Online-Nachricht - Montag, 29.08.2022

Verfahrensrecht | Keine Darlegungspflicht für Ermessungserwägungen gegenüber dem Drittschuldner (FG)

Ermessensfehler hinsichtlich des Erlasses einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung kann nur der Vollstreckungsschuldner, nicht aber der Drittschuldner geltend machen. Dementsprechend bedarf es gegenüber dem Drittschuldner keiner Darlegung und Begründung der entsprechenden Ermessenserwägungen (, rechtskräftig).

Sachverhalt und Verfahrensgang: Die Klägerin ist eine Bank. Im Jahr 2017 führte das beklagte Hauptzollamt auf Grund entsprechender Vollstreckungsaufträge die Vollstreckung von Beitragsforderungen einer Krankenkasse (Gläubigerin) gegen die A-GmbH (Vollstreckungsschuldnerin) durch. In diesem Zusammenhang erzeugte das Hauptzollamt zwei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen über das IT-Verfahren „Elektronisches Vollstreckungssystem“ (eVS), die der Klägerin als Drittschuldnerin zugestellt wurden. Diese enthielten jeweils das Verbot, an den Schuldner zu leisten oder bei einer Verfügung über dessen Ansprüche mitzuwirken, sowie die Aufforderung, innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung der Verfügung eine Drittschuldnererklärung abzugeben und sich dabei zu vier gestellten Fragen zu erklären. Im Briefkopf weisen die Verfügungen jeweils den Namen und die Anschrift des Hauptzollamts, den Namen des Bearbeiters, jedoch weder eine Unterschrift noch ein Dienstsiegel auf. Auch eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten diese Ausfertigungen nicht. Sie schließen jeweils mit dem Satz „Dieses Schriftstück ist ohne Unterschrift und ohne Namensangabe gültig“.

Die Sache befindet sich nach Zurückverweisung durch den BFH im zweiten Rechtsgang. Ursprünglich war im Wesentlichen streitig, ob Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nach §§ 309 und 314 Abgabenordnung (AO) für ihre Wirksamkeit grundsätzlich der handschriftlichen Unterzeichnung durch einen Amtsträger bedürften. Inzwischen steht im Mittelpunkt des Rechtsstreits die Frage, ob die streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen wegen Ermessensfehlern rechtswidrig sind und sich die Klägerin hierauf berufen kann. Sie macht geltend, die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien rechtswidrig, da sie formularmäßig ergangen seien, obwohl es sich um Ermessensentscheidungen gehandelt habe und nicht erkennbar sei, dass das Hauptzollamt seinen Ermessensspielraum erkannt habe und von welchen Gesichtspunkten es bei seiner Ermessensentscheidung ausgegangen sei.

Das FG wies die Klage ab:

  • Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der beiden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen.

  • Beide Verfügungen sind mit ihrer Zustellung an die Klägerin wirksam geworden und genügen insbesondere der gesetzlich vorgeschriebenen Schriftform und Inhaltserfordernissen des § 309 Abs. 1 AO. Sie sind zwar mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitungsanlagen erzeugt worden; entscheidend ist jedoch die äußere Form der übermittelten Ausfertigung.

  • Der Klägerin sind die Verfügungen unstreitig nicht in Form von elektronischen Dokumenten i. S. des § 87a Abs. 4 AO übermittelt worden.

  • Zwar entsprechen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen mangels Unterschrift nicht den Formerfordernissen der im maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Durchführung der Vollstreckung nach der AO (Vollstreckungsanweisung - VollstrA - in der bis geltenden Fassung, Abschn. 41 Abs. 2 Nr. 7), der zufolge eine Pfändungsverfügung „die Unterschrift eines zuständigen Bediensteten der Vollstreckungsstelle“ enthalten musste. Hierbei handelt es sich jedoch um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, die im gerichtlichen Verfahren keine Bindungswirkung haben.

  • Die beiden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen haben auch den Anforderungen des § 119 AO entsprochen. Sie sind insbesondere hinreichend bestimmt, lassen die ausstellende Behörde unter Angabe des Sachbearbeiters erkennen und bedürfen keiner Unterschrift.

  • Die der Pfändung unterworfenen Forderungen der Vollstreckungsschuldnerin gegenüber der Drittschuldnerin sind genau bezeichnet. Dass die betroffenen Konten der Vollstreckungsschuldnerin nicht unter Angabe der jeweiligen Kontonummer einzeln benannt werden, ist unschädlich.

  • Auch die Angabe des Schuldgrunds gehört nach der grundsätzlich auch für die Pfändungsverfügung nach § 309 AO geltenden Bestimmung des § 260 AO nicht zum notwendigen Inhalt der Pfändungsverfügung. Zwar enthält § 309 Abs. 2 Satz 2 AO eine Spezialregelung für die an den Drittschuldner zuzustellende Ausfertigung der Pfändungsverfügung, wonach diese den beizutreibenden Geldbetrag nur in einer Summe, ohne Angabe der Steuerarten und der Zeiträume, für die er geschuldet wird, bezeichnen soll. Das entspricht dem Interesse des Drittschuldners, für den allein die Höhe der Forderung von Bedeutung ist, und schützt die Privatsphäre des Vollstreckungsschuldners.

  • Dem Anspruch des Vollstreckungsschuldners, seinerseits genau und zweifelsfrei zu erfahren, wegen welcher Zahlungsverpflichtung die Pfändung erfolgt, wird i.d.R. dadurch genügt, dass die nach § 260 AO geforderten Angaben in einer der Pfändungsverfügung beigefügten Anlage aufgenommen werden, die allein dem Vollstreckungsschuldner mitgeteilt wird. Die Angabe des Schuldgrundes ist daher in der Ausfertigung für die Klägerin als Drittschuldnerin nicht erforderlich.

  • Nach § 119 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 AO ist eine Unterschrift oder die Namenswiedergabe nicht erforderlich für Verwaltungsakte (VA), die formularmäßig oder mit Hilfe elektronischer Einrichtungen erlassen werden. Damit wird eine eigenständige Regelung für das Abgabenrecht getroffen, die der allgemeinen Regelung in § 126 BGB, wonach die Schriftform eine eigenhändige Unterschrift (oder ein notariell beglaubigtes Handzeichen) enthalten muss, vorgeht.

  • Beide Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sind unter Verwendung des IT-Verfahrens eVS erstellt worden. Dieses dient dabei lediglich als Hilfsmittel; die Entscheidungen über den Beginn der Vollstreckung und die Art der Vollstreckungsmaßnahme hat das Hauptzollamt jeweils durch seinen Sachbearbeiter getroffen.

  • Das FG hat auf Grund der Vorführung durch die Vertreter des Hauptzollamts festgestellt, dass das IT-Verfahren eVS bei der Bearbeitung von Vollstreckungsfällen, insbesondere auch bei der Erstellung von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, lediglich als Hilfsmittel dient; es bedarf schon auf Grund seiner Programmierung bei der Erstellung von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen stets entsprechender Entscheidungen des jeweiligen Sachbearbeiters.

  • Einen Automatismus bei der Bearbeitung von Vollstreckungsaufträgen, nach dem z.B. in vorbelegten Konstellationen systembedingt eine bestimmte Vollstreckungsmaßnahme angeordnet wird, sieht das Programm nicht vor.

  • Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen wegen eines Begründungsmangels, insbesondere nicht wegen des Fehlens der Darlegung von Ermessenserwägungen.

  • Das Hauptzollamt hat trotz des geringen Umfangs der beizutreibenden Forderungen eine vollumfängliche Pfändung sämtlicher Ansprüche aus der Geschäftsbeziehung des Schuldners mit der Klägerin als Kreditinstitut vornehmen dürfen. Einer besonderen Begründung gegenüber der Klägerin bedarf es dafür nicht.

  • Die Pfändung erstreckt sich grundsätzlich auf die gesamte Forderung des Pfändungsschuldners gegenüber dem Drittschuldner, nicht etwa nur auf den Teilbetrag, welcher der Forderung der Vollstreckungsbehörde gegen den Pfändungsschuldner entspricht; eine Teilpfändung der Forderung des Pfändungsschuldners ist nur ausnahmsweise geboten und muss ggf. in der Pfändungsverfügung ausdrücklich ausgesprochen werden.

  • Dies gilt auch, wenn die Pfändungswirkung eine Überpfändung im Sinne des § 281 Abs. 2 AO zur Folge hat. Die Vollstreckungsbehörde kennt nämlich i.d.R. weder die Zahlungsfähigkeit des Drittschuldners noch dessen etwaige Einwendungen.

  • Dass die Ermessenserwägungen hinsichtlich der gegenüber dem Vollstreckungsschuldner ausgewählten Vollstreckungsmaßnahme der Klägerin als Drittschuldnerin nicht mitgeteilt werden müssen, ergibt sich schon aus den Regelungen des § 309 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 AO, nach der die gegenüber dem Vollstreckungsschuldner und dem Drittschuldner zuzustellenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen unterschiedlichen Inhalt haben sollen.

  • Nach Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift müssen an Drittschuldner und Vollstreckungsschuldner unterschiedliche Verbote ergehen, nach Abs. 2 Satz 2 soll die Pfändungsverfügung an den Drittschuldner den beizutreibenden Geldbetrag nur in einer Summe und ohne Angabe der Steuerarten und der Zeiträume, für die sie geschuldet wird, bezeichnen. Die Regelung des § 309 Abs. 2 Satz 2 AO dient dem Schutz des Vollstreckungsschuldners, dessen Interesse es ist, dass der Drittschuldner u.a. keine Rückschlüsse auf Einkommen, Umsätze, Umsatzentwicklung, Höhe der Löhne, Vermögen, Konfession, Subventionen usw. ziehen kann.

  • Im Übrigen stehen der Mitteilung der Ermessenserwägungen vorliegend zwar nicht das Steuergeheimnis, wohl aber das Sozialdatengeheimnis und der Datenschutz entgegen.

  • Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB I hat jeder Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten (§ 67 Abs. 2 SGB X) von den Leistungsträgern nicht unbefugt verarbeitet werden (Sozialgeheimnis). Der Anspruch richtet sich auch gegen die Behörden der Zollverwaltung, soweit sie Aufgaben nach § 66 SGB X durchführen (§ 35 Abs. 1 Satz 4 SGB I).

  • Eine Übermittlung von Sozialdaten ist nach § 67b SGB X in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung vom nur zulässig, soweit die nachfolgenden Vorschriften oder eine andere Rechtsvorschrift in diesem Gesetzbuch es erlauben oder anordnen.

  • Unabhängig davon, auf welcher konkreten rechtlichen Grundlage die Übermittlung der Sozialdaten erfolgt, wird die Übermittlung stets davon abhängig gemacht, ob eine Übermittlung zu dem jeweils genannten Zweck erforderlich ist (vgl. §§ 69 und 74a SGB X). Eine Übermittlung entsprechender Daten an die Klägerin als Drittschuldnerin ist aber gerade nicht erforderlich. Entsprechendes gilt für den Datenschutz (§ 25 Bundesdatenschutzgesetz).

  • Eine Ermessensausübung durch das Hauptzollamt ist weder im konkreten Fall noch grundsätzlich durch die Verwendung des IT-Programms eVS ausgeschlossen. Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass in den Vollstreckungsakten keine Begründung der getroffenen Entscheidung enthalten ist. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die für die Entscheidungsfindung maßgebenden Erwägungen dem Betroffenen grundsätzlich (erst) bis zur letzten Verwaltungsentscheidung mitzuteilen sind.

  • Aus dem Fehlen von Ermessenserwägungen in der Behördenakte kann nicht darauf geschlossen werden, dass kein Ermessen ausgeübt und die Gründe nirgends niedergelegt worden sind.

  • Durch das IT-Verfahren eVS ist eine Ermessensausübung nicht ausgeschlossen; der jeweilige Bearbeiter muss vielmehr zwangsläufig Entscheidungen über das Ergreifen von Vollstreckungsmaßnahmen, deren Art und Weise und über ihren Beginn treffen. Das System bietet jeweils verschiedene Handlungsmöglichkeiten, aus denen eine Auswahl getroffen werden muss.

  • Eine Vorbelegung i. S. eines Handlungsvorschlags erfolgt dabei nicht. Der jeweilige Bearbeiter ist daher gezwungen, Entscheidungen über das „Ob“, „Wie“ und „Wann“ der Vollstreckung zu treffen. Ein Automatismus ist durch die Programmierung ausgeschlossen.

  • Die Entscheidung des Hauptzollamts über die ausgewählte Vollstreckungsmaßnahme ist auch als ermessensgerecht anzusehen. Insbesondere ist nach Aktenlage kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ersichtlich. Die Pfändung ist weder von vornherein aussichtslos, noch handelt es sich um eine Pfändung „ins Blaue hinein“.

  • Das gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, dass es sich bei den zu vollstreckenden Forderungen um Säumniszuschläge und Kosten und nicht um die Hauptforderung handelt.

Quelle: FG Baden-Württemberg, Newsletter 2/2022 (il)

Fundstelle(n):
NWB AAAAJ-20859