BSG Beschluss v. - B 8 SO 96/20 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - vorherige Anhörung der Beteiligten - Entscheidung vor Ablauf der Anhörungsfrist - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter - absoluter Revisionsgrund

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Instanzenzug: Az: S 13 SO 1282/20 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 2 SO 3281/20 Beschlussnachgehend Az: B 8 SO 36/22 BH Beschluss

Gründe

1I. Im Streit steht die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für das Jahr 2017.

2Der Beklagte gewährte dem alleinstehenden Kläger, der eine mit Strom beheizte Wohnung bewohnt, für das Jahr 2017 Grundsicherungsleistungen unter Zugrundelegung eines Regelbedarfs abzüglich eines Anteils für Haushaltsenergie sowie Kosten der Unterkunft (KdU), wobei für die Monate Februar, März und ab April eine zusätzliche Heizkostenpauschale berücksichtigt wurde (Bescheide vom sowie vom und ; Widerspruchsbescheid vom ). Die Klage, mit der der Kläger höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines erhöhten Regelbedarfs (erhöhte Kosten für Bekleidung, Bettwäsche, Pflege- und Reinigungsmittel), höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung begehrt, blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts <SG> Ulm vom ). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat mit Schreiben vom (abgesandt am ) die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens Stellung zu nehmen. Es hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Beschluss vom ) und zur Begründung ua ausgeführt, dass das angefochtene Urteil des SG sowie die angegriffenen Bescheide des Beklagten rechtmäßig seien und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzten. Der Senat schließe sich den Entscheidungsgründen des SG nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage uneingeschränkt an und sehe gemäß § 153 Abs 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

3Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), weil das LSG den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>) verletzt habe, indem es die Entscheidung durch Beschluss noch vor Ablauf der gesetzten Frist getroffen und zugleich den Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt habe (Art 101 Abs 1 GG) sowie im Übrigen seiner Sachaufklärungspflicht nicht genügt und damit den Untersuchungsgrundsatz (§ 103 SGG) verletzt habe.

4II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG sowie eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

5Wenn ein Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung binnen einer bestimmten Frist setzt, verlangt das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich, dass das Gericht den Ablauf der Äußerungsfrist abwartet, bevor es entscheidet (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom - 2 BvR 164/76 - BVerfGE 42, 243, 247; Bundessozialgericht <BSG> vom - B 12 KR 28/16 B - RdNr 8; - RdNr 7 mwN). Dies gilt auch dann, wenn dem Gericht die Sache entscheidungsreif erscheint ( - BVerfGE 12, 110, 113).

6Diesen Anforderungen genügt der mit dem das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, nicht. Das LSG hat mit Schreiben vom die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 SGG hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens Stellung zu nehmen. Es kann offenbleiben, ob mit einer Frist, die bei Absendung des Schreibens erst am und unter Zugrundelegung der üblichen Postlaufzeiten (zum und vom Kläger) zwei Wochen kaum erreicht haben dürfte, dem Anhörungserfordernis nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG genüge getan ist (vgl dazu Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 153 RdNr 109 mwN zum Streitstand). Jedenfalls durfte der Kläger darauf vertrauen, dass vor Ablauf des eine Entscheidung des LSG nicht ergehen würde. Der im Parallelverfahren (Az: L 2 SO 3298/20) mandatierte Rechtsanwalt hat entsprechend im Nachgang mitgeteilt, wegen der Vertretung in vorliegenden Verfahren noch Rücksprache mit dem Kläger halten zu müssen.

7Vor Ablauf der vom Gericht gesetzten Anhörungsfrist darf das Gericht nicht entscheiden ( - RdNr 7; - HVBG-INFO 1995, 2372). Ausnahmsweise muss es den Ablauf der von ihm gesetzten, angemessenen Frist zur Stellungnahme nur dann nicht abwarten, wenn ein Beteiligter sich vor Fristablauf abschließend geäußert hat ( - RdNr 7 mwN; - RdNr 8) und weitere Stellungnahmen nach Lage der Dinge nicht zu erwarten sind ( - RdNr 8; Roller in Berchtold, SGG, 6. Aufl 2021, § 105 RdNr 8; Hauck in Hennig, SGG, § 105 RdNr 51, Stand Mai 2018). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

8Dadurch, dass das LSG vor Ablauf der von ihm gesetzten Anhörungsfrist entschieden hat, hat es § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verletzt. Diese Situation ist vergleichbar mit einer unterbliebenen Anhörung ( - RdNr 6; - RdNr 9; - RdNr 6). Der darin liegende Anhörungsmangel ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung <ZPO>), bei dem das Beruhen der Entscheidung auf dem Verfahrensfehler vermutet wird. Der in einer unterbliebenen Anhörung liegende Verfahrensfehler führt nicht nur zu einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör, sondern auch zu einer unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (nur mit Berufsrichtern) und damit zu einer Verletzung des Rechts des Klägers auf den gesetzlichen Richter (vgl zuletzt - RdNr 6 mwN; kritisch zum Ganzen, Sommer in BeckOGK, Stand November 2021, § 153 RdNr 45; Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 153 RdNr 137).

9Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.                 Krauß                Scholz                 Bieresborn

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:160222BB8SO9620B0

Fundstelle(n):
OAAAI-57900