BFH Beschluss v. - VI B 118/04 BStBl 2007 II S. 538

Unzulässige Ablehnung eines hinreichend substantiierten Beweisantrags

Leitsatz

1. Eine Beweisaufnahme zu einem streitigen Vorbringen darf nicht abgelehnt werden, wenn der dem Beweisantrag zugrundeliegende Tatsachenvortrag konkret genug ist, um die Erheblichkeit des Vorbringens beurteilen zu können.

2. Ein Beweisantrag des Inhalts, ein Arbeitnehmer habe den „Mittelpunkt seiner Lebensinteressen” i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG an einem bestimmten Ort innegehabt, ist hinreichend substantiiert und bestimmt. Eine Pflicht, die den Begriff des Lebensmittelpunkts prägenden Einzeltatsachen zusätzlich zu benennen und unter Beweis zu stellen, besteht regelmäßig nicht.

3. Begründet ein FG im angefochtenen Urteil, weshalb es von der Erhebung eines beantragten Beweises abgesehen hat, so genügt für eine ordnungsgemäße Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht regelmäßig der Vortrag, das FG sei dem Beweisantritt nicht gefolgt.

Gesetze: FGO § 96 Abs. 1FGO § 76 Abs. 1 Sätze 1 und 5FGO § 81 Abs. 1 Satz 2FGO § 82FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3FGO § 155ZPO § 295ZPO § 373ZPO § 377 Abs. 2 Nr. 2EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 6

Instanzenzug:

Gründe

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG). Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

1. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) begehrte mit ihrer Klage den Ansatz der Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des EinkommensteuergesetzesEStG—) für die Wege von ihrem (Sommer-)Wohnsitz in X zu ihrer Arbeitsstätte in B für fünf Monate (Mai bis September 2002). Das FG hat die Klage abgewiesen. Es vertrat hierbei die Auffassung, der Lebensmittelpunkt der Klägerin i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 7 EStG (in der im Streitjahr 2002 geltenden Fassung) habe sich in der maßgeblichen Zeit nicht in X, sondern weiterhin in der Wohnung der Klägerin in B befunden. Seine Überzeugungsbildung hat das FG auf verschiedene Umstände gestützt (u.a. Stromverbrauch, Umfang der PKW-Nutzung, Lichtbilder, etc.).

2. Wie die Klägerin zutreffend rügt, hat das FG seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt.

a) Wie sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergibt, hatte die Klägerin beantragt, zwei Zeugen (davon den Zeugen M mit ladungsfähiger Anschrift) darüber zu vernehmen, dass die Klägerin in dem genannten Zeitraum ihren Lebensmittelpunkt (ausschließlich) in X gehabt habe. Diesem Beweisantrag ist das FG —da vermeintlich unsubstantiiert— nicht nachgekommen.

b) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Das Gericht ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in dem Sinne, dass das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten sind (u.a. Bundesfinanzhof —, BFH/NV 2005, 1496; Urteil vom III R 59/83, BFH/NV 1989, 38). Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will (vgl. auch , BFH/NV 2006, 780). Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (ständige Rechtsprechung; z.B. , BFH/NV 2006, 753; vom V R 38/99, BFH/NV 2001, 181; Beschluss vom XI B 58/02, BFH/NV 2003, 787; Urteil vom IX R 101/90, BFHE 174, 301, BStBl II 1994, 660). Ferner ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (z.B. BFH-Beschlüsse vom IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117; vom XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132; vom X B 66/04, BFH/NV 2005, 1339; Urteil vom VII R 135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841; Gräber/ Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 76 Rz 29).

c) Entgegen der Auffassung des FG war der Beweisantritt der Klägerin hinreichend substantiiert bzw. bestimmt.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die Ablehnung eines für eine beweiserhebliche Tatsache angetretenen Zeugenbeweises nur dann zulässig ist, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder wenn sie zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, aber aufs Geratewohl gemacht, gleichsam „ins Blaue hinein” aufgestellt, mit anderen Worten, aus der Luft gegriffen ist und sich deshalb als Rechtsmissbrauch darstellt (vgl. Bundesgerichtshof —, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 2005, 2710; , BVerfGK 1, 111; Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 29, m.w.N.). Zur Substantiierung wurde in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wiederholt entschieden, dass der Vortrag von Tatsachen ausreichend ist, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, die daraus abgeleiteten Rechtsfolgen zu tragen. Der Pflicht zur Substantiierung ist nur dann nicht genügt, wenn das Gericht auf Grund der Darstellung nicht beurteilen kann, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolgen erfüllt sind (, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2005, 1782, m.w.N.). Dabei ist die Angabe näherer Einzelheiten grundsätzlich nicht nötig (vgl. , NJW 1992, 1967, 1968). Diese zu den Vorschriften der §§ 373, 377 Abs. 2 Nr. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) entwickelten Grundsätze sind auch für das finanzgerichtliche Verfahren maßgebend (vgl. § 82 FGO).

d) Das FG hat im Streitfall nicht beachtet, dass der —ursprünglich von der Rechtsprechung geschaffene und seit 1990 in das Gesetz in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 3 EStG übernommene— Begriff des (örtlichen) „Mittelpunkts der Lebensinteressen” nicht nur einen Rechtsbegriff, sondern auch eine beweisfähige Tatsachenbehauptung darstellt. Dem steht nicht entgegen, dass die Entscheidung über den Lebensmittelpunkt eine tatrichterliche Würdigung aller Umstände des Einzelfalles erfordert (z.B. , BFHE 204, 189, BStBl II 2004, 233) bzw. sich diese Tatsache aus einer Zusammenschau mehrerer Einzeltatsachen ergibt (u.a. Verhältnisse des Steuerpflichtigen, Art und Intensität der sozialen Kontakte, Vereinszugehörigkeiten und andere Aktivitäten; zu den Einzeltatsachen vgl. von Bornhaupt in Festschrift für Offerhaus, S. 419 ff., 428; derselbe in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 9 Rz F 150 ff.; Wagner in Heuermann/Wagner, LSt, F 193 ff., insbes. 198; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 9 EStG Rz 462, jeweils mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen; ausführlich hierzu bereits: , BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221; zuletzt Beschluss vom VI B 161/00, BFH/NV 2003, 793). Angesichts dieser seit vielen Jahren bekannten Sach- und Rechtslage würde eine Pflicht zur Angabe aller dieser Einzeltatsachen eine überspitzte Anforderung an die Zulässigkeit des Beweisantrags darstellen. Die Angabe der Klägerin war mithin konkret genug, um dem Gericht eine Grundlage für seine Beweiserhebung zu geben bzw. den „Gegenstand der Vernehmung” (§ 377 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) zureichend zu bestimmen (siehe auch , BFH/NV 1996, 757; Oberlandesgericht —OLG— München, Urteil vom 23 U 4502/99, Monatsschrift für Deutsches Recht —MDR— 2000, 1096 mit Anm. Schneider, MDR 2000, 1395; , NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht —NJW-RR— 1999, 1155).

e) Der von der Klägerin gestellte Beweisantrag war auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das FG bei ordnungsgemäßer Behandlung des Beweisantrags zu einem anderen Ergebnis in der Sache gelangt wäre.

3. Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass der Mittelpunkt der Lebensführung eines Steuerpflichtigen auch zeitlich begrenzt sein kann (vgl. zur Frage des Wechsels des Lebensmittelpunktes: von Bornhaupt in Festschrift Offerhaus, S. 419 ff., 428; Schmidt/Drenseck, EStG, 25. Aufl., § 9 Rz 115 a.E.; vgl. auch , BHE 127, 6, BStBl II 1979, 335; vom VI R 168/84, BFHE 144, 449, BStBl II 1986, 95 mit Anm. in Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 1986, 51, 52 - zur Möglichkeit des Bestehens von zwei zeitlich nacheinander liegenden Mittelpunkten der Lebensinteressen eines Steuerpflichtigen während eines Veranlagungszeitraums).

4. Entgegen der Auffassung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt) hat die Klägerin ihr Rügerecht nicht verloren. Begründet —wie hier— ein FG im angefochtenen Urteil, weshalb es von der Erhebung eines beantragten Beweises abgesehen hat, genügt für eine ordnungsgemäße Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht der Vortrag, das FG sei dem Beweisantritt nicht gefolgt (vgl. BFH-Beschlüsse vom VIII B 81/05, BFH/NV 2006, 2297; vom V B 205/02, BFH/NV 2004, 964, jeweils m.w.N.; Urteil in BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841, 842).

5. Der Senat hält es für angezeigt, im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Er hebt deshalb das Urteil der Vorinstanz auf und verweist die Sache an das FG zurück, damit dieses die erforderlichen Feststellungen nachholen kann.

Fundstelle(n):
BStBl 2007 II Seite 538
AO-StB 2007 S. 117 Nr. 5
BB 2007 S. 1040 Nr. 19
BB 2007 S. 762 Nr. 14
BStBl II 2007 S. 538 Nr. 11
DB 2007 S. 727 Nr. 13
DStRE 2007 S. 615 Nr. 10
DStZ 2007 S. 265 Nr. 9
GStB 2007 S. 17 Nr. 5
HFR 2007 S. 676 Nr. 7
INF 2007 S. 288 Nr. 8
NJW 2007 S. 1615 Nr. 22
NWB-Eilnachricht Nr. 13/2007 S. 1033
SJ 2007 S. 9 Nr. 10
StB 2007 S. 166 Nr. 5
StBW 2007 S. 5 Nr. 7
StuB-Bilanzreport Nr. 2/2008 S. 78
MAAAC-40371