BGH Urteil v. - 4 StR 85/03

Leitsatz

[1] Zur Befugnis, über Teile einer Revision ausnahmsweise vorab zu entscheiden, wenn dies wegen des Beschleunigungsgrundsatzes geboten ist.

Gesetze: StPO § 353; StPO § 354

Instanzenzug: LG Essen vom

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in 75 Fällen, versuchten Betruges und gewerbsmäßiger Hehlerei unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer rechtskräftigen Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf von zwei Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, soweit es sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet; im übrigen bleibt die Entscheidung über die Revision des Angeklagten einer abschließenden Entscheidung des Senats vorbehalten.

1. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom im einzelnen ausgeführt hat, ist die Revision des Angeklagten zum Schuldspruch und Strafausspruch unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO; zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierauf Bezug genommen. Die vom Verteidiger in der Revisionshauptverhandlung geltend gemachten Widersprüche zwischen den Urteilsfeststellungen und den unter Beweis gestellten Tatsachen (Verfahrensrügen II und III der Revisionsbegründung) bestehen nicht.

2. Nach Auffassung des Senats kann die Maßregelanordnung jedoch nicht bestehen bleiben, weil entgegen der Meinung des Landgerichts allein die Benutzung eines Kraftfahrzeugs zur Begehung der Betrugstaten die charakterliche Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen noch nicht belegt. Der Senat ist vielmehr - anders als es in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Teil vertreten wird - der Ansicht, daß sich die (charakterliche) Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur dann aus der Tat ergibt (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StGB), wenn aus dieser konkrete Anhaltspunkte dafür zu erkennen sind, daß der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen. Zwischen Tat und Verkehrssicherheit muß somit ein "spezifischer Zusammenhang" bestehen. Dazu verhält sich das angefochtene Urteil jedoch nicht.

Mit Beschluß vom (= NStZ 2004, 86) hat der Senat bei den anderen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 GVG angefragt, ob an entgegenstehender Rechtsprechung zu dem oben aufgestellten Rechtssatz festgehalten wird. Das Anfrageverfahren hat sich bis zum Juni 2004 hingezogen; die Stellungnahme des 1. Strafsenats vom ist erst am beim Senat eingegangen.

Während der 3. und der 5. Strafsenat dem in dem Anfragebeschluß formulierten Rechtssatz (NStZ 2004, 86) zugestimmt bzw. nicht widersprochen haben, hält der 2. Strafsenat eine Befassung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs mit den aufgeworfenen Rechtsfragen für "wünschenswert". In seinem Urteil vom - 2 StR 161/03 - (= NStZ 2004, 144) hat er allerdings die gleiche Rechtsauffassung wie der erkennende Senat vertreten (vgl. hierzu Herzog StV 2004, 151, 152; Sowada NStZ 2004, 169, 170). Da der 1. Strafsenat entgegenstehende Rechtsprechung nicht aufgeben will, muß - unabhängig von der Stellungnahme des 2. Strafsenats - eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen herbeigeführt werden. Wann diese ergehen wird, ist nicht absehbar.

3. Im Hinblick darauf, daß deshalb über die Begründetheit der Revision, soweit sie die Maßregelanordnung betrifft, voraussichtlich in absehbarer Zeit nicht entschieden werden kann, hält der Senat eine Entscheidung über das Rechtsmittel zum bereits "entscheidungsreifen" Teil, nämlich dem Schuldspruch und dem Strafausspruch des angefochtenen Urteils, für zulässig und geboten.

a) Allerdings kennt die Strafprozeßordnung - anders als andere Verfahrensordnungen (vgl. etwa die §§ 301, 303, 304 ZPO) - grundsätzlich keine Teil- oder Zwischenurteile, durch die einzelne, denselben Prozeßgegenstand betreffende Fragen vorab entschieden oder einzelne Rechtsfolgen gesondert abgeurteilt werden (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 260 Rdn. 14 ff.). Regelmäßig muß im Strafverfahren eine einheitliche, abschließende Entscheidung ergehen, durch die der Prozeßstoff erschöpfend erledigt wird. Dem strafprozessualen Rechtsmittelrecht ist allerdings eine Teilerledigung nicht völlig fremd (vgl. Grünwald, Die Teilrechtskraft im Strafverfahren 1964 S. 9 ff.). Eine Teilerledigung, die zur Herbeiführung von Teilrechtskraft führt, ist jedoch nur zulässig, wenn der rechtskräftige ebenso wie der nichtrechtskräftige Urteilsteil von dem übrigen Urteilsinhalt losgelöst, selbständig geprüft und rechtlich beurteilt werden kann (vgl. Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 353 Rdn. 5). Das ist im Hinblick auf das angefochtene Urteil der Fall; denn der Schuldspruch und der Strafausspruch lassen sich unabhängig von der Maßregelanordnung und diese läßt sich unabhängig vom Schuldspruch und von der Strafzumessung beurteilen (vgl. hierzu BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 6, 7). Wäre der Senat nicht gehalten gewesen, das Anfrageverfahren gemäß § 132 GVG durchzuführen, so hätte er die Revision zum Schuldspruch und zum Strafausspruch verworfen und hinsichtlich der Maßregelanordnung das Urteil aufgehoben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (vgl. den Anfragebeschluß Ziff. IV 2 a = NStZ 2004, 88 f. [weitere Aufklärung ist erforderlich]).

b) Der Senat verkennt nicht, daß eine Teilentscheidung, wie er sie hier vornimmt, nur ausnahmsweise zulässig sein kann; denn auch wenn durch die Revisionsentscheidung die Teilrechtskraft eines angefochtenen Urteils herbeigeführt werden kann, so entscheidet doch das Revisionsgericht - wie der Tatrichter - regelmäßig durch eine einheitliche Entscheidung (§§ 353, 354 StPO).

aa) Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat allerdings eine "vertikale", sich auf selbständige Taten eines vollumfänglich angefochtenen einheitlichen Urteils beziehende Teilentscheidung im Revisionsverfahren für zulässig erachtet, um "eine erhebliche, unvorhersehbar lange Verzögerung" bei Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag) für den entscheidungsreifen Teil des angefochtenen Urteils zu vermeiden (Beschluß vom - 5 StR 226/99 = wistra 2000, 219, 226 f.). Er hat dies damit begründet, daß zwar die Aufspaltung des bisher einheitlichen Verfahrens zu einer erhöhten zeitlichen Beanspruchung der Gerichte und der Beteiligten führen könne, verfahrensökonomische Gesichtspunkte eine erhebliche, unvorhersehbar lange Verzögerung des Prozesses hinsichtlich der übrigen Verfahrensteile aber nicht rechtfertigen könnten. Dies gelte umso mehr, als das Schwergewicht der Taten, wegen derer der Angeklagte verurteilt worden sei, von dem Vorabentscheidungsverfahren nicht betroffen sei. Insbesondere gebiete die sich aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ergebende Pflicht zur Beschleunigung des Verfahrens die vorgenommene Abtrennung der Verfahrensteile, die von der im Vorabentscheidungsverfahren zu klärenden Rechtsfrage betroffen seien, von den Verfahrensteilen, die bereits entscheidungsreif seien. Über den entscheidungsreifen Teil hat der 5. Strafsenat dann gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO entschieden.

bb) Die vom 5. Strafsenat genannten Gründe lassen nach Auffassung des Senats auch eine "horizontale", d.h. denselben Prozeßgegenstand betreffende Teilentscheidung des Revisionsgerichts jedenfalls dann zu, wenn - wie hier - schwerwiegende Interessen des Revisionsführers ein Abweichen von der gesetzlichen Regel gebieten: Der Angeklagte befindet sich in Haft. Das angefochtene Urteil wurde am - also vor einem Jahr und neun Monaten - verkündet; das Verfahren ist seit dem beim Bundesgerichtshof anhängig. Durch das Anfrageverfahren gemäß § 132 GVG - auf dessen zeitlichen Ablauf der Senat nur beschränkten Einfluß hat - hat sich die Entscheidung über die Revision des Angeklagten schon jetzt um mehr als ein Jahr verzögert. Diese Verzögerung kann - etwa bei der Frage von Vollzugserleichterungen (§§ 10 ff. StVollzG) oder der Strafaussetzung (§ 57 StGB) - erhebliche Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen. Zwar liegt keine prozeßordnungswidrige, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vor, wenn im Rahmen des Revisionsverfahrens ein zeitaufwendiges Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG durchgeführt werden muß (vgl. hierzu BGH NStZ 2001, 106 f.); im Hinblick auf das verfassungsrechtliche (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich normierte Gebot angemessener Beschleunigung des Strafverfahrens (vgl. BVerfGE 63, 45, 69; BVerfG NStZ 2004, 335 ff. m. Anm. Foth; ; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13, 17 m.w.N.) hält es der Senat jedoch für nicht vertretbar, das Verfahren, obwohl es zum - für den Angeklagten im Vordergrund seines Rechtsmittels stehenden - Schuldspruch und Strafausspruch entscheidungsreif ist, bis zum Abschluß des Vorlageverfahrens insgesamt nicht weiter zu betreiben. Er entscheidet daher über den Schuldspruch und den Strafausspruch vorab und wird eine Entscheidung über die Maßregelanordnung treffen, sobald das Vorlageverfahren abgeschlossen ist.

Fundstelle(n):
UAAAC-06798

1Nachschlagewerk: ja