BGH Beschluss v. - 3 StR 156/21

Strafverfahren: Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts; Protokolle von 7 Jahre zurückliegenden Vernehmungen

Gesetze: § 249 Abs 1 StPO, § 261 StPO

Instanzenzug: LG Wuppertal Az: 24 KLs 14/16

Gründe

1Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Zwei Monate der Strafe hat es wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Ihre auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision gegen das Urteil hat mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg.

I.

2Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen missbrauchte die Angeklagte im Januar 2013 gemeinsam mit ihrem ehemaligen und inzwischen verstorbenen Ehemann ihre damals vierjährige Tochter, die Nebenklägerin. Der erhobenen Verfahrensrüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:

3Die sich schweigend verteidigende Angeklagte hatte sich im Frühjahr 2013 in zwei polizeilichen Vernehmungen zur Tat geäußert. Zu ihren damaligen Angaben hörte das Landgericht die jeweiligen Vernehmungsbeamtinnen. Dabei hielt es den Zeuginnen die seinerzeit gefertigten Protokolle vor. Die Beamtin der ersten Vernehmung konnte sich laut den Urteilsfeststellungen "nicht mehr im Detail an die Einzelheiten der von ihr durchgeführten Vernehmung erinnern", bestätigte jedoch, darum bemüht gewesen zu sein, die Angaben der Angeklagten wörtlich aufzunehmen. Die Vernehmungsprotokolle wurden nicht anderweitig als Urkunden in die Hauptverhandlung eingeführt.

4In dem angefochtenen Urteil hat die Strafkammer die Vernehmungsprotokolle wörtlich zitiert. Aus dem ersten Protokoll sind eine Frage und die insgesamt 17 Sätze umfassende Antwort der Angeklagten im Wortlaut übernommen. Das Zitat aus der zweiten polizeilichen Vernehmung erstreckt sich nahezu geschlossen über vier Seiten des Urteils.

5Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten maßgeblich auf ihre geständigen Einlassungen bei den damaligen polizeilichen Vernehmungen gestützt. Es hat im Rahmen der Beweiswürdigung den Wortlaut der zitierten Angaben der Angeklagten analysiert und ist auf dieser Grundlage zu dem Schluss gelangt, dass die Schilderung auf einem realen Erleben basierte. Ergänzend hat die Strafkammer weitere Beweismittel herangezogen.

II.

61. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Revisionsbegründung gibt hinreichend die den Mangel enthaltenden Tatsachen im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an. Angesichts der sich über mehrere Seiten erstreckenden wörtlichen Wiedergabe der Vernehmungsprotokolle war ein Vortrag dazu entbehrlich, welche Inhalte genau den Vernehmungsbeamtinnen vorgehalten wurden (vgl. , NStZ 2017, 722, 723).

72. Die Rüge ist auch begründet. Die Angeklagte beanstandet zu Recht, dass das Landgericht die Feststellungen teilweise nicht anhand der Beweisergebnisse aus der Hauptverhandlung getroffen hat (Verstoß gegen § 261 StPO). Die polizeilichen Aussagen der Angeklagten aus dem Jahr 2013 waren im Umfang ihrer Verwertung nicht Gegenstand der Beweisaufnahme. Es ist auszuschließen, dass die Strafkammer ihre Überzeugung vom wortgetreuen Inhalt der Vernehmungen allein durch Vorhalte gewonnen hat. Hierzu gilt:

8Die Einführung von Urkunden im Wege des Vorhalts ist zwar möglich, unterliegt aber Grenzen. Denn Beweisgrundlage ist in diesen Fällen nicht das vorgehaltene Schriftstück, sondern das, was die Vernehmungsperson hierzu erklärt. Nur die Aussage wird zum verwertbaren Teil des Inbegriffs der Verhandlung (st. Rspr.; vgl. etwa , NStZ-RR 2012, 212 f.; Urteil vom - 1 StR 43/12, NStZ 2012, 521, 522 mwN). Bei längeren oder komplexen Urkunden besteht die Gefahr, dass der Zeuge den Sinn der schriftlichen Erklärung auf den mündlichen Vorhalt hin nicht richtig oder nur unvollständig erfasst oder den genauen Wortlaut eines Schriftstücks nicht zuverlässig erinnert. In solchen Fällen muss die Urkunde für eine ordnungsgemäße Einführung gemäß § 249 Abs. 1 StPO verlesen werden (BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 30/12, juris Rn. 7; vom - 2 StR 652/10, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 48 Rn. 8 mwN; vom - 5 StR 226/99, BGHR StPO § 249 Abs. 1 Verlesung, unterbliebene mwN).

9Angesichts der Länge und Komplexität der aus den Protokollen zitierten Äußerungen der Angeklagten ist auszuschließen, dass die Polizeibeamtinnen deren Richtigkeit in dem im Urteil zitierten Umfang im Wortlaut im Einzelnen erinnern konnten. Die Vernehmungen lagen bereits über sieben Jahre zurück. Hinzu kommt, dass eine Zeugin auf Erinnerungslücken verwies und auf Nachfrage lediglich ihre damalige Sorgfalt bei der Niederschrift bestätigte. Dies genügt für die Einführung von Vernehmungsprotokollen mittels Vorhalt nicht (vgl. , NStZ 2012, 521, 522 mwN; Beschluss vom - 5 StR 604/00, bei Becker, NStZ-RR 2002, 65, 71 mwN).

10Das Urteil beruht auf dem Verfahrensverstoß (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Landgericht hat die Protokolle, deren umfangreiches originalgetreues Zitat es für geboten hielt, seiner Entscheidung zugrunde gelegt und den Wortlaut der damaligen Angaben der Angeklagten für seine Beweiswürdigung herangezogen.

113. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

12Die strafschärfende Berücksichtigung des Umstands, dass "die Angeklagte der Aufforderung des früheren Mitangeklagten, sich an der Tat in der geschehenen Art und Weise zu beteiligen, letztlich im Tatzeitpunkt keinen nach außen erkennbaren Widerstand entgegensetzte", könnte Bedenken dahin erwecken, dass entgegen § 46 Abs. 2 StGB die Tatbegehung als solche zu ihren Lasten berücksichtigt wird.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:290621B3STR156.21.0

Fundstelle(n):
QAAAH-95508