Gehörsverletzung bei unzulässiger Beweisantizipation
Leitsatz
Zur unzulässigen Beweisantizipation.
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 286 ZPO
Instanzenzug: Az: I-3 U 18/20vorgehend LG Essen Az: 1 O 44/16
Gründe
I.
1Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
2Die Klägerin hat seit ihrem 16. Lebensjahr Kniebeschwerden. Vor der streitgegenständlichen Behandlung wurde sie bereits 13-mal am Knie operiert. Im Januar 2012 erhielt sie eine Knie-Totalendoprothese rechts. Am stellte sie sich notfallmäßig in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Krankenhaus vor. Im rechten Kniegelenk wurden bei einer Punktion grampositive Staphylokokken nachgewiesen, weshalb zunächst eine intravenöse Antibiose mit Cefazolin erfolgte. Am nahm der im Krankenhaus der Beklagten zu 1 als Chefarzt tätige Beklagte zu 2 eine operative Revision des Kniegelenks mit Gelenkspülung und einem PE-Inlay-Wechsel vor. Die Klägerin wurde am entlassen mit der Empfehlung, eine zehnwöchige Antibiotikatherapie durchzuführen.
3Ein Jahr später wurde bei einer Ganzkörper-Knochenszintigraphie ein starker Knochenstoffwechsel im Bereich der Knieendoprothese festgestellt. Aus diesem Anlass stellte sich die Klägerin erneut bei den Beklagten vor. Wegen des Verdachts auf eine chronische Infektion des rechten Kniegelenks plante der Beklagte zu 2 ein zweizeitiges Vorgehen (Entfernung der alten und Implantation einer neuen Prothese in getrennten, zeitlich versetzten Eingriffen). Er entfernte die alte Prothese am , ersetzte sie durch einen Platzhalter ("Spacer") und veranlasste eine zwölfwöchige Antibiose. Am wollte er eine teilgekoppelte bikondyläre Prothese einsetzen. Die Klägerin wurde deshalb in Vollnarkose versetzt. Nach ca. 30 Minuten wachte die Klägerin wieder auf. Ihr wurde mitgeteilt, dass das OP-Sieb unsauber gewesen sei und eine falsche Prothese darin gelegen habe. Die Prothese wurde deshalb erst am eingesetzt. Nach der Operation teilte der Beklagte zu 2 der Klägerin mit, die Beinachse sei gerade, es bestehe lediglich ein Streckdefizit. Er empfahl eine anschließende Reha zur Behebung des muskulären Streckdefizits.
4Am stellte der die Klägerin ambulant betreuende Orthopäde eine fehlende Rehafähigkeit wegen einer starken klinischen Achsfehlstellung fest. Am unterzog sich die Klägerin einer Revisionsoperation in der H.-Klinik H. . Hierbei wurde u.a. die in vermehrter Valgusstellung stehende femorale Komponente der Prothese ausgetauscht. Die einen voll einzementierten Offset-Stem aufweisende tibiale Komponente wurde belassen. Am erfolgte in der H.-Klinik H. eine erneute Revision des rechten Kniegelenks, bei der ein kompletter Wechsel der Prothese einschließlich der tibialen Komponente erfolgte.
5Die Klägerin macht u.a. geltend, der Beklagte zu 2 habe die Prothese in der Operation vom behandlungsfehlerhaft in erheblicher Fehlstellung eingebracht. Nach der Operation sei ihr Unterschenkel völlig verdreht gewesen und das Wadenbein habe hinter statt neben dem Schienbein gestanden. Die Fehlstellung habe nicht nur den femoralen Anteil der Prothese, sondern auch den tibialen Anteil betroffen. Dieser habe behandlungsfehlerhaft eine Innenrotation in Bezug auf die Vorderfußachse gezeigt. Die tibiale Komponente sei bei der Operation vom in der H.-Klinik in H. nur deshalb nicht ausgetauscht worden, weil sie fest einzementiert gewesen und die Entfernung des Offset-Stems aufgrund des ausgeprägten Zementmantels ohne Osteotomie des Tibiakopfes nicht möglich gewesen sei. Dies habe erst nach Lockerung der tibialen Komponente im Jahre 2018 erfolgen können.
6Das Landgericht hat der Klägerin wegen der unterlassenen Überprüfung des OP-Instrumentariums vor Einleitung der Vollnarkose am ein Schmerzensgeld in Höhe von 500 € nebst Zinsen zuerkannt. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
7Das Berufungsgericht hat unter anderem ausgeführt, ein fehlerhaftes Verhalten der Beklagten sei im Hinblick auf die am durchgeführte Explantation der alten und die am durchgeführte Implantation der neuen Prothese nicht feststellbar.
8Die Klägerin habe keine Fehler der Beklagten im Zusammenhang mit der Planung der Eingriffe bewiesen. Insbesondere sei die Planung eines zweizeitigen Vorgehens nicht zu beanstanden. Dieses sei gegenüber dem einzeitigen Vorgehen sogar der sicherere und vorzugswürdige Weg. Ein Behandlungsfehler lasse sich auch nicht im Hinblick auf das nach dem Vortrag der Klägerin nicht zufriedenstellende Ergebnis des Eingriffs vom feststellen. Es sei zweifelhaft, ob sich anhand der vorliegenden Bildgebung exakte Feststellungen zu der bei der Klägerin postoperativ vorhandenen Fehlstellung treffen ließen. Im Einklang mit dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die Beschreibung des Operateurs der H.-Klinik H. , Dr. Z., zum intraoperativen klinischen Befund in dem OP-Bericht vom diesbezüglich aussagekräftiger sei und dass sich auf dieser Grundlage ein Behandlungsfehler nicht feststellen lasse. Eine Vernehmung des von der Klägerin angebotenen Zeugen Dr. Z. sei nicht erforderlich. Soweit die Klägerin behaupte, dass der tibiale Prothesenteil nur deshalb nicht ausgetauscht worden sei, weil er von dem Beklagten zu 2 im Rahmen des Eingriffs vom fehlerhaft einzementiert worden sei, stehe diese Behauptung im Widerspruch zu der eindeutigen und unverdächtigen Dokumentation in dem OP-Bericht. Dr. Z. habe die Position der Prothese intraoperativ beurteilt und seine Beurteilung ausführlich in dem OP-Bericht vom dokumentiert. Danach sei ein Wechsel der tibialen Komponente nicht erforderlich gewesen. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei die Formulierung in dem OP-Bericht nicht missverständlich. Vielmehr unterscheide der OP-Bericht eindeutig zwischen der Möglichkeit und der Erforderlichkeit eines Wechsels der tibialen Komponente. Neben der ausführlichen Begründung, weshalb ein Wechsel der tibialen Komponente nicht erforderlich sei, sei in dem OP-Bericht dokumentiert, dass die tibiale Komponente solide verankert sei und einen voll einzementierten Offset-Stem aufweise, weshalb ihre Entfernung nur durch einen Knochensubstanzverlust möglich wäre. Anhaltspunkte dafür, dass der Operateur die Position in dem OP-Bericht unzutreffend dokumentiert habe, beständen auch unter Berücksichtigung der Einwände der Klägerin nicht. Soweit die Klägerin den Ambulanzbericht der H.-Klinik H. vom anführe und hieraus die Schlussfolgerung ziehe, dass der bereits im Jahr 2015 aufgrund der Fehlstellung erforderliche Wechsel der tibialen Komponente nur deshalb unterblieben sei, weil dies aufgrund der Einzementierung nicht möglich gewesen sei, stehe dies im Widerspruch zu den vorgelegten Krankenunterlagen der H.-Klinik H. . Dass die tibiale Komponente aufgrund einer erheblichen Fehlstellung habe gewechselt werden müssen, ergebe sich aus der Dokumentation nicht. Vielmehr werde auch in der Dokumentation aus dem Jahr 2018 lediglich ausgeführt, dass aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Lockerung der von der Klägerin wegen persistierender Beschwerden gewünschte Wechsel auch der tibialen Komponente nunmehr vertretbar sei und dass sich die Situation daher im Vergleich zu 2015 geändert habe. Dementsprechend habe auch der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt des Ambulanzberichts vom ausgeführt, dass für ihn der Operationsbericht vom für die Beurteilung einer etwaigen Fehlstellung entscheidend sei.
III.
9Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit auf Behandlungsfehler gestützte Schadensersatzansprüche verneint worden sind.
101. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 2 habe die am implantierte Prothese behandlungsfehlerfrei eingebracht, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
11a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. Senatsbeschlüsse vom - VI ZR 106/17, VersR 2018, 1147 Rn. 15 f.; vom - VI ZR 328/18, VersR 2020, 317 Rn. 6; vom - VI ZR 44/20, VersR 2022, 66 Rn. 11). Hiervon ist unter anderem dann auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots auf einer vorweggenommenen Beweiswürdigung beruht. Eine unzulässige Beweisantizipation liegt vor, wenn der von einer Partei angebotene Beweis nicht erhoben wird, weil das Gericht dem unter Beweis gestellten Vorbringen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst (vgl. BGH, Beschlüsse vom - I ZR 170/18, TranspR 2019, 376 Rn. 13; vom - XI ZR 226/19, juris Rn. 11; vom - V ZR 64/17, juris Rn. 19).
12b) So verhält es sich im Streitfall. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, hatte die Klägerin ihre Behauptung eines Behandlungsfehlers durch die Beklagten bei der Operation am auch darauf gestützt, dass der nachbehandelnde Dr. Z. von einer Fehlstellung - auch - der tibialen Komponente der Prothese ausgegangen sei, diese aber in vertretbarer Weise nicht habe entfernen können, da sie einzementiert worden sei. Sie hat auf die ihre Behauptung grundsätzlich stützenden Ausführungen des Dr. Z. im OP-Bericht vom verwiesen, wonach die tibiale Komponente eine Innenrotation in Bezug auf die Vorderfußachse zeige, solide verankert sei, einen volleinzementierten Offset-Stem aufweise und ihre Entfernung nur durch Knochensubstanzverlust möglich sei. Sie hat geltend gemacht, soweit im Operationsbericht weiter ausgeführt sei, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich, sei dies missverständlich und gebe dies die wirkliche Auffassung des Dr. Z. im Zeitpunkt der Operation nicht zutreffend wieder. Dies habe ihr Dr. Z. bestätigt. Für die Richtigkeit ihrer Behauptung spreche auch der von Dr. Z. verfasste Bericht der H.-Klinik H. vom (GA 204). Dort heißt es u.a.: "Die letzte Operation in unserem Hause wurde im August 2015 durchgeführt, ... Zum damaligen Zeitpunkt war die einliegende und voll einzementierte tibiale Komponente mit einem Offset-Stem noch fest verankert, die Entfernung dieses Offset-Stems war aufgrund des ausgeprägten Zementmantels ohne Osteotomie des Tibiakopfes nicht möglich gewesen. Deshalb wurde hier nur ein Teilwechsel der femoralen Komponente durchgeführt. … Wir empfehlen, in dieser Situation eine erneute Revision mit Wechsel der tibialen Komponente durchzuführen. Im Vergleich zu 2015 ist die aktuelle Situation nicht mehr so gefährlich, den voll einzementierten Offset-Stem zu entfernen, deshalb kann hier zeitnah die Revision terminiert werden. …".
13Das Berufungsgericht hat dem intraoperativen Eindruck des Dr. Z in der Operation vom maßgebliche Bedeutung beigemessen. Es hat den intraoperativen klinischen Befund unter Hinweis auf Messungenauigkeiten bei der Befundung der Bildgebung als aussagekräftiger als die Bildgebung angesehen und auf seiner Grundlage einen Behandlungsfehler verneint. Bei dieser Sachlage durfte es von der Vernehmung des von der Klägerin zum Beweis des intraoperativen klinischen Befundes benannten Operateurs Dr. Z. aber nicht absehen. In der Ablehnung des Beweisangebots mit der Begründung, die Behauptungen der Klägerin ständen im Widerspruch zu der eindeutigen und unverdächtigen Dokumentation in dem OP-Bericht, liegt eine unzulässige Beweisantizipation. Ob der die Behauptung der Klägerin grundsätzlich stützende OP-Bericht den intraoperativen klinischen Befund im Streitfall in jeder Hinsicht zutreffend wiedergibt oder nicht, kann erst nach Vernehmung des von der Klägerin hierzu benannten Operateurs beurteilt werden. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, hat das Berufungsgericht der Klägerin die Möglichkeit des Beweises abgeschnitten, dass der den Operationsbericht verfassende Dr. Z intraoperativ eine relevante Fehlstellung auch der tibialen Komponente der Prothese festgestellt hat und seine Feststellung lediglich unglücklich schriftlich niedergelegt hat. Der Umstand, dass eine entsprechende Bekundung des Dr. Z. von seinen schriftlichen Ausführungen im OP-Bericht abweichen kann, mag im Rahmen einer Beweiswürdigung nach einer Beweisaufnahme Berücksichtigung finden. Er berechtigt das Berufungsgericht aber nicht dazu, den angebotenen Beweis gar nicht erst zu erheben.
14c) Diese Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei einer Vernehmung des Zeugen Dr. Z zu einer anderen Beurteilung der Position der tibialen Komponente gekommen wäre.
152. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist dagegen unbegründet, soweit sie sich gegen die Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihrer Klage wegen Verletzung der Aufklärungspflicht wendet. Die Rechtssache hat insoweit weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 S. 2 Halbs. 2 ZPO abgesehen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:160822BVIZR1151.20.0
Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 2935 Nr. 40
CAAAJ-21946