durch eine außerordentliche Beschwerde an das nächsthöhere Gericht (iudex ad quem) zu entlasten. Eine solche Beschwerde ist deshalb nicht mehr statthaft (, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 2002, 1577; Lipp, NJW 2002, 1700; Müller, NJW 2002, 2743, 2746 f.). Dies gilt nicht nur im Zivilprozess, sondern auch in allen anderen Fällen, in denen eine Prozessordnung die ZPO für entsprechend anwendbar erklärt (gl. A. für den allgemeinen Verwaltungsprozess , NJW 2002, 2657). Das ist für den Finanzprozess durch § 155 FGO geschehen (s. auch Lange, Der Betrieb - DB - 2002, 2396).
Der Senat kann ohne Anfrage bei anderen Senaten entscheiden, die bislang bei der Verletzung von Verfahrensgrundrechten eine außerordentliche Beschwerde zum BFH für zulässig gehalten haben. Mit der Einfügung des § 321 a ZPO hat der Gesetzgeber eine neue Rechtslage geschaffen. Der beschließende Senat entscheidet erstmals über die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift im Finanzprozess, so dass keine Abweichung von Entscheidungen anderer Senate i. S. des § 11 Abs. 2 und 3 FGO vorliegt (vgl. hierzu z. B. , BFHE 198, 74, Abschn. II. Nr. 6 a der Gründe).
3. Der Rechtsbehelf ist dementsprechend als eine Gegenvorstellung analog § 321 a ZPO zu verstehen. Als solcher ist er statthaft, da gegen die angefochtene Entscheidung kein förmlicher Rechtsbehelf gegeben ist und ein schwerwiegender Verfahrensfehler - hier ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs - von dem unterlegenen Beteiligten gerügt wird. Auch die nach § 321 a Abs. 2 Satz 2 ZPO i. V. m. § 155 FGO entsprechend geltende Rechtsbehelfsfrist von zwei Wochen seit Zustellung des vollständigen Urteils (hier: Beschlusses) ist gewahrt.
4. Das Verfahren wird an das funktional zuständige FG zurückgegeben. Der Senat entscheidet über die Abgabe durch Beschluss. Zwar handelt es sich bei der Abgabe um eine prozessleitende Verfügung, die grundsätzlich formlos ergehen kann. In einem Kollegialgericht obliegt sie aber nicht dem Vorsitzenden, sondern dem Kollegium selbst (, NJW 1964, 1282). Eine Verweisung nach § 281 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 155 FGO kommt nicht in Betracht. Die Zuweisung der Zuständigkeit für die Gegenvorstellung entsprechend § 321 a ZPO an das Ausgangsgericht ist eine Bestimmung der funktionalen Zuständigkeit. Diese wird von dem Begriff der sachlichen Zuständigkeit in § 281 Abs. 1 ZPO nicht umfasst (, NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht - NJW-RR - 2001, 645).
Dem steht nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des BFH eine Verweisung stattfindet, wenn das funktional zuständige Gericht seinerseits an das funktional (instanziell) unzuständige Gericht verwiesen hat (z. B. , BFH/NV 2000, 1350). In einem solchen Fall ist die ,,Rückverweisung'' als actus contrarius in derselben Form vorzunehmen wie die fehlerhafte, aber nicht nach § 17 a Abs. 2 Satz 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes bindende Verweisung.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2003 II Seite 269
BB 2003 S. 408 Nr. 8
BFH/NV 2003 S. 416
BFH/NV 2003 S. 416 Nr. 3
BFHE S. 269 Nr. 200
BStBl II 2003 S. 269 Nr. 5
DStR 2003 S. 287 Nr. 8
DStRE 2003 S. 384 Nr. 6
INF 2003 S. 247 Nr. 7
QAAAA-89464