Gesetzliche Unfallversicherung - Verjährung eines Anspruchs auf Verletztenrente - keine Hemmung durch bloße Anhängigkeit eines Verwaltungsverfahrens
Gesetze: § 39 Abs 1 SGB 1, § 45 Abs 1 SGB 1, § 45 Abs 3 SGB 1, § 19 SGB 4, § 56 Abs 1 SGB 7, § 203 BGB, § 204 BGB, § 242 BGB
Instanzenzug: SG Speyer Az: S 20 U 129/18 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 3 U 225/20 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Verletztenrente vor dem .
2Der als Krankenpfleger beschäftigte Kläger verunglückte am als Fahrer eines Pkw auf dem Weg zu einem Notfalleinsatz. Einer von zwei mitfahrenden Notärzten erlag später seinen Verletzungen. Der selbst nur leicht verletzte Kläger hatte ihn aus dem Fahrzeug geholt und eine Reanimation versucht. Im Juli 2004 begab der Kläger sich in psychotherapeutische Behandlung. Im Jahr 2005 berichteten die Ärzte über eine behandelte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach dem Unfall. Die beklagte Unfallkasse bat um Mitteilung für den Fall des Wiederauflebens. Nach Kontaktaufnahme des Klägers im Mai 2008 bewilligte die Beklagte nach und nach insgesamt 75 Sitzungen Psychotherapie. Die behandelnde Psychotherapeutin beschrieb in ihrem Abschlussbericht im Mai 2010 den Zustand nach PTBS als "vollständig remittiert" und verneinte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
3Ab Februar 2014 nahm der Kläger weitere psychotherapeutische Behandlungen auf, von denen die Beklagte erstmals im Juni 2015 durch Übersendung von Abrechnungen Kenntnis erlangte. Sie gewährte dem Kläger in der Folge unter Anerkennung eines Arbeitsunfalls und von Unfallfolgen Verletztenrente auf unbestimmte Zeit mit Beginn am nach einer MdE von 20 vH (Bescheid vom ). Einen früheren Rentenbeginn lehnte sie mangels entsprechender Berichte über psychotherapeutische Behandlungen ab. In früheren Berichten seien die Symptome der PTBS als remittiert bezeichnet worden. Ansprüche auf Geldleistungen vor dem seien auch verjährt, was in Ausübung des eingeräumten Ermessens geltend gemacht werde (Widerspruchsbescheid vom ).
4Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (; ). Zur Begründung haben die Vorinstanzen ausgeführt, dass für die Zeit vor dem die Beklagte wirksam die Einrede der Verjährung erhoben habe und deswegen nicht zur Leistung verpflichtet sei. Die Geltendmachung sei weder rechtsmissbräuchlich noch ermessensfehlerhaft erfolgt. Für die Zeit vom bis fehle es an dokumentierten Befunden, die Aufschluss über die Auswirkungen der psychischen Erkrankung des Klägers und damit über eine MdE geben könnten.
5Mit der für die Zeit vor dem zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§§ 39, 40, 45 SGB I, § 19 Satz 2 SGB IV iVm § 20 Abs 1 SGB X; § 242 BGB). Eine Verjährung könne frühestens ab dem Zeitpunkt thematisiert werden, zu dem der Anspruch behördlich festgestellt sei. Die Verjährungseinrede sei zudem verspätet im Widerspruchsbescheid und rechtsmissbräuchlich sowie ermessensfehlerhaft erhoben worden. Durch einen Antrag des Klägers habe der Lauf der Verjährung nicht gehemmt werden können, weil diese Möglichkeit bei antragsunabhängigen Leistungen nicht bestehe. Im Rahmen der Ermessensausübung sei dies dem Kläger rechtswidrig vorgehalten und im Übrigen die lange Zeitdauer von 13 Jahren nicht berücksichtigt worden.
6Der Kläger beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom und des Sozialgerichts Speyer vom sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben, soweit in diesen eine Verletztenrente für die Zeit vor dem abgelehnt wird, und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom eine Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 vH beginnend mit dem Tag der Wiederaufnahme der Arbeit am bis zum zu gewähren.
7Die Beklagte beantragt,die Revision des Klägers zurückzuweisen.
8Die Einrede der Verjährung sei rechtmäßig erhoben worden. Es gebe auch keine Vorschrift, wonach Arbeitsunfälle mittels Bescheid förmlich festgestellt werden müssten.
Gründe
9Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat zu Recht die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente in dem geltend gemachten Zeitraum. Die Beklagte ist nach Erhebung der Verjährungseinrede berechtigt, die Leistung zu verweigern.
10A. Streitgegenständlich ist ein Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII) für den Zeitraum vom bis . Der Senat hat die Revision nur für den Zeitraum vor dem zugelassen. Der Kläger hat seinen Revisionsantrag auf die Zeit ab Wiederaufnahme der Arbeit am begrenzt (§ 46 Abs 3 Satz 1 Nr 1, § 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII). Das Urteil des LSG betreffend den Zeitraum ab dem ist in Rechtskraft erwachsen (§ 160a Abs 4 Satz 3, § 141 Abs 1 Nr 1 SGG). Der Kläger verfolgt sein Begehren insgesamt zulässig und mit der statthaft kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, Abs 4, § 56 SGG).
11B. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente. Die Beklagte hat die Verjährungseinrede wirksam erhoben (dazu I.), die betroffenen Leistungen waren verjährt (dazu II.). Die Geltendmachung der Einrede erfolgte weder rechtsmissbräuchlich noch sonst ermessensfehlerhaft (dazu III.). Es musste daher nicht geklärt werden, ob der Kläger für diesen Zeitraum dem Grunde nach überhaupt Anspruch auf Verletztenrente hat (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII).
12I. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung formal wirksam erhoben. Die Ausführungen im Widerspruchsbescheid enthalten nach dem objektiven Empfängerhorizont eine entsprechende Erklärung (§ 133 BGB), Leistungen an den Kläger wegen Verjährung der Ansprüche bis zum zu verweigern. Die Geltendmachung (erst) im Widerspruchsbescheid war zulässig, denn dies kann jedenfalls bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz erfolgen ( - SozR 4-2700 § 45 Nr 2 RdNr 32; s auch - BSGE 42, 135 = SozR 3100 § 10 Nr 7 = juris RdNr 17; Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl 2024, § 45 RdNr 52 mwN, Stand ).
13II. Nach Erhebung der Einrede ist die Beklagte berechtigt, die Gewährung der Verletztenrente für den Zeitraum vom bis zu verweigern, denn etwaige Ansprüche hierauf waren verjährt (§ 45 Abs 2 SGB I iVm § 214 Abs 1 BGB). Die Verjährungsfrist begann nach Ablauf des jeweiligen Kalenderjahrs zu laufen, in dem die monatlichen Rentenansprüche entstanden sind. Die Verjährung trat für die hier noch streitbefangenen Ansprüche spätestens mit Ablauf des ein (dazu 1.). Der Lauf der vierjährigen Verjährungsfrist wurde durch die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nicht mit relevanter Wirkung gehemmt (dazu 2.). Einen Antrag, der für den Fall der Hemmung im Sozialrecht stets schriftlich erfolgen muss, hat der Kläger nicht gestellt. An dieser Voraussetzung ändert sich nichts durch die im Unfallversicherungsrecht geltende Leistungserbringung von Amts wegen (dazu 3.).
141. Die Verjährungsfrist begann jeweils ohne bescheidmäßige Feststellung mit der Entstehung der Rentenansprüche zum Ablauf des jeweiligen Kalenderjahrs zu laufen und endete spätestens am .
15Der Verjährung unterliegt von vornherein nur der einzelne Leistungsanspruch, nicht aber das Stammrecht, dh hier das Recht auf Verletztenrente, das als solches unverjährbar ist (BSG Großer Senat - BSGE 34, 1 = SozR Nr 24 zu § 29 RVO = juris RdNr 14; - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 26). Die einzelnen Geldleistungsansprüche (§ 11 Satz 1 SGB I) aus einer Verletztenrente verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind (§ 45 Abs 1 SGB I). Gebundene Ansprüche auf Sozialleistungen (§ 38 SGB I), wie hier die Zahlung einer Verletztenrente, entstehen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen (§ 40 Abs 1 SGB I). Auf die Kenntnis des Berechtigten hiervon kommt es nicht an, welche zudem im Grunde die Kenntnis von dem unverjährbaren Stammrecht betrifft (BSG Großer Senat - BSGE 34, 1 = SozR Nr 24 zu § 29 RVO = juris RdNr 36 f, 50; - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 26; anders zum Verbraucherschutz zB - juris und C-561/21 - juris und vom - C-810/21 bis C-813/21 - juris zur Klausel-Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom , ABl 1993, L 95, S 29).
16a) Die Entstehung der Verletztenrente hängt nicht von einer bescheidmäßigen Feststellung des Versicherungsfalls (§ 7 Abs 1, § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII) oder des Leistungsanspruchs (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII) ab.
17aa) Das Gesetz knüpft den Beginn der Verjährung nur an das materielle Entstehen der Leistungsvoraussetzungen (§ 40 SGB I). Die formelle Feststellung des Versicherungsfalls durch Verwaltungsakt nach § 31 SGB X ist indes keine gesetzliche Voraussetzung für die materielle Entstehung oder Fälligkeit der Verletztenrente. Laufende Geldleistungen mit Ausnahme des Verletzten- und Übergangsgelds werden am Ende des Monats fällig, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (§ 41 SGB I iVm § 96 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VII, § 218 c Abs 1 Satz 1 SGB VII). Anspruchsvoraussetzung einer Verletztenrente ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Anspruchsvoraussetzung ist damit das Vorliegen eines Versicherungsfalls. Dessen gesonderte formelle Feststellung ist dagegen keine Voraussetzung, auch wenn für Versicherte die Möglichkeit besteht, den Erlass eines Verwaltungsakts über das Bestehen des Versicherungsfalls (§ 7 Abs 1 SGB VII) gegenüber dem Versicherungsträger sowie gerichtlich isoliert geltend zu machen (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG; - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2700 § 2 Nr 64 vorgesehen - juris RdNr 11 mwN).
18bb) Die Entstehung der Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII) als Anspruchsleistung (§ 38 SGB I) und damit der Beginn der Verjährungsfrist ist auch nicht abhängig von der vorherigen bescheidmäßigen Feststellung des Leistungsanspruchs.
19Dies ergibt sich weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch folgt dies aus anderen Erwägungen. Sinn und Zweck der Verjährungseinrede ist es unter anderem, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu schaffen und sowohl die Verwaltung als auch die Gerichte von der Prüfung veralteter Ansprüche zu entlasten (vgl nur BT-Drucks 7/868 S 30 zu einem Entwurf eines Sozialgesetzbuchs (SGB) - Allgemeiner Teil - vom ; Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl 2024, § 45 RdNr 15 mwN, Stand ; s auch Schmidt-Räntsch in Erman, BGB, 17. Aufl 2023, Vorbemerkung vor § 194 RdNr 2 mwN, Stand September 2023; Rolfs, NZS 2002, 169). Es wäre auch den Interessen der Versicherten abträglich, die insbesondere Leistungen der Heilbehandlung möglichst unmittelbar und regelmäßig vor Erlass eines Feststellungs- oder Leistungsbescheides erhalten.
20Das Erfordernis einer vorherigen Feststellung der Leistung folgt auch nicht aus dem Schriftformerfordernis für die Entscheidung über die Verletztenrente (§ 9 Satz 1 SGB X iVm § 102 SGB VII). Das Schriftformerfordernis enthält keine materielle Regelung über das Entstehen des Leistungsanspruches, es dient vorrangig der Klarheit und Beweissicherung (vgl Köhler in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand März 2022, § 102 RdNr 5c ff mwN; Spellbrink/Karmanski, SGb 2021, 461, 465).
21b) Die Verletztenrenten für den streitbefangenen Zeitraum wären daher dem Grunde nach jeweils mit Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen zum Monatsbeginn entstanden und zum Monatsende fällig geworden, worauf es hier indes nicht entscheidend ankommt (vgl zB - juris RdNr 11 mwN; zum Streitstand Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl 2024, § 45 RdNr 25 mwN, Stand ). Die Verjährung der streitgegenständlichen Leistungsansprüche für die Monate Juni 2004 bis Dezember 2010 begann frühestens am und trat spätestens mit Ablauf des ein (§ 26 Abs 1 SGB X iVm §§ 187 Abs 1, 188 Abs 2 BGB; § 45 Abs 1 SGB I).
222. Tatbestände, die den Lauf der vierjährigen Verjährungsfrist bei der gebotenen sinngemäßen Anwendung des BGB (§ 45 Abs 2 SGB I) entscheidungserheblich gehemmt haben, liegen nicht vor.
23a) Möglicherweise schwebende Verhandlungen (§ 45 Abs 2 SGB I iVm § 203 BGB) waren spätestens mit der Vorlage des Abschlussberichts über die zuvor stattgehabte psychotherapeutische Behandlung im Mai 2010 eingeschlafen.
24§ 203 BGB ist sinngemäß allgemein auf öffentlich-rechtliche und nach § 45 Abs 2 SGB I auch auf sozialrechtliche Schuldverhältnisse anzuwenden (zB - SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 16; - BVerwGE 158, 199 = juris RdNr 24; Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Februar 2023, § 45 RdNr 23). Die Vorschrift ist bzgl der erforderlichen "Verhandlungen" weit auszulegen (vgl bereits BT-Drucks 14/6040 S 111 f zu einem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts). Verhandlungen führen Gläubiger und Schuldner bereits, wenn es unter ihnen zu einem Meinungsaustausch kommt, aufgrund dessen der Gläubiger davon ausgehen darf, dass sein Begehren von der Gegenseite noch nicht endgültig abgelehnt wird ( - SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 16; - BVerwGE 168, 236 = juris RdNr 44; - BGHZ 213, 213 = juris RdNr 13 mwN; MüKoBGB/Grothe, 9. Aufl 2021, BGB § 203 RdNr 5; Peters/Jacoby in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 203 RdNr 7 mwN). Im Einzelfall können Verhandlungen schon darin liegen, dass der Schuldner einseitig Prüfungen veranlasst und dem Gläubiger zu verstehen gibt, eine evtl Leistungspflicht nicht von vornherein abzulehnen mit der Folge, dass dieser von weiteren Schritten absieht ( - juris RdNr 13; s auch MüKoBGB/Grothe, 9. Aufl 2021, BGB § 203 RdNr 7 mwN). Daher erscheint es nicht völlig ausgeschlossen, dass im Einzelfall auch die Aufnahme von Amtsermittlungen (§ 20 SGB X) durch einen Sozialleistungsträger eine Hemmung nach § 203 BGB bewirken kann.
25Dabei ist es wegen des umfassenden Verständnisses von § 203 BGB jedenfalls in der Gesetzlichen Unfallversicherung auch nicht erforderlich, dass sich die Verhandlungen auf eine konkrete Leistung beziehen (hier Verletztenrente, § 56 SGB VII). Denn ausreichend ist ein Verhandeln "über die den Anspruch begründenden Umstände", mithin auch über das Vorliegen eines Versicherungsfalls (§ 7 Abs 1 SGB VII), aus dem sich verschiedene Leistungsansprüche ableiten können, sofern die Beteiligten den Verhandlungsgegenstand nicht eindeutig eingrenzen (vgl BT-Drucks 14/6040 S 112; s auch - BVerwGE 158, 199 = juris RdNr 24; - juris RdNr 12).
26Voraussetzung bleibt jedoch, dass zwischen den Beteiligten zumindest ein gewisser Kommunikationsprozess stattfindet. Ob dies hier über die bewilligten Therapieleistungen hinaus der Fall war, vermag der Senat auf Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend zu beurteilen. Die Kommunikation mit den Behandlern diente der Beklagten jedenfalls der Durchführung ihrer Amtsermittlungen (§§ 20, 21 SGB X) und nicht einem "Verhandeln" mit diesen als Vertretern des Klägers (s auch - SozR 4-2500 § 106 Nr 44, RdNr 31).
27Unabhängig davon endeten Verhandlungen spätestens im Mai 2010 nach Vorlage des Abschlussberichts der behandelnden Psychotherapeutin. Die Verjährung ist so lange gehemmt, "bis der eine oder der andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert" (§ 203 Satz 1 BGB). Dem gleichgestellt ist ein “Einschlafen“ der Verhandlungen, bei dem die Verjährungshemmung zu dem Zeitpunkt endet, zu dem der nächste Schritt nach Treu und Glauben zu erwarten gewesen wäre (BT-Drucks 14/6040 S 112; zu einem iE abgelehnten Vorschlag des Bundesrats zur Regelung des Endes der Verhandlungen vgl BT-Drucks 14/6857 S 7, 43). Ein Ende der Verjährungshemmung tritt daher ein, wenn von keinem Beteiligten mehr die Kommunikation betrieben wird, weil der Sachverhalt zumindest vorübergehend als abgeschlossen bewertet wird (s auch - BVerwGE 158, 199 = juris RdNr 26 mwN). Auf Grundlage der bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sind Verhandlungen erstmals im März 2005 eingeschlafen, als die Beklagte die Behandler um Mitteilung für den Fall eines Wiederauflebens der PTBS bat. Sofern die Kontaktaufnahme des Klägers im Mai 2008 weitere Verhandlungen ausgelöst hat, sind diese spätestens nach Übersendung des Abschlussberichts im Mai 2010 eingeschlafen. Die Ermittlungen der Beklagten ab Juni 2015 nach Rechnungsübersendung über weitere Behandlungen des Klägers wirken sich nicht mehr auf die Verjährung der hier streitgegenständlichen Leistungen aus.
28Denn die Verjährung der vor dem entstandenen Leistungsansprüche war spätestens mit Ablauf des eingetreten. Der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist, wird in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet (§ 209 BGB). Tritt der Hemmungstatbestand zeitlich vor dem gesetzlichen Beginn der Verjährung ein, so ist die Zeitspanne bis zum Beginn der Verjährung nicht zu berücksichtigen ( - juris RdNr 12 ff mwN und vom - IX ZR 58/16 - BGHZ 213, 213 = juris RdNr 16). Nach Eintritt der Verjährung scheidet eine Hemmung aus ( - BGHZ 213, 213 = juris RdNr 18). Bei Verhandlungen tritt die Verjährung frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung ein (§ 203 Satz 2 BGB), was indes nur dann bedeutsam ist, wenn der Verjährungsrest kürzer als drei Monate ist (Schmidt-Räntsch in Erman, BGB, 17. Aufl 2023, § 203 RdNr 9, Stand September 2023). In Umsetzung dieser Vorgaben ist die Verjährung aller eventuellen Rentenleistungen für den Zeitraum vom bis unter Einbeziehung denkbarer Hemmungszeiträume spätestens mit Ablauf des eingetreten. Das Ende der Verjährungshemmung spätestens im Mai 2010 führte dazu, dass mangels weiterer Hemmungstatbestände bis zum alle hier streitigen Leistungen verjährt waren. § 203 Satz 2 BGB wirkt sich hier nicht aus.
29b) Die Verjährung wurde nicht durch weitere sinngemäß anwendbare Vorschriften des BGB gehemmt. Insbesondere ist durch die Kontaktaufnahme des Klägers im Mai 2008 nicht der Tatbestand des § 204 Abs 1 Nr 12 BGB erfüllt. Mit einem Antrag iS von § 204 Abs 1 Nr 12 BGB ist nur das auf eine unmittelbar der Klage vorgeschaltete Entscheidung gerichtete Gesuch gemeint. Erfasst ist daher nur das Widerspruchsverfahren (§§ 78 ff SGG) und nicht ein das Ausgangsverfahren erst einleitendes Begehren (zB - BVerwGE 168, 236 = juris RdNr 34 ff mwN und vom - 6 C 11/78 - BVerwGE 57, 306 = juris RdNr 12 ff; s auch - SozR 4-7610 § 204 Nr 2 RdNr 19; Schmidt-Räntsch in Erman, BGB, 17. Aufl 2023, § 204 RdNr 31 f mwN, Stand September 2023). Für die Hemmung durch Widerspruchseinlegung ist im Sozialrecht im Übrigen § 45 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB I lex specialis.
30c) Schließlich scheidet auch eine Gesamtanalogie von § 204 Abs 1 BGB im Rahmen von § 45 Abs 2 SGB I in dem Sinne aus, dass bereits die Anhängigkeit eines Verwaltungsverfahrens eine Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung bewirkt. In der Gesetzlichen Unfallversicherung, in der Leistungen grundsätzlich von Amts wegen erbracht werden (§ 19 Satz 2 SGB IV), wird ein Verwaltungsverfahren bereits anhängig, sobald dem Unfallversicherungsträger potentiell leistungsrelevante Umstände bekannt werden (vgl - SozR 4-1500 § 55 Nr 28 RdNr 20 mwN). Demnach war unmittelbar nach dem Unfallereignis, von dem die Beklagte durch den Durchgangsarzt erfuhr, auch ein Verwaltungsverfahren wegen einer möglichen Verletztenrente anhängig, das frühestens mit Erlass des Bescheides vom abgeschlossen wurde (§ 8 SGB X). Diese Anhängigkeit ist indes weder unmittelbar noch sinngemäß einer Rechtsverfolgung gleichzustellen. Denn der Regelung des § 204 Abs 1 BGB liegt insgesamt der Gedanke zugrunde, dass der Gläubiger seine Forderung aktiv betreiben muss (Peters/Jacoby in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2019, § 204 RdNr 1, Stand ) und zB für eine Hemmung nach § 204 Abs 1 Nr 12 BGB durch Handlungen oder Gesuche den eindeutigen Willen zur gerichtlichen Durchsetzung eines Anspruchs erkennen lassen muss (zB - BVerwGE 168, 236 = juris RdNr 34 mwN und vom - 6 C 11/78 - BVerwGE 57, 306 = juris RdNr 13). Die Anhängigkeit eines Verwaltungsverfahrens tritt indes in der Gesetzlichen Unfallversicherung ohne Zutun oder Kenntnis des Berechtigten ein und insbesondere ohne Ausrichtung auf eine streitige Rechtsverfolgung. Die unterschiedlichen Ausgangslagen lassen eine Analogie nicht zu.
313. Die Verjährung der monatlichen Leistungen für eine Verletztenrente wurde auch nicht durch einen Antrag nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB I gehemmt. Dies erfordert nach dem Wortlaut der Norm einen schriftlichen Antrag, den der Kläger nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) nicht gestellt hat. § 45 Abs 3 SGB I ist entgegen der Auffassung des Klägers auch auf Leistungen anwendbar, die von Amts wegen zu erbringen sind, was in der Gesetzlichen Unfallversicherung der Regelfall ist (§ 19 Satz 2 SGB IV; Hampel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl 2021, § 19 RdNr 53, Stand ; Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, § 45 RdNr 57, Stand ). Zum Teil wird für diese Leistungen sogar der einzig relevante Anwendungsfall von § 45 Abs 3 SGB I gesehen (Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Februar 2023, § 45 RdNr 37).
32Bei Leistungen, die von Amts wegen zu erbringen sind, ist für eine Verjährungshemmung auf einen schriftlichen Antrag auch nicht zu verzichten. Die Leistungserbringung von Amts wegen in der Gesetzlichen Unfallversicherung (§ 19 Satz 2 SGB IV) bezweckt vorrangig die Sicherstellung einer unverzüglichen medizinischen Rehabilitation und einer Beweissicherung durch möglichst zeitnahe Klärung des Sachverhalts in dem von Kausalzusammenhängen geprägten Rechtsgebiet (Hampel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl 2021, § 19 RdNr 40, Stand ; Winter, SGb 2006, 657, 658). Sie dient damit insbesondere der Feststellung eines Versicherungsfalls und der Stammrechte der Versicherten, hat indes keinen unmittelbaren Bezug zur Verjährung der einzelnen Leistungsansprüche. Der genannte Sicherstellungsauftrag der Unfallversicherungsträger rechtfertigt die mit dem Verzicht auf eine Antragstellung verbundene Besserstellung von Versicherten der Gesetzlichen Unfallversicherung gegenüber Versicherten in den anderen Zweigen der Sozialversicherung, beschränkt diese aber zugleich auf die Leistungserbringung. Eine generelle Besserstellung auch bei der Verjährungshemmung kann daraus nicht abgeleitet werden. Den Versicherten steht es frei, durch einen zusätzlichen Antrag nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB I dem Leistungsträger ihren ernsthaften Willen zur Rechtsdurchsetzung zum Ausdruck zu bringen. Das Risiko einer Verjährung einzelner Leistungsansprüche wegen verspäteter Antragstellung nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB I trifft die Versicherten in allen Versicherungszweigen unterschiedslos. Unbilligkeiten im Einzelfall sind bei der Ausübung des Ermessens zu berücksichtigen. Im vorliegenden Kontext kommt es im Weiteren nicht darauf an, dass außerhalb der Gesetzlichen Unfallversicherung der Anspruch mit Antragstellung ggf materiell erst entsteht und vereinzelt für die Verjährungshemmung über die Antragstellung hinaus eine mahnungsähnliche Handlung gefordert wird (vgl zB Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl 2024, § 45 RdNr 41 ff mwN, Stand ; Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Februar 2023, § 45 RdNr 24 f mwN).
33III. Die Beklagte hat sich weder rechtsmissbräuchlich (dazu 1.) noch ermessensfehlerhaft (dazu 2.) auf den Eintritt der Verjährung berufen.
341. Die Erhebung der Verjährungseinrede findet generell ihre Grenze im Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und hierbei im Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs. Als allgemeiner Rechtsgedanke ist er auch dem Sozialrechtsverhältnis immanent und auf beiden Seiten zu berücksichtigen (vgl zuletzt - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-4200 § 67 Nr 1 vorgesehen - juris RdNr 31 mwN; s zB auch - SozR 4-2600 § 233 Nr 3 RdNr 24 mwN). Die Prüfung des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ist der Ermessensprüfung grundsätzlich vorgeschaltet (vgl - BSGE 99, 271 = SozR 4-2400 § 27 Nr 3, RdNr 13, vom - 13 RJ 17/96 - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 31 ff und vom - 9/9a RV 12/92 - SozR 3-1200 § 45 Nr 2 = juris RdNr 10; Spiolek, BB 1998, 533, 535; s auch Rolfs, NZS 2002, 169, 175). Im Einzelnen können sich indes Überschneidungen mit einer erforderlichen Ermessensausübung (§ 39 SGB I) unter dem Gesichtspunkt der Ermessensreduzierung auf Null ergeben (vgl hierzu 2.).
35An den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung sind für den Einzelfall strenge Maßstäbe anzulegen. Er kann nur gegenüber einem groben Verstoß gegen Treu und Glauben durchgreifen (vgl - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2600 § 118 Nr 20 vorgesehen - juris RdNr 29, vom - B 5 R 34/21 R - SozR 4-2600 § 233 Nr 3 RdNr 25 mwN und vom - 13 RJ 17/96 - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 31). Da die Verjährungsvorschriften einen angemessenen Ausgleich schaffen wollen zwischen dem Interesse des Berechtigten an der Durchsetzbarkeit seines Anspruches und dem Interesse des Verpflichteten an einer zeitlichen Begrenzung der möglichen Inanspruchnahme, kann die Erhebung der Verjährungseinrede nicht ohne Hinzutreten weiterer außergewöhnlicher Umstände rechtsmissbräuchlich sein. Eine unzulässige Rechtsausübung kann im Einzelfall bei besonders grober - dh qualifizierter - Pflichtverletzung vorliegen. Unerheblich ist, ob diese in einem aktiven Tun oder passiven Unterlassen begründet oder dem Schuldner vorwerfbar ist ( - SozR 4-2600 § 233 Nr 3 RdNr 25 mwN und vom - B 5 R 88/11 R - BSGE 111, 107 = SozR 4-2600 § 233 Nr 2, juris RdNr 18 f mwN; - BVerwGE 66, 256 = juris RdNr 16 mwN und vom - VI C 112.63 - BVerwGE 23, 166 = juris RdNr 23 ff mwN; - BGHZ 213, 213 = juris RdNr 25 mwN; Rolfs, NZS 2002, 169, 175; Schmidt-Räntsch in Erman, BGB, 17. Aufl 2023, § 214 RdNr 11 ff, Stand September 2023; MüKoBGB/Grothe, 9. Aufl 2021, BGB, § 194 RdNr 18 ff). Eine unzulässige Rechtsausübung kann sich im Einzelfall zudem daraus ergeben, dass die Erhebung der Verjährungseinrede eine wirtschaftliche Notlage auf Seiten des Gläubigers schafft und darin eine besondere Härte liegt, die indes über die allgemeine Rechtsfolge einer Verjährung hinausgehen muss. Nicht ausreichend ist es deswegen, dass durch Unkenntnis der Ansprüche Verjährung eintritt (BSG Großer Senat - BSGE 34, 1 = SozR Nr 24 zu § 29 RVO = juris RdNr 36; - BSGE 40, 279 = SozR 2200 § 29 Nr 4 = juris RdNr 12).
36Die vom LSG festgestellten und nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Umstände lassen hier die Erhebung der Verjährungseinrede nicht rechtsmissbräuchlich erscheinen. Eine wirtschaftliche Notlage auf Seiten des im streitgegenständlichen Zeitraum vollschichtig erwerbstätigen Klägers lag nach den Feststellungen des LSG nicht vor. Diese beinhalten ferner keine Tatsachen, wonach die Beklagte den Kläger aktiv oder auch durch Unterlassen einer abschließenden Verwaltungsentscheidung von der Geltendmachung einer Verletztenrente abgehalten hat, weil sie ihm gegenüber den Eindruck vermittelt hat, ein Anspruch auf Verletztenrente bestehe nicht oder werde unabhängig von einer möglichen Verjährung für den hier gegenständlichen Zeitraum geleistet. Auch das Unterlassen einer Zwischennachricht (§ 103 SGB VII) als Ausdruck des Transparenz- und Beschleunigungsgebots begründet kein qualifiziertes Fehlverhalten der Beklagten. Auf Grundlage der Feststellungen des LSG war die Beklagte im gegenständlichen Zeitraum mangels entsprechender Befunde bereits nicht zu weiterer Sachaufklärung wegen einer möglichen Verletztenrente verpflichtet. Dann bestand indes auch keine Verpflichtung zum Erlass einer entsprechenden Zwischennachricht. Eine Sachaufklärungspflicht folgte hier insbesondere nicht allein aus dem Umstand, dass beim Kläger vorübergehend eine PTBS diagnostiziert worden war. Zwar kann eine PTBS bereits bei einem unvollständig ausgeprägtem Störungsbild (Teil- oder Restsymptomatik) eine MdE bis 20 vH und damit eine Verletztenrente begründen (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Aufl 2024, 216). Indes gibt es dafür keine Anhaltspunkte, wenn wie hier ein "Zustand nach" PTBS als "vollständig remittiert" diagnostiziert wird.
37Die Beklagte war auch nicht gehalten, ohne weitere Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Verletztenrente allein aufgrund der Anhängigkeit des entsprechenden Verfahrens eine abschließende Entscheidung mittels Verwaltungsakt zu treffen (§ 31 SGB X), die nach vorliegender Sachlage mutmaßlich eine Ablehnungsentscheidung gewesen wäre (vgl Hampel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl 2021, § 19 RdNr 44 mwN, Stand ). Auch ein Ablehnungsbescheid hätte dem Kläger im Hinblick auf § 44 Abs 4 SGB X keinen Vorteil gebracht (s auch 4b/9a RV 5/84 - SozR 1300 § 44 Nr 17 S 36 ff = juris RdNr 15 ff).
382. Die Entscheidung der Beklagten stellt sich nicht materiell als ermessensfehlerhaft dar (dazu a); sie wurde auch formell ordnungsgemäß begründet (dazu b).
39a) Ob und in welchem Umfang ein Leistungsträger die Verjährungseinrede erheben will, steht in seinem Ermessen, das er innerhalb der gesetzlichen Grenzen pflichtgemäß auszuüben hat (§ 45 Abs 2 SGB I iVm § 214 Abs 1 BGB; § 39 SGB I). Es handelt sich bei § 45 SGB I nicht um eine Sollvorschrift, die nur in atypischen Fällen eine Ermessensausübung verlangt ( - SozR 4-2700 § 45 Nr 2 = juris RdNr 32, vom - 13 RJ 17/96 - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 33 ff und vom - 9/9a RV 12/92 - SozR 3-1200 § 45 Nr 2 = juris RdNr 11; Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, § 45 RdNr 34 mwN, Stand Februar 2023). Zur Sicherung der Gewaltenteilung (Art 20 Abs 2 Satz 2 GG) und der gesetzlich eingeräumten Entscheidungsfreiheit des Leistungsträgers ist die Überprüfung seiner Ermessensentscheidung durch die Gerichte im Wege einer Rechtmäßigkeitskontrolle nur eingeschränkt dahingehend zulässig, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten wurden oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Gerichte dürfen nicht ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens der Behörde stellen. Grundlagen der Prüfung sind einerseits die jeweilige Norm, die zur Ermessensausübung ermächtigt, hier also § 45 SGB I, sowie andererseits der Bescheid des Leistungsträgers in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG), weil dieser die Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs 1 Satz 3 SGB X; - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 22 und vom - B 2 U 1/07 R - BSGE 100, 124 = SozR 4-2700 § 101 Nr 1, RdNr 15; vgl zur Verjährungseinrede im gerichtlichen Verfahren - SozR 4-2700 § 45 Nr 2 RdNr 32 mwN).
40Hiervon ausgehend ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden. Dabei prüft der Senat eigenständig, ob Ermessensfehler vorliegen ( - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 22). Die Beklagte hat im Widerspruchsbescheid ihr Ermessen frei von Rechtsfehlern ausgeübt. Sie hat mit der Geltendmachung der Verjährung für die Leistungsansprüche vor dem die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge gesetzt. Es bestand keine Ermessensreduzierung auf Null, bei der die Beklagte aufgrund der Gesamtumstände nur eine Rechtsfolge in dem Sinne hätte setzen dürfen, dass sie die Einrede der Verjährung nicht geltend macht. Umstände, die zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen, müssen im Fall der Verjährung nach § 45 SGB I von einer Qualität sein, die der einer unzulässigen Rechtsausübung iS von § 242 BGB zumindest sehr nahe kommen und über allgemeine Härten oder einfache Pflichtverletzungen hinausgehen, welche im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind (zB - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = RdNr 34 ff und vom - 9/9a RV 12/92 - SozR 3-1200 § 45 Nr 2 = juris RdNr 17). Derartige Umstände lagen hier indes nicht vor (siehe dazu zuvor 1.), so dass es an dieser Stelle keiner genaueren Abgrenzung zwischen einer "groben" (§ 242 BGB) und einer das Ermessen auf Null reduzierenden Pflichtverletzung bedarf.
41Schließlich ist auch kein Ermessensfehlgebrauch festzustellen, dh dass die Beklagte von unzutreffenden rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen ist oder einzelne Gesichtspunkte, die bei der Entscheidung nach dem Zweck des § 45 SGB I einerseits und dem Zweck des § 56 SGB VII andererseits zu berücksichtigen waren, außer Acht gelassen oder in ihrer Bedeutung unzutreffend gewürdigt hat. Der Vorschrift des § 45 SGB I liegt zugrunde, dass im Interesse des Rechtsfriedens und der Überschaubarkeit der öffentlichen Haushalte Ansprüche auf Sozialleistungen innerhalb einer angemessenen Frist geltend zu machen sind, zumal der mit den Leistungen verfolgte sozialpolitische Zweck später in der Regel nicht mehr erreicht wird (BT-Drucks 7/868 S 30). Der Grundsatz der sparsamen Haushaltsführung (vgl § 69 Abs 2 SGB IV) und der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art 3 Abs 1 GG) gebieten daher grundsätzlich die Erhebung der Verjährungseinrede, wenn nicht besondere Umstände dagegen sprechen (BSG Großer Senat - BSGE 34, 1 = SozR Nr 24 zu § 29 RVO = juris RdNr 34 f; - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 40; Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Februar 2023, § 45 RdNr 35 mwN). In die anzustellende Gesamtbetrachtung sind Behördenfehler und Zurechnungsaspekte einzubeziehen, ebenso die wirtschaftliche Bedeutung des Nachzahlungsbetrags für den Berechtigten ( 9/9a RV 12/92 - SozR 3-1200 § 45 Nr 2 = juris RdNr 19; zu § 101 Abs 2 SGB VII vgl auch - BSGE 100, 124 = SozR 4-2700 § 101 Nr 1, RdNr 27; Rolfs in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Februar 2023, § 45 RdNr 37 f mwN). Auch eine Unkenntnis des Berechtigten über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ist zu berücksichtigen (BT-Drucks 7/868 S 30), indes nur im Rahmen der Gesamtbewertung (BSG Großer Senat - BSGE 34, 1, 13 = SozR Nr 24 zu § 29 RVO = juris RdNr 36; - BSGE 79, 177 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 = juris RdNr 41 mwN und vom - 11 RA 152/74 - BSGE 40, 279 = SozR 2200 § 29 Nr 4 = juris RdNr 14; Rolfs NZS 2002, 169, 174 mwN).
42Danach hat die Beklagte besondere Umstände des konkreten Einzelfalls nicht außer Acht gelassen. Dass die Geltendmachung der Verjährung hier zu einem - eventuellen - Verlust von Leistungsansprüchen für einen langen Zeitraum führt, ist kein besonderer Umstand, sondern die allgemein mit der Verjährung verbundene Folge. Auch der Zweck von § 56 SGB VII, jedenfalls überwiegend den laufenden Unterhalt der Versicherten zu sichern und sie sozial abzusichern, erfordert keine rückwirkende Nachzahlung für den hier betroffenen Zeitraum. Die Beklagte ist dem Kläger in Ausübung ihrer Entscheidungsfreiheit ferner bereits mit der Annahme einer Verjährungshemmung schon im Jahr 2015 - allein wegen Kenntnisnahme der Rechnungen über die weitere Heilbehandlung - entgegengekommen. Der Verlust eventueller früherer Leistungsansprüche ist der Beklagten nicht zuzurechnen, denn sie hat keine Ermittlungspflichten verletzt und das Verfahren nicht verschleppt. Vor Juni 2015 hatte die Beklagte keine Veranlassung, weitere Sachaufklärung gerichtet auf die Feststellung einer Verletztenrente zu betreiben. Weder löste die Gewährung von Heilbehandlung zuletzt bis Mai 2010 eine entsprechende Pflicht aus noch die bloße Anhängigkeit möglicher Rentenansprüche auf Grundlage der oben zitierten Rechtsprechung des Senats. Eine Verletzung von Mitteilungspflichten (§ 103 SGB VII) lag ebenfalls nicht vor. Demgegenüber hatte der Kläger einen Beitrag dazu gesetzt, dass die Beklagte nicht früher ihre Amtsermittlung aufgenommen hat. Dadurch, dass er sich in ärztliche Behandlung begab, ohne die Beklagte hierüber zu informieren, hat er seinerseits - wenn auch ggf unbewusst - zur Unkenntnis der Beklagten in zurechenbarer Weise beigetragen.
43b) Die Beklagte hat ihre Ermessensentscheidung formell hinreichend begründet (§ 35 Abs 1 Satz 2 und 3 SGB X). Sie musste hierfür nicht auf alle Einzelheiten eingehen, sondern es genügt, dass die maßgebenden und tragenden Gesichtspunkte mitgeteilt werden. Maßgeblich für die Einhaltung der Begründungsanforderungen sind die Umstände des konkreten Einzelfalls, was auch der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegt ( - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 22 mwN und vom - B 2 U 1/07 R - BSGE 100, 124 = SozR 4-2700 § 101 Nr 1, RdNr 22 mwN).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:260924UB2U122R0
Fundstelle(n):
LAAAJ-85853