BAG Urteil v. - 6 AZR 251/21

Eingruppierung - AVR-Johanniter - Bereitschaftsdienst bei Hausnotruf

Instanzenzug: ArbG Erfurt Az: 7 Ca 2225/16 Urteilvorgehend Thüringer Landesarbeitsgericht Az: 6 Sa 292/18 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die zutreffende Eingruppierung des Klägers und über die Vergütung der sog. Hausnotruf-Bereitschaft (HNR-Bereitschaft).

2Der beklagte Verein gehört zum Johanniterorden und betreibt soziale Dienstleistungen. Er bietet ua. einen ganztägigen Hausnotrufdienst in Mittelthüringen an. Der Kläger war ausweislich des Arbeitsvertrags seit Februar 2013 bei dem Beklagten als „Fahrer BFD/HNR-Bereitschaft“ tätig. Im April 2014 nahm er an einem von der Johanniter-Akademie durchgeführten Seminar zum Thema „Einsatzkräfte im Hausnotruf der JUH“ teil. Dieses vermittelte ua. Kenntnisse in der Kundenbetreuung und in Lagerungstechniken.

3Auf das zwischenzeitlich beendete Arbeitsverhältnis fanden kraft einzelvertraglicher Bezugnahme die Arbeitsvertragsrichtlinien der Johanniter (im Folgenden AVR-J) in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. Die für den Rechtsstreit maßgeblichen Bestimmungen der AVR-J in der Fassung vom lauten auszugsweise:

4Die Anlage 1 zu den AVR-J lautet auszugsweise:

5Die Anlage 8b zu den AVR-J lautet auszugsweise:

6Den Mitarbeitern, die in der HNR-Bereitschaft des Beklagten eingesetzt sind, stehen ein Dienstmobiltelefon und ein Dienstwagen zur Verfügung. Sie haben die Vorgabe, spätestens 35 Minuten nach Beauftragung durch die den Notruf entgegennehmende Hausnotrufzentrale bei dem jeweiligen Notrufenden zu sein. Zuvor müssen sie dessen Wohnungs- bzw. Hausschlüssel von der Dienststelle des Beklagten in der Ettersburger Straße in Weimar abholen. Für die Schlüsselübernahme sind fünf Minuten anzusetzen. Die anschließende Fahrzeit von der Dienststelle zu den am weitest entfernt wohnenden potentiellen Notrufenden betrug während der Beschäftigung des Klägers ca. 30 Minuten, denn das Einzugsgebiet des Hausnotrufdienstes umfasste ua. Bad Berka und Blankenhain.

7Der Kläger wurde ein- bis zweimal im Monat zur HNR-Bereitschaft eingeteilt. Eine Bereitschaft dauerte jeweils von montags 09:00 Uhr bis montags 09:00 Uhr der Folgewoche.

8Bei einem Hausnotrufeinsatz oblag es dem Kläger, vor Ort die Situation des Notrufenden einzuschätzen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Hierzu gehörte zB aus dem Bett bzw. dem Rollstuhl gefallene Personen wieder ins Bett zu bringen oder in den Rollstuhl bzw. auf die Couch zu setzen, sie ggfs. zur Toilette zu führen und bei bestehender Inkontinenz auch zu waschen. Stellte der Kläger einen erhöhten medizinischen Bedarf fest, hatte er den Hausarzt oder in dringenden Fällen den Notarzt zu rufen und erforderlichenfalls Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten.

9Der Beklagte vergütete den Kläger nach Entgeltgruppe F AVR-J. Die einsatzlosen Zeiten der HNR-Bereitschaft behandelte er als Rufbereitschaft.

10Mit seiner Klage hat der Kläger für den Zeitraum von Januar bis einschließlich September 2016 unter Berücksichtigung seiner Teilzeitbeschäftigung die Entgeltdifferenz zwischen dem Grundentgelt nach Entgeltgruppe F AVR-J und dem der Entgeltgruppe 3 AVR-J sowie die Vergütungsdifferenz zwischen Rufbereitschafts- und Bereitschaftsdienstentgelt für die inaktiven Zeiten während der HNR-Bereitschaft geltend gemacht.

11Er hat die Auffassung vertreten, die ihm im Hausnotrufdienst übertragenen Aufgaben hätten den Voraussetzungen der Entgeltgruppe 3 AVR-J entsprochen und seine Gesamttätigkeit iSv. § 15 Abs. 2 AVR-J geprägt. Bei der von ihm geleisteten HNR-Bereitschaft habe es sich um Bereitschaftsdienst iSd. § 11g Abs. 1 AVR-J gehandelt. Die zeitliche Vorgabe des Beklagten, den Notrufenden innerhalb von 35 Minuten zu erreichen, habe zusammen mit der Verpflichtung, die jeweiligen Wohnungsschlüssel aus dem Schlüsselschrank in der Dienststelle zu holen, bei einer potentiell dreißigminütigen Fahrzeit faktisch zu einer Aufenthaltsbeschränkung geführt. Die inaktiven Zeiten seien deshalb als Bereitschaftsdienstzeiten einzuordnen und entsprechend zu vergüten.

12Der Kläger hat zusammengefasst beantragt,

13Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, der Kläger sei zutreffend als Mitarbeitender im Fahrdienst nach Entgeltgruppe F AVR-J vergütet worden. Zwar habe er eine Mischtätigkeit ausgeübt. Die Tätigkeit im Rahmen der HNR-Bereitschaft sei jedoch für seine Gesamttätigkeit nicht prägend gewesen. Der Kläger könne ferner nicht verlangen, für die inaktiven Zeiten der HNR-Bereitschaft ein Bereitschaftsdienstentgelt zu erhalten. Die HNR-Bereitschaft sei ohne Vorgabe eines Aufenthaltsortes und ausdrücklich als Rufbereitschaft angeordnet worden. Ein Anspruch des Klägers auf Bereitschaftsdienstvergütung ergebe sich auch nicht aus einer etwaig rechtswidrigen Anordnung von Rufbereitschaft, denn dies führte nicht zu einer Umwandlung des geleisteten Dienstes in Bereitschaftsdienst. Sollte es sich bei der HNR-Bereitschaft tatsächlich nicht um Rufbereitschaft gehandelt haben, seien diese Zeiten allenfalls als Arbeitsbereitschaft zu werten und deshalb bereits mit dem Tabellenentgelt abgegolten.

14Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Abweisungsantrag weiter.

Gründe

15Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für den geltend gemachten Zeitraum eine Vergütung nach Entgeltgruppe 3 AVR-J zusteht und die von ihm erbrachten HNR-Bereitschaften als Bereitschaftsdienstzeiten zu vergüten sind.

16I. Die zulässige Klage ist begründet.

171. Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum in Entgeltgruppe 3 AVR-J eingruppiert. Ihm steht deshalb die geltend gemachte und der Höhe nach unstreitige Entgeltdifferenz zwischen Entgeltgruppe F AVR-J und Entgeltgruppe 3 AVR-J zu.

18a) Die Vergütung des Klägers richtete sich unstreitig nach den arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Regelungen der AVR-J. Der Eingruppierungskatalog der Anlage 1 AVR-J sieht für die Tätigkeit eines Mitarbeiters im HNR-Einsatzdienst mit Betreuungsaufgaben eine Vergütung nach Entgeltgruppe 3 AVR-J vor. Dies folgt aus dem entsprechenden Richtbeispiel in Teil A der Entgeltgruppenregelung. Die Tätigkeit des Klägers entsprach den Anforderungen dieses Richtbeispiels.

19aa) Die Erfordernisse eines Tätigkeitsmerkmals einer Entgeltgruppe sind regelmäßig als erfüllt anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine dem in der Entgeltgruppe genannten Regel- oder Richtbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt (vgl. hierzu  - Rn. 44; - 6 AZR 284/15 - Rn. 25 mwN).

20bb) Dies ist vorliegend gegeben. Der Kläger übte eine dem in Teil A der Entgeltgruppe 3 AVR-J genannten Richtbeispiel „Mitarbeiterin im HNR-Einsatzdienst mit Betreuungsaufgaben“ entsprechende Tätigkeit aus. Das folgt aus der Auslegung der AVR-J.

21(1) Dabei kann unentschieden bleiben, ob es sich bei den für den Rechtsstreit maßgeblichen AVR-J um Arbeitsrechtsregelungen des Dritten Weges handelt (zweifelnd KGH.EKD - II-0124/U5-12 - Rn. 33 ff.; - I-0124/S67-10 - Rn. 49; vgl. auch  - Rn. 34 ff. mwN) und damit die für solche Regelungen geltenden Auslegungsmaßstäbe zur Anwendung kommen (vgl. hierzu  - Rn. 24) oder ob sich die Auslegung nach den für allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Maßgaben richtet (vgl. hierzu  - Rn. 17). Beide Auslegungswege führen zum selben Ergebnis.

22(2) Der Kläger war im HNR-Einsatzdienst beschäftigt und hatte dabei Betreuungsaufgaben zu erfüllen. Der Begriffsbestandteil „Betreuung“ in dem Richtbeispiel bedeutet „Fürsorge“, „Pflege“, „Versorgung“ (Duden Das Bedeutungswörterbuch 5. Aufl. Stichwort „Betreuung“). Bei den vom Kläger im Rahmen der HNR-Bereitschaft unstreitig wahrgenommenen Aufgaben wie zB aus dem Bett oder dem Rollstuhl gefallenen Notrufenden aufzuhelfen, sie zurückzubetten bzw. in den Rollstuhl oder auf eine andere Sitzgelegenheit zu setzen, mit ihnen auf die Toilette zu gehen und sie bei Inkontinenz auch zu waschen, handelt es sich um Maßnahmen mit eindeutig versorgendem Charakter. Diese Verrichtungen dienen der Hilfeleistung und gehen erkennbar über das bloße Einschätzen der vorgefundenen Situation, also ob bspw. ein Arzt bzw. der Rettungsdienst zu benachrichtigen ist oder Hilfsmittel zu besorgen sind, hinaus. Dabei ist unerheblich, dass es sich nicht um jeweils länger andauernde Pflegetätigkeiten, sondern um eher kurzzeitige Hilfestellungen handelt, da Letzteres in der Natur von Hausnotruf-Einsätzen liegt.

23(3) Dieses Verständnis entspricht auch dem Gesamtzusammenhang der Eingruppierungsregelungen. Die AVR-J enthalten ein ausdifferenziertes Eingruppierungssystem für Tätigkeiten im Bereich des Hausnotrufs. Die Entgeltgruppen 2 und 3 der Anlage 1 AVR-J sowie § 2 Abs. 1 und Abs. 2 der Anlage 8b AVR-J weisen diesbezügliche Tätigkeitsmerkmale und Richtbeispiele mit unterschiedlichen Inhalten aus.

24(a) Entgegen der Annahme der Revision unterfällt der vom Kläger geleistete Hausnotrufdienst nicht der Spezialregelung in § 2 Abs. 1 der Anlage 8b AVR-J und war folglich nicht nach Entgeltgruppe F AVR-J zu vergüten. § 2 Abs. 1 der Anlage 8b AVR-J erfasst nur die reine Fahrtätigkeit im Hausnotrufdienst. Gemäß § 2 Abs. 2 AVR-J gilt die Regelung demgegenüber nicht für Mitarbeitende, für deren Tätigkeit eine bestimmte Qualifikation vorausgesetzt wird, zB als Einsatzkraft im Hausnotrufdienst. Eine solche Tätigkeit unterfällt vielmehr dem allgemeinen Eingruppierungskatalog der Anlage 1 AVR-J. Dies betrifft auch den Kläger, denn seine Tätigkeit als Einsatzkraft im Hausnotrufdienst setzte bzgl. der Betreuung der Kunden des Notrufdienstes eine weitere Qualifikation voraus. Dies ergibt sich schon aus der notfallbezogenen Aufgabenstellung und wird zudem dadurch belegt, dass das Bildungsinstitut der Johanniter ein auch vom Kläger besuchtes Seminar zum Thema „Einsatzkräfte im Hausnotruf der JUH“ angeboten hat, welches sich ua. mit den Themen Kundenbetreuung und Lagerungstechniken befasst.

25(b) Die Anlage 1 AVR-J unterscheidet ausdrücklich zwischen technischen Hilfskräften im HNR-Bereich, die ausweislich des entsprechenden Richtbeispiels der Entgeltgruppe 2 AVR-J zugeordnet sind, und - wie dargelegt - den nach Entgeltgruppe 3 AVR-J zu vergütenden Mitarbeitern im HNR-Einsatzdienst mit Betreuungsaufgaben. Hierdurch wird klar zum Ausdruck gebracht, dass im HNR-Einsatzdienst tätige Mitarbeiter, die nicht im technischen Bereich eingesetzt sind, sondern Betreuungsaufgaben wahrnehmen, nach Entgeltgruppe 3 AVR-J zu vergüten sein sollen, weil diese Tätigkeit als höherwertig eingeschätzt wird.

26b) Einer Eingruppierung des Klägers in die Entgeltgruppe 3 AVR-J steht nicht entgegen, dass er außerhalb des Hausnotrufdienstes als Fahrer eingesetzt war. Die Tätigkeit des Klägers in der HNR-Bereitschaft war unverzichtbarer Bestandteil des ihm im Arbeitsvertrag übertragenen Arbeitsauftrags und gab daher seiner Tätigkeit das Gepräge iSv. § 15 Abs. 2 Satz 2 AVR-J.

27aa) Nach dem Wortlaut des § 15 Abs. 2 AVR-J ist das „Gepräge“ erst heranzuziehen, wenn mehrere Tätigkeitsmerkmale erfüllt sind und festzustellen ist, welches der - erfüllten - Tätigkeitsmerkmale bzw. der zugrundeliegenden Teiltätigkeiten der gesamten Tätigkeit (dem „Arbeitsauftrag“) das Gepräge gibt (so zu § 12 Abs. 2 AVR DWM  - Rn. 25). Zur Beurteilung des Gepräges kann die zu Eingruppierungsordnungen des öffentlichen Dienstes ergangene und damit auf den Arbeitsvorgang bezogene Rechtsprechung nicht herangezogen werden (aA zu § 12 Abs. 2 AVR DD Joussen/Steuernagel/Steuernagel AVR.DD § 12 Rn. 9). Nach den Eingruppierungsgrundsätzen der AVR-J erfolgt keine Aufspaltung der Gesamttätigkeit in einzelne Arbeitsvorgänge. Die überwiegend auszuübende Tätigkeit ist nicht ausschlaggebend. Darum kommt es dafür, ob Tätigkeiten das für die Eingruppierung erforderliche Gepräge aufweisen, auch nicht auf das zeitliche Ausmaß der Tätigkeit, sondern gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 AVR-J allein darauf an, dass die Tätigkeit unverzichtbarer Bestandteil des Arbeitsauftrags ist. Tätigkeiten, die nur einen geringen Anteil der Gesamttätigkeit ausmachen und ihr deshalb nicht das Gepräge geben können, sind allerdings außer Acht zu lassen (vgl. zu § 12 Abs. 2 AVR-DW EKD bzw. AVR-DD  - Rn. 44 mwN).

28bb) Nach § 3 des Arbeitsvertrags setzte sich die dem Kläger übertragene Arbeitsaufgabe aus der Beschäftigung als „Fahrer BFD“ und dem Einsatz in der HNR-Bereitschaft zusammen. Damit gehörte die Tätigkeit „HNR-Bereitschaft“ zu seinem Arbeitsauftrag. Sie kann bezogen auf die ihm übertragene Aufgabe in ihrer Gesamtheit nicht hinweggedacht werden und war deshalb ihr unverzichtbarer Bestandteil iSd. § 15 Abs. 2 Satz 2 AVR-J. Etwas anderes folgt entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht daraus, dass die HNR-Bereitschaft nicht in Form von Vollarbeit, sondern als Bereitschaft geleistet wurde, in die inaktive Zeiten fielen. Für die Zuordnung zu einer Entgeltgruppe kommt es nicht darauf an, in welchem Ausmaß der Kläger aufgrund ausgelöster Notrufe zu aktiven Einsätzen herangezogen wurde. Dies hätte sonst zur Folge, dass die Eingruppierung nicht von der inhaltlichen Wertigkeit der übertragenen Tätigkeit, sondern von unkalkulierbaren und ggf. wechselnden äußeren Umständen abhinge. Daher ist nur bedeutsam, ob der Umfang der Einteilung zur HNR-Bereitschaft so gering war, dass er nicht prägend sein konnte. Dies trifft hier nicht zu. Der Kläger war in der Regel ein- bis zweimal im Monat für je sieben Schichten zu 24 Stunden, mithin 168 Stunden bzw. 336 Stunden pro Monat zur HNR-Bereitschaft eingeteilt. Damit hat die HNR-Bereitschaft nicht nur einen zu vernachlässigenden Anteil an der Gesamttätigkeit des Klägers eingenommen.

292. Dem Kläger steht für die in der Zeit vom bis zum geleisteten HNR-Bereitschaften ein Anspruch auf Bereitschaftsdienstentgelt in rechnerisch unstreitiger Höhe nach § 11g Abs. 5 Satz 1 AVR-J zu. Der Beklagte hat in diesem Zeitraum konkludent Bereitschaftsdienst iSv. § 11g Abs. 1 Satz 1 AVR-J angeordnet. Ein Freizeitausgleich kommt schon wegen der zwischenzeitlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr in Betracht. Die vom Kläger geleisteten Dienste sind daher als Bereitschaftsdienste zu vergüten.

30a) § 11g Abs. 1 Satz 1 und Abs. 8 Satz 1 AVR-J definieren die Begriffe Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft abschließend. Danach ist mit der Leistung von Bereitschaftsdienst eine Aufenthaltsbeschränkung verbunden sowie die Verpflichtung, bei Bedarf sofort tätig zu werden. Bei Rufbereitschaft muss der Mitarbeiter hingegen nur seinen frei bestimmbaren Aufenthaltsort anzeigen, um auf Abruf die Arbeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums aufzunehmen. Der Mitarbeiter hat somit bei Rufbereitschaft die Möglichkeit, sich in dieser Zeit auch um persönliche und familiäre Angelegenheiten zu kümmern, an sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen oder sich mit Freunden zu treffen. Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst unterscheiden sich letztlich dadurch, dass der Dienstgeber beim Bereitschaftsdienst den Aufenthaltsort des Mitarbeiters bestimmt, wohingegen dieser vom Mitarbeiter bei der Rufbereitschaft grundsätzlich selbst gewählt werden kann. Ob Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft im Sinne der AVR-J vorliegt, hängt danach allein vom Umfang der vom Dienstgeber angeordneten Aufenthaltsbeschränkungen ab. Diese können auch konkludent erfolgen, etwa dadurch, dass der Dienstgeber die Zeit zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme genau vorgibt und die Zeitspanne dabei so kurz bemisst, dass diese einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkommt. In einem solchen Fall ersetzt der Dienstgeber die örtliche Beschränkung lediglich durch den Faktor Zeit und ordnet dadurch konkludent Bereitschaftsdienst an. Wann die (mittelbaren) Einschränkungen hinsichtlich der freien Wahl des Aufenthaltsortes so stark sind, dass sie faktisch einer Bestimmung des Aufenthaltsortes durch den Dienstgeber iSv. § 11g Abs. 1 Satz 1 AVR-J gleichkommen und damit eine Anordnung von Bereitschaftsdienst darstellen, ist eine Frage des Einzelfalls (zu § 7 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 TV-Ärzte/TdL siehe  - Rn. 12 ff. mwN).

31b) Danach handelte es sich entgegen der Auffassung des Beklagten bei der vom Kläger geleisteten HNR-Bereitschaft um Bereitschaftsdienst iSd. § 11g Abs. 1 Satz 1 AVR-J. Der Beklagte hat den Aufenthaltsort des Klägers zwar nicht ausdrücklich festgelegt. Die mit der Anordnung von HNR-Bereitschaft verbundenen Einschränkungen erreichten aber ein Ausmaß, das einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkam.

32aa) Vor dem Hintergrund, dass die Fahrzeiten von der Dienststelle zu den am weitest entfernt gelegenen Einsatzorten Bad Berka und Blankenhain ca. 30 Minuten betrugen, war der Kläger wegen der Vorgabe, spätestens 35 Minuten nach Auftragserteilung beim Notrufenden eintreffen zu müssen, gezwungen, sich während der jeweils einwöchigen HNR-Bereitschaft in unmittelbarer Nähe zur Dienststelle aufzuhalten, um den angeordneten Zeitrahmen einhalten zu können. Dies folgt daraus, dass er in jedem Fall zunächst die in der Dienststelle verwahrten Schlüssel zu holen hatte und allein dieser Vorgang ca. fünf Minuten in Anspruch nahm. Da der Kläger - wie alle in der HNR-Bereitschaft eingesetzten Mitarbeiter - stets mit der maximalen Fahrtzeit zu rechnen hatte, war es ihm nicht möglich, persönliche Aktivitäten zu planen und durchzuführen, die mehr als wenige Minuten von seiner Dienststelle entfernt stattfanden. Diese Begrenzung in der Wahl seines Aufenthaltsortes hat den Kläger in seiner Freizeitgestaltung in einem Maß einschränkt, das eine Einordnung der HNR-Bereitschaft, so wie sie vom Beklagten organisiert ist bzw. war, als Rufbereitschaft iSv. § 11g Abs. 8 Satz 1 AVR-J nicht zulässt. Dem steht nicht entgegen, dass - wie der Beklagte meint - nach § 4 der Dienstvereinbarung zur Neuordnung für Mitarbeiter im Hausnotruf und/oder Organtransport vom die Zeit zwischen den Einsätzen als Rufbereitschaft gelten soll. Für die Einordnung der HNR-Bereitschaft kommt es auf die vom Dienstgeber und der Mitarbeitervertretung gewählte Bezeichnung nicht an. Maßgeblich ist allein die organisatorische Ausgestaltung des Dienstes.

33bb) Der Anspruch des Klägers scheitert entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht daran, dass dieser durch die zeitliche Vorgabe von 35 Minuten zwischen Auftragserteilung und Eintreffen beim Kunden richtlinienwidrig Rufbereitschaft angeordnet habe, die sich nach der Rechtsprechung des Senats nicht automatisch in Bereitschaftsdienst umwandele. Soweit er sich zur Begründung seiner Auffassung auf die Entscheidung des Senats vom (- 6 AZR 214/00 -) beruft und diese in seinem Sinne verstanden werden könnte, hält der Senat hieran nicht fest. Die Ansicht des Beklagten findet auch keine Stütze in der Entscheidung des Senats vom (- 6 AZR 264/20 - Rn. 22 ff.). Anders als bei den HNR-Bereitschaften im vorliegenden Verfahren handelte es sich bei den dort angeordneten Hintergrunddiensten tatsächlich um Rufbereitschaft. Die mit den Anordnungen des Arbeitgebers verbundenen Einschränkungen hatten kein Ausmaß erreicht, das einer Aufenthaltsbeschränkung gleichgekommen wäre und damit nach den maßgeblichen Tarifnormen Bereitschaftsdienst dargestellt hätte. Allerdings hätte der Arbeitgeber nach den tariflichen Vorgaben diese Rufbereitschaft nicht anordnen dürfen, weil nicht lediglich im Ausnahmefall Arbeit angefallen war. Für diese Fallkonstellation weisen die dort maßgeblichen Tarifnormen eine bewusste und damit von den Gerichten nicht zu schließende Tariflücke hinsichtlich der Vergütung von tarifwidrig angeordneten Rufbereitschaften auf. Ein solcher Sachverhalt liegt dem vorliegenden Verfahren gerade nicht zugrunde, weil es sich hier tatsächlich um Bereitschaftsdienst handelt. Insoweit fehlt es auch nicht an einer Ausgleichs- bzw. Vergütungsregelung für die nach den Bestimmungen der AVR-J als Bereitschaftsdienst einzuordnende HNR-Bereitschaft.

34cc) Der Beklagte kann sich schließlich nicht darauf berufen, die HNR-Bereitschaft sei, sofern sie nicht Rufbereitschaft darstelle, allenfalls bereits mit dem Tabellenentgelt abgegoltene Arbeitsbereitschaft.

35(1) In Ermangelung einer Definition in den AVR-J ist Arbeitsbereitschaft nach dem herkömmlichen Verständnis als Zeit wacher Aufmerksamkeit im Zustand der Entspannung zu verstehen (vgl.  - Rn. 19). Entscheidend für die Abgrenzung der Arbeitsbereitschaft zum Bereitschaftsdienst - und insoweit auch zur Rufbereitschaft - ist dabei, dass sich der Arbeitnehmer bei der Arbeitsbereitschaft zur Arbeit bereithalten muss, um erforderlichenfalls von sich aus tätig zu werden, während er bei den anderen Formen der Bereitschaft auf „Anforderung“ den Dienst aufnehmen muss (vgl.  - Rn. 35; - 5 AZR 918/11 - aaO).

36(2) Die Voraussetzungen der Arbeitsbereitschaft liegen hier nicht vor. Der Kläger musste bei den HNR-Bereitschaften seine Arbeit nicht von sich aus aufnehmen, sondern erst auf Anforderung durch die Hausnotrufzentrale tätig werden. Dass er sich aufgrund der Organisation und des Charakters der HNR-Bereitschaft durchgehend, und damit 168 Stunden je zugeteilter Bereitschaft, im Zustand „wacher Aufmerksamkeit“ halten musste, hat der Beklagte selbst nicht behauptet. Der Beklagte kann sich zur Begründung seines Rechtsstandpunkts auch nicht auf die Tätigkeit von Rettungssanitätern stützen. Die Gestaltung der Arbeitsabläufe und die damit verbundenen Arbeitsformen in diesem Bereich unterscheiden sich - auch vor dem Hintergrund verschiedenartiger arbeitszeit- und vergütungsrechtlicher Regelungssysteme - vollständig von den beim Beklagten zu leistenden HNR-Bereitschaften und sind daher nicht vergleichbar.

37II. Der Beklagte hat die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:240222.U.6AZR251.21.0

Fundstelle(n):
PAAAI-62848