Anforderungen an Urteilsgründe betreffend eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung sowie Unterbringung in Entziehungsanstalt
Gesetze: § 55 Abs 1 S 1 StGB, § 64 S 2 StGB, § 267 StPO
Instanzenzug: LG Limburg Az: 5 KLs - 3 Js 16902/21
Gründe
1Das Landgericht hat die Angeklagten des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit räuberischem Angriff auf Kraftfahrer und schwerer räuberischer Erpressung schuldig gesprochen. Den Angeklagten H. hat es deswegen unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und vier Monaten und die Angeklagte W. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt. Zudem hat es die Unterbringung beider Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug eines Teils der Strafen angeordnet. Ferner hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die jeweils mit der allgemeinen Sachrüge geführten Revisionen der Angeklagten haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und sind im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe gegen den Angeklagten H. hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB vorliegen.
3a) Ist die neu abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen begangen worden, die untereinander nach der Regelung des § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus der Strafe für die neu abzuurteilende Tat und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden (st. Rspr.; vgl. nur , NStZ-RR 2022, 371; Beschluss vom – 4 StR 420/19 Rn. 3; Beschluss vom – 4 StR 25/19 Rn. 11; jew. mwN). Einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung steht in diesem Fall die von der ersten Vorverurteilung ausgehende Zäsurwirkung entgegen. Diese entfällt nur, wenn die der ersten Vorverurteilung zugrundeliegende Strafe bereits vor der zweiten Vorverurteilung – etwa infolge vollständiger Vollstreckung – erledigt ist (vgl. , BGHR StPO § 460 Anwendung 1). Andernfalls kommt der zweiten Vorverurteilung, wenn die Taten aus beiden Vorverurteilungen bereits in dem früheren Erkenntnis hätten geahndet werden können, gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. Rn. 5).
4b) Eine nach diesen Maßgaben rechtsfehlerfreie nachträgliche Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.
5Das Landgericht hat aus der für die verfahrensgegenständliche Tat vom verhängten Strafe und zwei Einzelfreiheitsstrafen aus einem Urteil des Amtsgerichts Diez vom nach Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe gebildet. Die dieser Verurteilung zugrundeliegenden Taten wurden am begangen. Den Urteilsgründen ist weiter zu entnehmen, dass der Angeklagte durch das Amtsgericht Limburg a. d. Lahn am 6. Januar, 1. April und zu weiteren Strafen verurteilt worden ist. Die Tatzeiten, die Rechtskraftdaten und der Vollstreckungsstand werden insoweit – bis auf die der Verurteilung vom zugrundeliegenden Tatzeiten (siehe dazu sogleich) – nicht mitgeteilt.
6Da die einbezogenen Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Diez vom für Taten verhängt worden sind, die vor dem Urteil des Amtsgerichts Limburg a. d. Lahn vom begangen wurden, erweist sich das verfahrensgegenständliche Urteil insoweit nur dann als zutreffend, wenn dem Urteil des Amtsgerichts Limburg a. d. Lahn vom seinerseits keine Zäsurwirkung zukommt, weil alle dort abgeurteilten Taten (Tatzeiten: 17./18., , 26. und ) vor einer noch nicht erledigten Vorverurteilung begangen wurden und deshalb dort eine Gesamtstrafe zu bilden war oder noch ist. Dies lässt sich aufgrund der dazu fehlenden Mitteilungen nicht beurteilen. Die Taten vom 26. und wurden vor dem Urteil des Amtsgerichts Limburg a. d. Lahn vom und nach dem Urteil desselben Gerichts vom begangen. Da die Urteilsgründe offenlassen, ob der Strafe aus dem Urteil vom eine Tat zugrunde lag, die vor dem Urteil vom begangen wurde, und auch offenbleibt, ob das Urteil vom am schon erledigt war, kann nicht entschieden werden, ob insoweit nach § 460 StPO noch eine Gesamtstrafe gebildet werden muss, weil jedenfalls das Urteil vom noch nicht erledigt ist (vgl. dazu Rn. 3; Beschluss vom – 4 StR 266/07, NStZ 2007, 369, 370). Dies hätte zur Folge, dass dem Urteil vom keine Zäsurwirkung zukommt und damit das Urteil vom jedenfalls hinsichtlich der Einzelstrafen für die Taten nach dem nicht gesamtstrafenrechtlich erledigt wäre. Dieses Urteil würde dann insoweit in Bezug auf die in das verfahrensgegenständliche Urteil einbezogenen Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Diez vom eine Zäsurwirkung entfalten und diese von einer Gesamtstrafenbildung im hiesigen Verfahren ausschließen.
7c) Eine Beschwer des Angeklagten durch die Gesamtstrafenbildung, die zu einer Erhöhung der Einsatzstrafe von sieben Jahren und zwei Monaten um zwei Monate geführt hat (§ 55 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StGB), kann nicht ausgeschlossen werden.
82. Auch die Anordnung der Unterbringung beider Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Satz 1 StGB hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die sachverständig beratene Strafkammer hat die Annahme einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung im Sinne von § 64 Satz 2 StGB in beiden Fällen rechtsfehlerhaft begründet.
9a) Bezogen auf den Angeklagten H. hat sie bereits den rechtlichen Maßstab verfehlt, indem sie sich unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten mit der Erwartung begnügt hat, „dass sich der Angeklagte bei erfolgreichem Durchlaufen der Therapie legal prognostisch zukünftig deutlich besser bewähren werde und nach einer Therapie das Prognoserisiko günstigstenfalls im unteren bis mittleren Bereich für Delikte im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln oder ähnlichem anzusiedeln sei“. Dies verkennt, dass für die Bejahung einer hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinne von § 64 Satz 2 StGB eine Prognose erforderlich ist, aus der sich ergibt, dass die Gefährlichkeit des Verurteilten aufgehoben oder zumindest deutlich herabgesetzt ist (vgl. , NStZ-RR 2023, 40; Beschluss vom – 4 StR 230/02, NStZ 2003, 86; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 64 Rn. 19 mwN).
10Mit den darüber hinausgehenden Erwägungen, der Angeklagte stehe einer Therapie prinzipiell positiv gegenüber, sei krankheitseinsichtig, habe die Notwendigkeit der Behandlung seiner Betäubungsmittelabhängigkeit erkannt und verfüge über die notwendigen intellektuellen Möglichkeiten, an einer Entzugsbehandlung mitzuwirken, hat das Landgericht zudem lediglich die Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung des Angeklagten aufgezeigt. Diese reicht für die Annahme einer hinreichenden Erfolgswahrscheinlichkeit aber nicht aus (st. Rspr.; vgl. , NStZ-RR 2022, 372; Beschluss vom – 5 StR 208/21 Rn. 7; Beschluss vom – 2 StR 104/21 Rn. 18; Ziegler in BeckOK-StGB, 55. Ed., § 64 Rn. 12; van Gemmeren in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 64 Rn. 61 ff.; jew. mwN).
11b) Bei der Angeklagten W. hat die Strafkammer zwar im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass für die Bejahung einer ausreichenden Erfolgsaussicht erforderlich ist, dass „nach der anzustellenden Prognose bei erfolgreichem Therapieverlauf die Gefährlichkeit aufgehoben oder deutlich herabgesetzt wird und sich in Persönlichkeit und Lebensumständen des Täters konkrete Anhaltspunkte finden, die einen solchen Verlauf erwarten lassen.“ Diese Anhaltspunkte hat sie jedoch allein mit der „vom Sachverständigen als aufrichtig bezeichneten, explizit erklärten Therapiebereitschaft, der Einsicht in die bestehende Suchtkrankheit sowie in der geäußerten Erkenntnis, dass die Angeklagte es ohne Hilfe nicht schaffen werde“ als gegeben angesehen. Dabei handelt es sich wiederum lediglich um Voraussetzungen dafür, eine Behandlung überhaupt durchzuführen, die noch nichts über die Wahrscheinlichkeit eines möglicherweise zu erzielenden Therapieerfolges aussagen.
12Überdies hat das Landgericht im Rahmen der gebotenen Gesamtschau wesentliche prognoseungünstige Faktoren nicht in den Blick genommen. Dies gilt insbesondere für die langjährige polyvalente Suchterkrankung der Angeklagten (vgl. dazu , NStZ-RR 2032, 41; Beschluss vom – 5 StR 464/14 Rn. 4; van Gemmeren, aaO, Rn. 65 mwN), ihren im Tatzeitraum praktizierten Beikonsum von Rauschgiften während einer Substitutionsbehandlung mit Methadon und ihre ungünstigen Lebensumstände (Arbeitslosigkeit, erneute Straffälligkeit, Einfluss durch einen drogen- und alkoholabhängigen Lebensgefährten).
13c) Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Maßregelentscheidungen bedürfen daher insgesamt neuer Prüfung und Entscheidung, wobei sich die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer erneut sachverständiger Hilfe zu bedienen haben wird (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO). Der Senat hebt auch die zugehörigen Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht umfassende und in sich stimmige Feststellungen zu ermöglichen (§ 353 Abs. 2 StPO).
143. Mit der Aufhebung des Maßregelausspruchs entfällt auch die Anordnung des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB (vgl. , ZfSch 2023, 108, 109, Rn. 22; Beschluss vom – 1 StR 51/99, BeckRS 1999, 30054513; Maier in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 67 Rn. 161 mwN).
154. Im Übrigen hat die auf die Sachrügen gebotene materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:140223B4STR385.22.0
Fundstelle(n):
AAAAJ-42337