Pflegekindschaftsverhältnis zu volljährigem Kind
Leitsatz
Ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einem bereits volljährigen Kind kann nur unter besonderen Umständen angenommen werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Kind nicht schon längere Zeit vor der Volljährigkeit in den Haushalt aufgenommen worden ist.
Das für ein Pflegekindschaftsverhältnis erforderliche familienähnliche Band mit einem bereits Volljährigen ist nur bei Hilflosigkeit oder Behinderung des Vollj ährigen oder bei Vorliegen sonstiger besonderer Umstände anzunehmen.
Gesetze: EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die im Jahr 1981 geborene C ist die Nichte und das Patenkind der Ehefrau des Klägers und Revisionsklägers (Kläger). Die leiblichen Eltern von C ließen sich im Jahr 1983 scheiden. Bis zum Tod ihres Vaters Ende September 2000 lebte sie bei ihm und seiner zweiten Ehefrau. Mit ihrer —unter Betreuung stehenden— leiblichen Mutter, die laut Mitteilung des Klägers vom inzwischen ebenfalls verstorben ist, unterhielt C —abgesehen von einem kurzen Kennenlernen im Jahr 1997— keine Verbindung.
Bereits im Juli 2000 hatte C mit einer Collegeausbildung in den USA begonnen. Dort lebte sie bei einer Gastfamilie und finanzierte ihre Ausbildung im Wesentlichen mit Hilfe eines Stipendiums, aus dem sie jährlich 8 525 Dollar erhielt.
Seit Oktober 2000 ist C bei dem Kläger und seiner Ehefrau polizeilich gemeldet und wird von diesen unterstützt. Anfang des Jahres 2001 überwies der Kläger zunächst einen Betrag von 2 200 DM auf ein von C unterhaltenes Konto in den USA als Beitrag zum Lebensunterhalt. Ferner zahlte die Ehefrau des Klägers monatlich 100 DM auf ein in Deutschland bestehendes Konto für C ein, um die Abbuchung fälliger Lebensversicherungsbeiträge sicherzustellen. Nach Abschluss der Collegeausbildung im Mai 2001 kehrte C nach Deutschland zurück und hielt sich dort bis zur geplanten Aufnahme eines Studiums in den USA im Oktober 2001 beim Kläger, seiner Ehefrau und seinen beiden in den Jahren 1983 und 1985 geborenen Kindern auf.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (die Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld ab Oktober 2000 ab.
Der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die dagegen erhobene Klage ab. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 1310 veröffentlicht. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses komme bei Volljährigen nur unter besonderen Umständen in Betracht - etwa bei behinderungsbedingter Unfähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung und Verweigerung elterlicher Hilfe. Da derartige besondere Umstände im Streitfall nicht gegeben seien, sei C kein Pflegekind i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Zur Begründung führt er aus, entgegen der Auffassung des FG liege sehr wohl eine Verbindung zwischen C, ihm und seiner Ehefrau durch ein familienähnliches auf Dauer angelegtes Band vor. C sei kein „familienfremdes” Kind. Denn seine Ehefrau sei die Tante von C. Zu dieser bestehe durch die Patenschaft auch ein besonders enges Verhältnis. Nach dem Tod des Vaters von C sei es selbstverständlich gewesen, dass sie in den Haushalt aufgenommen und in jeder Hinsicht persönlich und finanziell unterstützt werde. Ein Obhuts-/Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern bestehe nicht. Auch wenn C wegen ihrer Ausbildung bei einer Gastfamilie in den USA lebe, verbringe sie regelmäßig ihre Semesterferien bei seiner Familie in Deutschland. Soweit das FG sich auf Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) gestützt habe, das ein Pflegekindschaftsverhältnis bei Volljährigen nur bei Hinzutreten weiterer besonderer Umstände annehme, sei dem nicht zu folgen. Hieraus ergebe sich nämlich eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen Eltern, die für ihre leiblichen Kinder ein Studium finanzierten und kindergeldberechtigt seien, gegenüber solchen Ehepaaren, die eine —nach Eintritt der Volljährigkeit Halbwaise gewordene— Nichte aufnähmen, und dieser dieselbe Versorgung zukommen ließen. Eine derartige Ungleichbehandlung ohne sachlichen Differenzierungsgrund verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und unter Aufhebung des Kindergeldbescheids in der Fassung der Einspruchsentscheidung ab Oktober 2000 Kindergeld zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für alle Kinder i.S. von § 32 Abs. 1 EStG, mithin auch für Pflegekinder i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Steueränderungsgesetz 2003 —StÄndG 2003—) vom (BGBl I 2003, 2645, BStBl I 2003, 710) sind Pflegekinder Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.
Die Neufassung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG ist dem Streitfall zugrunde zu legen. Denn gemäß § 52 Abs. 40 Satz 1 EStG i.d.F. des StÄndG 2003 ist die geänderte Fassung in allen Fällen anzuwenden, in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist. Diese Rückwirkung muss ihrem Sinn und Zweck nach nicht nur für die Einkommensteuer, sondern auch für das Kindergeld gelten, wenn dieses noch nicht bestandskräftig festgesetzt bzw. die Festsetzung noch nicht bestandskräftig abgelehnt ist. Denn wegen der Verknüpfung von Einkommensteuer und Kindergeld durch die sog. Günstigerprüfung gemäß § 31 Satz 4 EStG wäre es nicht sachgerecht, Kinder für das Kindergeld einerseits und für die Einkommensteuer andererseits unterschiedlich zuzuordnen (vgl. zur Harmonisierung von Einkommensteuer- und Kindergeldrecht auch , BFH/NV 2004, 1103). Da sich die Rückwirkung begünstigend auswirkt, bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine rückwirkende Anwendung der Vorschrift (, BFHE 207, 250, BFH/NV 2004, 1719, und VIII R 90/03, BFH/NV 2005, 332).
2. Nach zutreffender Entscheidung des FG liegen im Streitfall die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG für ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht vor.
Es fehlt bereits an dem erforderlichen familienähnlichen Band zwischen dem Kläger und C. Ein familienähnliches Band ist gegeben, wenn das Kind wie zur Familie gehörig angesehen und behandelt wird. Dies wird allgemein dann angenommen, wenn zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Kind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern besteht (, EFG 1998, 101, 102; , EFG 1998, 953).
In Rechtsprechung und Schrifttum wird fast einhellig die Auffassung vertreten, dass ein familienähnliches Band mit einem bereits Volljährigen nur bei Hilflosigkeit oder Behinderung des Volljährigen oder bei Vorliegen sonstiger besonderer Umstände anzunehmen sei (, BFH/NV 2005, 524, m.w.N.; a.A. , EFG 1999, 74; Blümich/Heuermann, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, § 32 EStG Rz. 43). Als sonstiger besonderer Umstand wird z.B. eine bereits vorher entstandene länger andauernde besondere emotionale Bindung angesehen, aus der sich ebenfalls eine Betreuungsbedürftigkeit des volljährigen Kindes ergeben kann (vgl. , EFG 2001, 1454; FG Düsseldorf, Urteil in EFG 1998, 953; Dürr in Frotscher, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 28; Greite in Korn, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 13). Die einschränkende Auslegung des Pflegekindbegriffs bei Volljährigen wird damit begründet, dass die körperliche Versorgung und Erziehung des Pflegekindes, die Voraussetzung für die Annahme eines familienähnlichen Bandes sei, bei einem gesunden Volljährigen in der Regel keine entscheidende Rolle mehr spiele (FG Düsseldorf, Urteil in EFG 1998, 953).
Auch das BSG hält die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des —insoweit mit § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG übereinstimmenden— § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) mit einem bereits volljährigen Kind nur unter bestimmten besonderen Umständen für möglich (Urteile vom 10 RKg 14/81, SozR 5870, § 2 BKGG Nr. 28; vom 10 RKg 4/82, juris; vom 10 RKg 15/91, SozR 3-5870, § 2 BKGG Nr. 16, und vom 10 RKg 6/92, SozR 3-5870, § 2 BKGG Nr. 20).
Der Senat schließt sich dieser Auffassung jedenfalls für den Fall an, dass das Kind nicht schon längere Zeit vor der Volljährigkeit in den Haushalt aufgenommen worden war. Ein gesunder Volljähriger bedarf regelmäßig keiner Aufsicht, Betreuung oder Erziehung mehr, wie § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG sie voraussetzt. Diese Wertung steht in Übereinstimmung mit der zivilrechtlichen Rechtslage. Gemäß § 1626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) endet die Personensorge, die gemäß § 1631 BGB die Pflicht und das Recht zur Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung des Kindes umfasst, mit der Volljährigkeit des Kindes. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das elterliche Recht zur Pflege und Erziehung des Kindes mit Eintritt der Volljährigkeit erlischt (BVerfG-Beschlüsse vom 1 BvR 857/85, BVerfGE 72, 122, 137; vom 2 BvR 209/84, BVerfGE 74, 102, 125). Entsprechend kommt die Leistung von Betreuungsunterhalt i.S. des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB, also die Erfüllung der Unterhaltspflicht durch Leistung von Pflege und Erziehung bei einem volljährigen Kind, auch wenn es noch im Haushalt eines Elternteils lebt, nicht mehr in Betracht (, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 1530).
Besondere Umstände, die mit einer Behinderung oder Hilflosigkeit des volljährigen Kindes vergleichbar wären, sind im Streitfall nicht gegeben.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist die von ihm in diesem Zusammenhang genannte enge verwandtschaftliche Beziehung zwischen seiner Ehefrau und C als deren Nichte und Patenkind kein solcher Umstand. Über das Verwandtschaftsverhältnis hinausgehende Anhaltspunkte für eine bereits vor dem Tod des Vaters von C bestehende besonders enge emotionale Bindung, aus der möglicherweise eine besondere Betreuungsbedürftigkeit folgen könnte, ergeben sich weder aus dem Vortrag des Klägers noch aus den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO).
3. Entgegen der Ansicht des Klägers liegt in der Ablehnung des Pflegekindschaftsverhältnisses durch die Familienkasse im Streitfall auch keine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende verfassungswidrige Ungleichbehandlung. Wie die Familienkasse zutreffend vorgetragen hat, hätte C darauf hinwirken können, dass ihre leibliche Mutter (ggf. vertreten durch den Betreuer) einen Antrag auf Kindergeld stellt. Nach § 74 Abs. 1 EStG hätte C das gegenüber ihrer leiblichen Mutter festzusetzende Kindergeld im Wege der Abzweigung selbst geltend machen können. Ab dem Tod der Mutter erhält C unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 BKGG Kindergeld für sich selbst. Da mithin das für C zu beanspruchende Kindergeld nicht verloren geht, bestehen keine Anhaltspunkte für eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Familie des Klägers gegenüber einer Familie mit ausschließlich leiblichen Kindern.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1547 Nr. 9
HFR 2005 S. 1091 Nr. 11
NWB-Eilnachricht Nr. 36/2005 S. 3004
ZAAAB-55635