BAG Urteil v. - 4 AZR 438/10

Eingruppierung einer Pflegefachkraft in einem psychiatrischen Pflegeheim - AVR des Diakonischen Werks der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs e.V.

Gesetze: § 12 DWArbVtrRL ME, Anl 1 Entgeltgr 8 DWArbVtrRL ME, § 6 PsychKG MV

Instanzenzug: ArbG Schwerin Az: 11 Ca 1415/08 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern Az: 3 Sa 203/09 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die zutreffende Eingruppierung des Klägers.

2Der Kläger ist staatlich anerkannter Krankenpfleger. Er ist seit 2001 als Pflegefachkraft in einem psychiatrischen Pflegeheim der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft vertraglicher Vereinbarung die von der Arbeitsrechtlichen Kommission des Diakonischen Werkes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs e. V. mit Wirkung zum neu gefassten Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werkes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs e. V. (AVR DWM) Anwendung. Die Beklagte hat den Kläger ab Januar 2008 der Entgeltgruppe 7 der Anlage 1 zu den AVR DWM zugeordnet.

Das psychiatrische Pflegeheim der Beklagten verfügt über 61 Plätze. 48 Plätze stehen für eine offene und 13 Plätze für eine geschlossene Heimunterbringung zur Verfügung. Die Beklagte hat die Konzeption des Pflegeheims in einem „Leitbild für das psychiatrische Pflegeheim“ zusammengefasst und ua. ausgeführt:

4Der Kläger ist ausschließlich im Bereich der offenen Heimunterbringung in den Wohngruppen A und B tätig, in denen 13 Bewohner mit der Pflegestufe 1, fünf Bewohner mit der Pflegestufe 2 sowie ein Bewohner mit der Pflegestufe 3 betreut werden. Die Heimbewohner haben Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis (9 Bewohner) und hirnorganischen Störungen (primär Korsakow-Syndrom; 10 Bewohner).

5Der Kläger hat nach vergeblicher außergerichtlicher Geltendmachung vom mit seiner Klage die Auffassung vertreten, er erfülle mit seiner Tätigkeit die Anforderungen des Richtbeispiels der Entgeltgruppe 8 AVR DWM „Gesundheitspfleger in der Psychiatrie“. Das psychatrische Pflegeheim der Beklagten sei eine Einrichtung der „Psychatrie“ iSd. AVR DWM. Sowohl die Aufnahme in den Psychiatrieplan des Landes Mecklenburg-Vorpommern als auch dessen Konzeption sprächen für eine Einrichtung der Psychiatrie. Der Einsatz in dieser Einrichtung stelle an die Pflegefachkräfte neben der pflegerischen Tätigkeit weitere, darüberhinausgehende Anforderungen. Es seien vor allem pflegerische Leistungen (Grund- und Behandlungspflege) gegenüber verwirrten, desorientierten und psychisch kranken Menschen zu erbringen. Neben der pflegerischen Kompetenz würde ein besonderes Verständnis von und im Umgang mit psychischen Erkrankungen verlangt. Es würden vertiefte und erweiterte Kenntnisse über psychiatrische Krankheiten sowie über deren angemessenen Umgang und ihre therapeutischen Möglichkeiten für die Tätigkeit benötigt. Die Hauptlast der psychiatrischen Pflege liege bei den Pflegefachkräften. Zu ihren Aufgaben gehöre die Umsetzung der Pflegeplanung. Den therapeutischen Kräften sei es nur zu einem geringen Anteil des Tages möglich, sich um die Patienten therapeutisch zu kümmern. Die Rund-um-die-Uhr-Versorgung und Betreuung erfolge durch die Pflegefachkräfte.

Der Kläger hat sinngemäß beantragt

7Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrages im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei in der Entgeltgruppe 7 AVR DWM zutreffend eingruppiert. Er erfülle das Richtbeispiel der Entgeltgruppe 8 AVR DWM „Gesundheitspfleger in der Psychiatrie“ nicht. Der Begriff der „Psychiatrie“ betreffe nur das medizinische Fachgebiet in einem psychiatrischen Krankenhaus. In den Wohngruppen A und B des Pflegeheims seien heterogene Betreuungsteams im Einsatz, die psychologischen bzw. psychiatrischen Aufgaben würden von geschultem Fachpersonal wahrgenommen. Der Kläger erbringe ausschließlich pflegerische Tätigkeiten. Dies entspreche sowohl seiner Tätigkeits- als auch der konkreten Arbeitsplatzbeschreibung. Seine Beschäftigung sei nicht mit einer klassischen Tätigkeit „in der Psychiatrie“ zu vergleichen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

9Die Revision des Klägers ist begründet. Die nach der Klarstellung des Antrages in der Revisionsverhandlung als allgemeine Eingruppierungsfeststellungsklage zulässige Klage (zu den dabei anzuwendenden Maßstäben nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats vgl. nur  - AP BAT 1975 §§ 22, 23 Nr. 308) ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Eingruppierungsregelungen der AVR DWM unzutreffend ausgelegt und angewandt. Der Kläger ist in der Entgeltgruppe 8 AVR DWM eingruppiert. Die Beklagte hat ihm das sich daraus ergebende Entgelt zu zahlen.

10I. Die Eingruppierung des Klägers richtet sich kraft vertraglicher Vereinbarung der Parteien nach der Anlage 1 zu den AVR DWM.

Danach gelten für die Eingruppierung des Klägers folgende Regelungen:

In dem Eingruppierungskatalog der Anlage 1 zu den AVR DWM heißt es ua.:

Die entsprechenden Anmerkungen lauten ua.:

14II. Hiernach hat der Kläger einen Entgeltanspruch nach der Entgeltgruppe 8 AVR DWM. Seine Tätigkeit entspricht den Anforderungen des dort aufgeführten Richtbeispiels eines „Gesundheitspflegers in der Psychiatrie“.

151. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts handelt es sich bei kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen zwar nicht um Tarifverträge im Sinne des Tarifvertragsgesetzes, weil sie nicht nach dessen Maßgabe zustande gekommen sind (st. Rspr.,  - BAGE 105, 148; - 4 AZR 101/01 - BAGE 101, 9; - 6 AZR 88/01 - EzA BGB § 611 Kirchliche Arbeitnehmer Nr. 48). Gleichwohl erfolgt aber die Auslegung der Arbeitsvertragsrichtlinien nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nach den gleichen Grundsätzen, wie sie für die Tarifauslegung maßgeblich sind ( - mwN, AP AVR Caritasverband Anlage 1 Nr. 3; - 6 AZR 53/99 - ZTR 2001, 172). Danach ist vom Wortlaut der AVR auszugehen und anhand dessen der Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Wortlaut zu haften. Der wirkliche Wille der Richtliniengeber und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Bestimmungen ist mit zu berücksichtigen, soweit sie in den Vorschriften der AVR ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist auch auf den systematischen Zusammenhang.

162. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung von Tarifverträgen sind die Erfordernisse eines Tätigkeitsmerkmales einer Entgeltgruppe regelmäßig dann als erfüllt anzusehen sind, wenn der Arbeitnehmer eine dem in der Vergütungsgruppe genannten Regel- oder Richtbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt ( - Rn. 27, BAGE 129, 238; - 4 AZR 696/05 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Telekom Nr. 8). Das beruht darauf, dass die Tarifvertragsparteien selbst im Rahmen ihrer rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten gewisse häufig vorkommende und typische Aufgaben einer bestimmten Vergütungsgruppe fest zuordnen können. Dies entspricht den bei der Tarifauslegung besonders wichtigen Grundsätzen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, denen Tarifvertragsparteien bei der Abfassung von Tarifnormen im Allgemeinen gerecht werden wollen ( - EzA TVG § 4 Chemische Industrie Nr. 7). Auf die allgemeinen Merkmale muss nur dann zurückgegriffen werden, wenn die vom Arbeitnehmer ausgeübte Tätigkeit von einem Tätigkeitsbeispiel nicht oder nicht voll erfasst wird ( - mwN, AP TVG § 1 Tarifverträge: Großhandel Nr. 7 = EzA TVG § 4 Großhandel Nr. 2). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das Richtbeispiel in mehreren Vergütungsgruppen genannt ist oder wenn es selbst einen unbestimmten Rechtsbegriff enthält, der nicht aus sich selbst heraus ausgelegt werden kann. Dann sind die Merkmale der allgemeinen Anforderungen heranzuziehen ( - Rn. 20 mwN, AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 95). Soweit es nach der Tarifsystematik ausreicht, dass ein Regel- oder Richtbeispiel erfüllt ist, ist ein Rückgriff auf die Obersätze aber nicht nur überflüssig, sondern verbietet sich. Ansonsten würde die von dem Normgeber bewusst vorgenommene pauschalierende Bewertung, die er mit einem Richtbeispiel umgesetzt hat, nicht als solche akzeptiert, sondern in ihrer Plausibilität einer erneuten gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Diese für tarifliche Vergütungsordnungen entwickelte Auslegungsregel gilt entsprechend auch für die hier streitigen Tätigkeitsmerkmale der AVR DWM (ebenso die Rechtsprechung des Kirchengerichtshofs der Evangelischen Kirche in Deutschland - KGH EKD - zB - I-0124/R51-09 - Rn. 22, zum - hier streitigen - Richtbeispiel „Gesundheitspflegerin in der Psychiatrie“ der Entgeltgruppe 8 AVR Diakonie).

173. Das in der Entgeltgruppe 8 AVR DWM aufgeführte Richtbeispiel eines „Gesundheitspflegers in der Psychiatrie“ wird vom Kläger durch seine Tätigkeit im psychiatrischen Pflegeheim der Beklagten erfüllt. Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik der Regelungen ergibt sich, dass ein Gesundheitspfleger immer dann in der Entgeltgruppe 8 AVR DWM eingruppiert ist, wenn er „in der Psychiatrie“ tätig ist.

18a) Der Begriff des Gesundheitspflegers und seine Tätigkeit werden von der Entgeltordnung der AVR DWM vorausgesetzt. Der Begriff entspricht der gesetzlichen Definition im Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege vom (BGBl. I S. 1442). Die Tätigkeit als Alten-, Gesundheits- und Krankenpfleger und -pflegerinnen wird im Grundsatz nach Entgeltgruppe 7 AVR DWM vergütet.

19b) Soweit ein Gesundheitspfleger „in der Psychiatrie“ beschäftigt ist, erfüllt er das Richtbeispiel der Entgeltgruppe 8 AVR DWM. Die entsprechenden Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppe 8 AVR DWM gehen sowohl in den abstrakten Obersätzen als auch in den zusätzlichen Merkmalen in den Richtbeispielen von erhöhten Anforderungen aus, die für die jeweiligen Tätigkeiten verlangt werden. Im Vergleich zu den Richtbeispielen eines Alten-, Gesundheits- oder Krankenpflegers der Entgeltgruppe 7 AVR DWM muss nach den Richtbeispielen der Entgeltgruppe 8 AVR DWM ein Gesundheitspfleger „im OP-Dienst, in der Intensivpflege oder Psychiatrie“ tätig sein. Die Anknüpfung an die Einrichtung, in der der Gesundheitspfleger tätig ist, erfolgt aufgrund einer typisierenden Bewertung des Normgebers, wonach Gesundheitspflege in solch speziellen Einrichtungen regelmäßig mit erhöhten Anforderungen verbunden ist. Damit knüpft die Entgeltordnung und das Richtbeispiel zur Entgeltgruppe 8 AVR DWM an ein bestimmtes, institutionelles Merkmal an. Die Einrichtung, in der der Gesundheitspfleger tätig wird, muss „der Psychiatrie“ zuzuordnen sein.

20c) Diese Auslegung wird durch systematische Überlegungen gestützt. Die Entgeltordnung stellt darauf ab, dass dann, wenn bestimmte Tätigkeiten in bestimmten Einrichtungen oder unter bestimmten Umständen ausgeübt werden, bereits die allgemeinen Anforderungen des jeweiligen Obersatzes einer höheren Entgeltgruppe erfüllt sind. Hinsichtlich der Gesundheitspfleger der Entgeltgruppe 7 AVR DWM ist eine solche pauschalierende Bewertung für diejenigen getroffen worden, die in der Psychiatrie, im OP-Dienst oder in der Intensivpflege tätig sind. Die dabei regelmäßig auftretenden besonderen Belastungen oder Anforderungen sind vom Normgeber der AVR DWM so typisierend bewertet worden, dass sie stets eine Eingruppierung in die höhere Entgeltgruppe 8 rechtfertigen.

21Die Verknüpfung von bestimmten Tätigkeiten mit dem Ort oder der Art der Einrichtung, in der sie ausgeübt werden, sieht die Entgeltordnung der AVR DWM in einigen Entgeltgruppen vor. So sind in der Entgeltgruppe 2 die Reinigungskräfte „in Wohn-, Betreuungs- und Behandlungsräumen“ als Richtbeispiele genannt. Entgeltgruppe 3 zählt hierzu die „Mitarbeiter im Empfang, in der Registratur und in der Telefonzentrale“. Entgeltgruppe 4 nennt „Mitarbeiter in der Buchhaltung, Patientenverwaltung oder dem Einkauf“. Auch bei höherwertigen Tätigkeiten werden bestimmte Institutionen genannt, etwa bei der Entgeltgruppe 9: „Leiter einer kleineren Schule für Alten-, Kranken- oder Entbindungspflege“.

22Dieser Anbindung von Tätigkeiten an eine Institution, in der sie ausgeübt werden, steht die daneben in anderen Richtbeispielen der Entgeltordnung der AVR DWM enthaltene Qualifizierung einer höherwertigen Tätigkeit durch inhaltliche, qualitativ zu bewertende Anforderungen gegenüber. So ist zu derselben Entgeltgruppe 8 ua. das Richtbeispiel „Erzieher mit speziellen Aufgaben und entsprechenden Kenntnissen“ geregelt (ebenso Heilerziehungspfleger; vgl. auch etwa zu Entgeltgruppe 5: einerseits Altenpfleger- und Heilerziehungshelfer mit speziellen Aufgaben, andererseits Unterstützungskraft in Kindertagesstätten). Die Charakterisierung einer Aufgabe als speziell, die unmittelbar im Richtbeispiel genannt ist, bedarf daher immer einer qualitativen, im Regelfall vergleichenden Wertung im Einzelfall der jeweiligen Tätigkeit, bei der auf die Anforderungen der Obersätze zurückgegriffen werden kann und muss. Diese qualitative Bewertung der Richtbeispiele ist bei den an die Tätigkeit in einer bestimmten Institution angebundenen Richtbeispielen durch den Normgeber der AVR DWM bereits abschließend vorgenommen worden. Hieran sind die Gerichte für Arbeitssachen gebunden. Sie dürfen daher bei einer solchen Tätigkeit keine Überprüfung dahingehend vornehmen, ob der bei der pauschalierenden Bewertung des Normgebers generell vermutete Grund für die Höherbewertung im Einzelfall auch nach Maßgabe der Obersätze tatsächlich vorliegt.

23d) Soweit die Rechtsprechung des KGH EKD hiervon abweicht, folgt ihr der Senat nicht.

24aa) Der KGH EKD hält das Richtbeispiel „Gesundheitspflegerin in der Psychiatrie“ für mehrdeutig und meint, es sei so zu verstehen, dass von ihm nur die Mitarbeiter erfasst würden, die in psychiatrischen Einrichtungen eine die Gesamttätigkeit prägende Pflegetätigkeit ausübten, die auf die besonderen Bedürfnisse der Patienten in der Psychiatrie ausgerichtet seien (KGH EKD - I-0124/R60-09 -).

25bb) Nach Auffassung des erkennenden Senats kann der in § 12 Abs. 2 AVR DWM formulierte Begriff des „Gepräges“ für die Auslegung dieser Tätigkeitsmerkmale und Richtbeispiele nicht herangezogen werden. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist das „Gepräge“ erst heranzuziehen, wenn mehrere Tätigkeitsmerkmale erfüllt sind und festzustellen ist, welches der - erfüllten - Tätigkeitsmerkmale bzw. der zugrundeliegenden Teiltätigkeiten der gesamten Tätigkeit (dem „Arbeitsauftrag“, § 12 Abs. 2 Satz 2 AVR DWM) das Gepräge gibt.

26Zudem trägt eine Anwendung des Geprägebegriffs bereits bei der Auslegung von Richtbeispielen und Tätigkeitsmerkmalen im Allgemeinen dem Charakter von Richtbeispielen nicht hinreichend Rechnung. Bei dieser methodischen Vorgehensweise käme es zu einer qualitativ-wertenden Einbeziehung der in den Obersätzen formulierten Anforderungen bei der Auslegung der Richtbeispiele. Danach wäre das Richtbeispiel eines Gesundheitspflegers in der Psychiatrie wie folgt zu lesen: „Gesundheitspfleger in der Psychiatrie, wenn und soweit pflegerische Tätigkeiten anfallen, die auf die besonderen Bedürfnisse der Patienten in der Psychiatrie ausgerichtet sind“ (vgl. dazu KGH EKD - I-0124/R60-09 -). Ein solches Richtbeispiel hat der Normgeber aber nicht formuliert. Auch würde dabei eine qualitative Betrachtung erforderlich werden, die in der nach dem Wortlaut rein örtlichen und einrichtungsbezogenen Bestimmung nicht enthalten ist.

27e) Die Voraussetzungen des Richtbeispiels der Entgeltgruppe 8 AVR DWM „Gesundheitspfleger in der Psychiatrie“ sind gegeben.

28aa) Der Kläger ist Gesundheitspfleger iSd. Regelung. Mit der Reform des Krankenpflegerechts durch das Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege vom , in Kraft ab (aktuelle Fassung vom ) ist die Berufsbezeichnung der bisherigen „Krankenpfleger“ in „Gesundheits- und Krankenpfleger“ geändert worden (§ 23 Abs. 1 iVm. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Krankenpflegegesetz). Der Kläger ist staatlich anerkannter Krankenpfleger und erfüllt daher - auch nach Auffassung der Parteien - unter der Arbeitsvertragsbezeichnung „Pflegefachkraft“ die entsprechende Anforderung des hier fraglichen Tätigkeitsmerkmales.

29bb) Der Kläger übt seine Gesundheitspflegertätigkeit auch „in der Psychiatrie“ aus. Unter dem vom Normgeber der AVR DWM im Richtbeispiel gewählten Begriff der „Psychiatrie“ fallen nicht nur die psychiatrischen Kliniken im engeren Sinne, sondern auch psychiatrische Einrichtungen anderer Art, in denen die spezifischen Aufgaben einer psychiatrischen Klinik ohne deren strikten institutionellen Rahmen - ganz oder teilweise - erfüllt werden. Dies ist bei dem psychiatrischen Pflegeheim der Beklagten der Fall.

30(1) Der Begriff „Psychiatrie“ wird im Allgemeinen in zweifacher Hinsicht gebraucht. Er bedeutet zum einen ein „Fachgebiet der Medizin, das sich mit der Erkennung u. Behandlung psych. Krankheiten befasst“ (Wahrig Deutsches Wörterbuch 9. Aufl. S. 1177; ebenso Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Bd. 7). Zum anderen bezeichnet er umgangssprachlich eine „psychiatr. Klinik“ (Wahrig aaO) bzw. „(Jargon) psychiatrische Abteilung, Klinik“ (Duden aaO). Der im Richtbeispiel gewählte Begriff orientiert sich erkennbar an der zweitgenannten Bedeutung und erfasst daher den Gesundheitspfleger in einer „psychiatrischen Einrichtung“ („Klinik, Abteilung“).

31(2) „Die Psychiatrie“ im Sinne der Regelung ist danach nicht auf die „klassische“ psychiatrische Klinik begrenzt. Nach Sinn und Zweck der Norm werden auch die Einrichtungen erfasst, die gemeinsam das Netz der psychiatrischen Versorgung des Landes Mecklenburg-Vorpommern bilden.

32(3) Der Begriff der „Psychiatrie“ ist nicht notwendig identisch mit dem Begriff der „psychiatrischen Klinik“. Eine solche Begrenzung wäre unmittelbar nur aus dem Tatbestandsmerkmal „psychiatrische Klinik“ oder aus einer vergleichbar eindeutigen Bezugnahme, etwa auf entsprechende Begriffe im Krankenversicherungsrecht (zB § 118 SGB V), zu folgern. Der Systematik ist lediglich zu entnehmen, dass mit dem Begriff der „Psychiatrie“ die Institution gekennzeichnet werden soll, in der die Pflegetätigkeit erbracht wird, nicht dagegen die jeweils konkrete Subsumtion einer speziellen, von einem einzelnen Gesundheitspfleger in einer Einrichtung ausgeübten Pflegetätigkeit.

33(4) Für eine Erstreckung des Begriffs der Psychiatrie auf psychiatrische Pflegeheime, wie das der Beklagten, sprechen weiter die folgenden Gesichtspunkte:

34Die „Psychiatrie“ ist kein Begriff, der quasi wissenschaftlich definiert ist. Er ist eher der Umgangssprache zuzuordnen (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 263. Aufl. S. 1721). Wenn die Zugehörigkeit einer Institution zur „Psychiatrie“ als Merkmal genannt wird, besteht sprachlich keine Möglichkeit, diese Zugehörigkeit schon vom Wortlaut her präzise abzugrenzen. Es geht vielmehr um eine allgemeine Zuordnung zu Einrichtungen, in denen psychiatrisch erkrankte Patienten behandelt und ggf. gepflegt werden.

Dem entspricht, dass die „psychiatrische Versorgung“ im Allgemeinen und speziell im Land Mecklenburg-Vorpommern nicht auf psychiatrische Kliniken begrenzt ist. Die allgemeine gesundheitspolitisch-administrative Festlegung der Landesregierung in diesem Bereich wird als „Psychiatrieplan“ bezeichnet (vgl. das Geleitwort der Ministerin zum „Plan zur Weiterentwicklung eines integrativen Hilfesystems für psychisch kranke Menschen in Mecklenburg-Vorpommern“ von August 2011). Dazu heißt es in § 6 Abs. 3 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke vom (PsychKG M-V):

36Daraus ergibt sich, dass der Begriff der Psychiatrie sowohl nach der Terminologie des (Landes-)Gesetzgebers als auch nach der der Exekutive deutlich weiter reicht als dies eine Wertung als bloßes Synonym für „psychiatrische Klinik“ fassen würde.

37(5) Das psychiatrische Pflegeheim der Beklagten wird von dem Psychiatrieplan des Landes Mecklenburg-Vorpommern 1994 erfasst. Das ergibt sich sowohl aus dem Psychiatrieplan 1994 selbst, als auch aus der von der Beklagten selbst erstellten Konzeption für das psychiatrische Pflegeheim. Die Konzeption weist neben den offenen Bereichen, in denen der Kläger tätig ist, auch eine geschlossene Abteilung auf. Die Unterbringung, bspw. nach § 1906 BGB oder nach § 9 ff. PsychKG M-V erfolgt in der Regel in psychiatrischen Kliniken, die von dem tariflichen Begriff der „Psychiatrie“ ohne Weiteres erfasst werden. Eine Unterbringung kann aber auch in dem psychiatrischen Pflegeheim der Beklagten (dort: Personenkreis 4) erfolgen. Dem entspricht, dass die Beklagte selbst stets darauf verwiesen hat, der Kläger habe mit dem Bereich der geschlossenen Unterbringung in ihrer Einrichtung nichts zu tun. Wenn die Frage der Zugehörigkeit zu „der Psychiatrie“ aber keine Frage der konkreten Tätigkeit des Klägers ist, sondern einer Eigenschaft der Institution, in der er tätig ist, käme eine Differenzierung nach den konkreten Tätigkeiten nur in Betracht, wenn das psychiatrische Pflegeheim nach dem geschlossenen und dem offenen Teil als zwei getrennte Institutionen zu werten wäre. Hierfür bestehen keine Anhaltspunkte. Gerade der integrative Charakter der verschiedenen Teile der psychiatrischen Einrichtungen wird häufig als Merkmal einer modernen Versorgung im Bereich „der Psychiatrie“ verstanden.

38Auch die konkreten Erscheinungsformen psychiatrischer Krankheiten in den verschiedenen Abteilungen im Heim der Beklagten legen eine Gesamtbetrachtung nahe. Nach der Konzeption der Beklagten gibt es zwischen den Diagnosen für den offenen und für den geschlossenen Bereich keine Differenzierungen. Lediglich hinsichtlich der gerichtlich überprüften Notwendigkeit einer Unterbringung ist bei deren Vorliegen die Aufnahme in die geschlossene Abteilung vorgesehen. Das PsychKG M-V sieht dafür in § 11 eine gegenwärtige erhebliche Gefahr einer Selbstschädigung oder für die öffentliche Sicherheit vor, die nicht anders abgewendet werden kann. Diese muss auf der psychischen Erkrankung beruhen. Die Unterbringung ist daher nicht Patienten mit bestimmten, besonders schweren psychischen Erkrankungen vorbehalten, sondern orientiert sich an einer aktuellen Selbst- oder Fremdgefährdung, bei welchem Krankheitsbild auch immer. Dementsprechend finden sich auch in den offenen Wohnbereichen in den Wohngruppen A und B Patienten mit Diagnosen schwerer psychischer Erkrankungen, wie schizophrene und affektive Psychosen und hirnorganischen Psychosyndromen (vgl. Konzeption S. 5). Die Psychose ist, auch wenn sie in unterschiedlichen Verlaufsformen auftritt, eine der schwersten psychischen Erkrankungen. Es handelt sich um eine komplexe psychische Störung mit gestörtem Selbst- und Realitätsbezug, die durch Denk-, Wahrnehmungs- und motorische Störungen, abnorme Erlebnisse und Erfahrungen eines gesteigerten subjektiven Bedeutungsbewusstseins gekennzeichnet ist (Pschyrembel Psychiatrie - Klinische Psychologie - Psychotherapie S. 649). Symptome einer schizophrenen Psychose sind schwere Wahnvorstellungen und Halluzinationen (vgl. dazu detailliert Möller/Laux/Kapfhammer Psychiatrie und Psychotherapie 2. Aufl. S. 1066 ff.). Häufigste Todesursache ist der Suizid. Affektive Psychosen äußern sich zumeist in einem Wechsel zwischen schweren Depressionen mit Antriebsarmut bis zur völligen Lähmung jeder Aktivität und Wahngedanken einerseits sowie manischen Zuständen, in denen sich Hyperaktivität und völlige Überschätzung der eigenen Möglichkeiten sich bis zu wahnhaften Größenvorstellungen steigern (Springer Lexikon Medizin S. 1779 f.). Zu den Hauptsymptomen der hirnorganischen Psychosyndrome zählen die Demenz, das Delirium, die Amnesie und der Aufmerksamkeitsverlust (Springer Lexikon Medizin S. 1776 ff.). Ferner trifft man oft auf Sprachstörungen und Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Bewusstseinstrübung, Veränderungen der Psychomotorik und unwillkürliche Bewegungen. Zu den hirnorganischen Psychosyndromen zählt auch Chorea Huntington. Die im Heim der Beklagten aufgenommenen Chorea Huntington-Patienten sind in offenen Wohngruppen untergebracht, in denen auch der Kläger tätig ist. Nach dem Konzeptionspapier der Beklagten (S. 4) kommt es bei diesen Patienten nicht nur zu neurologischen Veränderungen, sondern auch zu schweren psychischen Symptomen wie Unruhe, Ängste, Schlafstörungen, Depressionen, Suizidalität, Affektlabilität, Aggressivität und zu schizophrenieähnlichen Wahnvorstellungen. Hinsichtlich dieser Patientengruppe stellt die Aufnahme in das psychiatrische Pflegeheim der Beklagten ein „landesweites Spezialangebot“ (Konzeption S. 4) dar.

39Die moderne Psychiatrie ist - wie auch die Konzeption der Beklagten und der Psychiatrieplan des Landes Mecklenburg-Vorpommern - ganzheitlich ausgerichtet und hat einen deutlich integrativen Charakter. Die frühere strenge Abtrennung bei der Behandlung psychisch Kranker in geschlossenen Abteilungen ist - insbesondere in der langfristigen Folge des grundlegenden Berichts zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (sog. Enquéte-Kommission Psychiatrie, BT-Drucks. 7/4200 vom ) - bewusst zugunsten eines flexibleren Systems der psychiatrischen Versorgung aufgegeben worden (Asanger/Wenninger Handwörterbuch Psychologie 1999 S. 574 ff. Stichwort: Psychiatrie; detailliert Schott/Tölle Geschichte der Psychiatrie, passim, insbes. S. 311 ff.). Die Einweisungen und die Anordnung der Unterbringung sind deutlich seltener geworden, weil derartige Erkrankungen differenzierter diagnostiziert und behandelt werden. Dementsprechend ist das Behandlungs- und Pflegeangebot differenzierter geworden.

40Ist daher der Begriff „der Psychiatrie“ deutlich weiter gefächert als früher und erstreckt er sich insbesondere weit über geschlossene psychiatrische Kliniken oder Abteilungen hinaus, ist davon auszugehen, dass die frühere Unterscheidung aufgehoben worden ist und sich in dem weiten Begriff der „Psychiatrie“ niederschlägt und deshalb durch eine einheitliche Eingruppierung der Pflegekräfte nachvollzogen worden ist.

III. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte als Unterlegene zu tragen (§ 91 Abs. 1 ZPO).

Fundstelle(n):
ZAAAE-23958