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Bilanzwahrheiten in der Rechtsprechung des EuGH
Zugleich Anmerkungen zum
Nach dem ist der in Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660/EWG des Rats vom aufgestellte Grundsatz der Bilanzwahrheit in dem Fall, in dem eine Aktiengesellschaft eine Finanzanlage erwirbt, wobei der Kaufpreis längerfristig zinslos gestundet wird, dahin auszulegen, dass ein implizites Kreditgeschäft anzunehmen ist. Folge ist ein aktiver Abgrenzungsposten zum Ausgleich zwischen abgezinst eingebuchter Finanzanlage und unabgezinst angesetzter Verbindlichkeit. Die Auflösung des Abgrenzungspostens führt in der GuV zu Aufwand. Der Beitrag nimmt dieses Urteil zum Anlass, die Rechtsprechung des EuGH im Lichte der Bilanzwahrheit zu würdigen.
Der EuGH stellt die Bilanzwahrheit als „Hauptzielsetzung“ der 4. EG-Richtlinie seinen Urteilsbegründungen voran, um dann im Weiteren allein das Anschaffungskostenprinzip oder das Vorsichtsprinzip anzuwenden.
Der „Grundsatz der Bilanzwahrheit“ stellt in den EuGH-Entscheidungen nur den ideologischen Überbau dar.
Die Frage nach einem Widerspruch zwischen Anwendung der Einzelregeln und der Bilanzwahrheit stellt sich dabei gar nicht, weil die Bilanzierung als wahr gilt, die den Einzelregeln entspricht.
I. Dichtung und Wahrheit
[i]Bravidor/Mehnert, Bedeutung der Bilanzwahrheit in der Rechtsprechung des EuGH: Implikationen für die HGB-Rechnungslegung, StuB 16/2014 S. 596 NWB FAAAE-71192 Am hat der EuGH in der Rechtssache Wagram darüber befunden,
ob bei einem zinslos und längerfristig gestundeten Kaufpreis
ein implizites Kreditgeschäft mit entsprechenden Folgen für die Bestimmung der Anschaffungskosten und die Bewertung der Kaufpreisverbindlichkeit anzunehmen ist.
Bei der Beantwortung dieser Frage beruft sich der EuGH zentral auf den in der EU-Bilanzrichtlinie enthaltenen Grundsatz der Bilanzwahrheit. Entsprechend ging der EuGH schon in anderen Verfahren vor, nicht nur im bekannten Tomberger-Urteil zur phasengleichen Realisierung von Dividenden, sondern u. a. auch zu den Fragen,
wie eine Kapitalgesellschaft, die von einem verbundenen Unternehmen Anteile weit unter Wert erhält, um sie sehr zeitnah für mehr als das Dreitausendfache weiter zu veräußern, den Veräußerungsgewinn zu ermitteln hat, und
ob ein Stillhalter erhaltene Optionsprämien sofort oder erst zum Ende des Optionszeitraums realisieren darf.
Immer wirft der EuGH die Frage nach der Bilanzwahrheit auf. Ein Altmeister der deutschen Bilanzwissenschaft, Wilhelm Rieger, hat die Bilanzierung hingegen so gekennzeichnet: „Die Jahresbilanz ist also ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung. Die ... daraus abzuleitende Konsequenz wäre nicht etwa, dass wir uns nach einer anderen Art des Jahresabschlusses umsehen, sondern das resignierte Bekenntnis, dass es im Leben der Unternehmung eine wahre und richtige Abrechnung überhaupt nicht gibt.“ S. 614
Wie steht es also mit der Berufung des EuGH auf die Bilanzwahrheit, handelt es sich um mehr als Rhetorik? Diese Frage wird nachfolgend an Urteilen dargestellt, die auf die Auslegung der 4. EG-Richtlinie zielen. Die vom EuGH konkret herangezogenen Bestimmungen sind jedoch inhaltsgleich in der Nachfolge-Richtlinie 2013/34/EU enthalten. Die Folgerungen aus den EuGH-Urteilen (vgl. Kap. VI.) gelten daher auch für das aktuelle Recht.
II. Maßgeblichkeit der (belgischen) Handelsbilanz
In allen drei hier behandelten Fällen ist der Ausgangsrechtsstreit steuerlicher Natur. Strittig waren jeweils belgische Körperschaftsteuerfeststellungen bzw. der diesen Feststellungen zugrunde liegende Gewinn. Zur Anfrage an den EuGH kam es hier in folgenden Stufen:
Nach belgischem Recht gilt ähnlich wie nach § 5 Abs. 1 EStG für die steuerliche Gewinnermittlung ein Maßgeblichkeitsgrundsatz.
Zuvorderst war daher die zutreffende handelsbilanzielle Behandlung zu klären.
Bei dieser Klärung stellen sich den belgischen Berufungsgerichten Fragen nach der Auslegung des belgischen Handelsbilanzrechts vor dem Hintergrund der 4. EG-Richtlinie (Richtlinie 78/660). Diese Fragen wurden dem EuGH vorgelegt.
Hierzu stellt der EuGH im Fall Wagram unter Verweis auf die beiden Vorgängerfälle zunächst allgemein Folgendes fest: „Die Richtlinie 78/660, um deren Auslegung vorliegend ersucht wird, ist allerdings nicht darauf gerichtet, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse von Gesellschaften bei der Festsetzung der Besteuerungsgrundlage und der Höhe von Steuern wie der im Ausgangsverfahren fraglichen Körperschaftsteuer zugrunde legen können oder müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom - C-322/12 „Gimle“, EU:C:2013:632, Rz. 28). Der Gerichtshof hat jedoch bereits anerkannt, dass die Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse als maßgebliche Grundlage für steuerliche Zwecke verwenden können, was im belgischen Recht der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom - C-322/12 „Gimle“, EU:C:2013:632, Rz. 27 und 28, sowie vom - C-444/16 und C-445/16 „Immo Chiaradia und Docteur De Bruyne“, EU:C:2017:465, Rz. 33).“
Im Verfahren Gimle stellt der Gerichtshof darüber hinaus fest: „Keine Bestimmung der Vierten Richtlinie verbietet den Mitgliedstaaten, aus steuerlicher Sicht die Wirkungen der Buchführungsvorschriften in dieser Richtlinie zu korrigieren, um ein zu versteuerndes Ergebnis zu ermitteln, das der wirtschaftlichen Realität näher kommt.“ Hierauf wird zurückzukommen sein.