Verletzung des Rechts auf Gehör bei Entscheidung vor Ablauf einer vom Gericht gesetzten Frist zur Stellungnahme
Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Instanzenzug:
Gründe
Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Streitsache an das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 116 Abs. 6, 119 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Die Vorentscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzamt —FA—) auf rechtliches Gehör.
1. Das FA hat den Verfahrensfehler ordnungsgemäß gerügt (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Es hat insbesondere die Verfügung des Berichterstatters substantiiert bezeichnet, aus der sich zusammen mit dem Entscheidungsdatum ergibt, dass das Gericht vor Ablauf einer von ihm selbst gesetzten Frist zur Stellungnahme entschieden hat. Weitere Darlegungen dazu, was das FA bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und dass bei Berücksichtigung dieses Vorbringens die Entscheidung hätte anders ausfallen können, sind nicht erforderlich, da die anheim gestellte Stellungnahme nicht auf bestimmte Streitpunkte beschränkt war. In einem solchen Fall gilt die Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO einschränkungslos (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802; vom V B 242/02, BFH/NV 2003, 940). Ob sich das FA vor Fristablauf tatsächlich noch zu den von ihm nachträglich bezeichneten Rechtsfragen geäußert hätte, bedarf deshalb keiner Feststellung.
2. Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Der Anspruch des FA auf rechtliches Gehör ist verletzt.
a) Die Gerichte müssen selbst gesetzte Äußerungsfristen beachten und mit der Entscheidung bis zum Ablauf der Äußerungsfrist warten, auch wenn sie die Sache für entscheidungsreif halten (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— vom 1 BvR 1646/02, juris, und vom 2 BvR 402/60, BVerfGE 12, 110, sowie , BFH/NV 2005, 376). Das Gericht verletzt demnach den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es im schriftlichen Verfahren entscheidet, bevor eine von ihm gesetzte Frist zur Stellungnahme verstrichen ist (vgl. , BFHE 188, 273, BStBl II 1999, 531; BFH-Beschlüsse vom IX B 100/00, BFH/NV 2001, 311, und in BFH/NV 2003, 940). Die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme ist insbesondere dann unabdingbar, wenn das Gericht mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, da die Beteiligten in diesem Fall nur durch ihren schriftlichen Vortrag das Gesamtergebnis des Verfahrens erarbeiten. Verlieren sie die Möglichkeit, Stellung zu nehmen, so ist dies innerhalb der Tatsacheninstanz endgültig (vgl. , BFH/NV 2002, 945, m.w.N.).
b) Im Streitfall hat das FG dem FA durch Verfügung vom eine Frist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 FGO zur Stellungnahme binnen drei Wochen eingeräumt. Die Frist war im Zeitpunkt der Entscheidung am noch nicht abgelaufen. Der Lauf einer richterlichen Frist beginnt, sofern nichts anderes angeordnet ist, mit der Bekanntgabe des Schriftstücks, in dem die Frist bestimmt ist (§§ 155 FGO i.V.m. 221 der Zivilprozessordnung; Brandt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Nebengesetze, Kommentar, § 54 FGO Rz. 32; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 54 Rz. 9; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 54 FGO Tz. 11; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 54 FGO Rz. 6). Im Streitfall ist die richterliche Anordnung nach Aktenlage erst am zur Post gegeben worden. Selbst bei Bekanntgabe am , einem Samstag, lief die Frist zur Stellungnahme für das FA frühestens am ab, so dass am nicht im schriftlichen Verfahren entschieden werden durfte.
Daran ändert nichts, dass das FG den Beteiligten mit weiterer Verfügung vom eine Entscheidung „noch im Dezember 2002 oder Januar 2003” angekündigt hat. Eine Abkürzung der einmal gesetzten Frist zur Stellungnahme ergibt sich daraus nicht.
3. Der Verfahrensfehler hat zur Folge, dass die Vorentscheidung ohne sachliche Prüfung aufzuheben ist (§ 116 Abs. 6 FGO).
Dem steht nicht entgegen, dass das Rechtsschutzbedürfnis für die ursprünglich zulässige Klage mit Ablauf des entfallen ist, weil sich nach diesem Zeitpunkt die begehrte Eintragung eines Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte des Streitjahres 2002 nicht mehr auswirken konnte (vgl. § 42b Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes). Dadurch ist der Rechtsstreit in der Hauptsache zwar erledigt. Der Kläger kann jedoch nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO die Feststellung begehren, dass die Ablehnung der Eintragung eines Freibetrags rechtswidrig gewesen ist, wenn er an dieser Feststellung ein berechtigtes Interesse hat. Ein berechtigtes Interesse des Klägers hat der BFH insbesondere bejaht, wenn die Veranlagung für das betreffende Jahr noch nicht abgeschlossen ist und sich die zu beurteilende Sach- und Rechtslage nicht geändert hat oder wenn sich die Streitfrage für künftige Lohnsteuerverfahren in gleicher Weise stellt (vgl. Senatsurteil vom VIII R 88/00, BFH/NV 2004, 1103, m.w.N.).
Der Übergang zur Fortsetzungsfeststellungsklage erfordert im Regelfall einen —im Verfahren wegen Zulassung der Revision nicht vorgesehenen— ausdrücklichen Antrag des Klägers. Durch die Zurückverweisung des Verfahrens erhält der Kläger Gelegenheit, diesen Antrag zu stellen oder das Verfahren für erledigt zu erklären. Beantragt der Kläger die Fortsetzung des Verfahrens und bejaht das FG das besondere Interesse des Klägers an der Feststellung, wird es sich vor einer erneuten Entscheidung auch mit den vom FA zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde angeführten rechtlichen Bedenken auseinander zu setzen haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1108 Nr. 7
RAAAB-52580