BGH Beschluss v. - VI ZB 38/17

(Hinweispflicht eines Gerichts bei unzureichendem Beweisantritt einer Partei bezüglich rechtzeitigem Eingang eines Schriftsatzes)

Leitsatz

Wenn das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass die anwaltliche und eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten einer Partei keinen vollen Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung erbringt, hat es die Partei darauf hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen (st. Rspr., vgl. nur , NJW 2007, 3069 und , NJW 2007, 1457). Allein der Hinweis, dass das Berufungsgericht im Freibeweisverfahren entscheiden will, genügt dafür nicht.

Gesetze: § 139 Abs 2 ZPO, § 284 ZPO, § 418 Abs 2 ZPO, § 520 ZPO

Instanzenzug: LG Arnsberg Az: I-3 S 172/16vorgehend AG Arnsberg Az: 3 C 467/14

Gründe

I.

1Der Kläger begehrt nach Klagerücknahme gegenüber der Beklagten zu 1 von der Beklagten zu 2 Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall. Das Amtsgericht hat der Klage zum Teil stattgegeben. Gegen das am zugestellte Urteil hat der Kläger fristgemäß Berufung eingelegt. Auf seinen Antrag vom ist die Frist zur Begründung der Berufung bis zum verlängert worden. Mit Schriftsatz vom hat der Kläger die Berufung begründet. Der Schriftsatz trägt den Eingangsstempel des Landgerichts Arnsberg vom . Nach Hinweis des Berufungsgerichts auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers erklärt, er habe den Schriftsatz persönlich am nach 20.00 Uhr in den Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen. Er versichere die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben dazu anwaltlich sowie an Eides statt. Das Landgericht hat daraufhin mitgeteilt, es werde zunächst eine dienstliche Stellungnahme des zuständigen Wachtmeisters eingeholt, über die Rechtzeitigkeit der Berufungsbegründung sei dann im Freibeweisverfahren zu entscheiden. In seiner Stellungnahme zur dienstlichen Äußerung der Wachtmeister hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers erneut versichert, dass er persönlich den Briefumschlag mit der Berufungsbegründung am nach 20.00 Uhr an sich genommen und ihn persönlich in den Nachtbriefkasten beim Landgericht eingeworfen habe.

2Das Landgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, da die Berufungsbegründung erst am eingegangen sei. Dies ergebe sich aus dem Eingangsstempel, der eine öffentliche Urkunde darstelle. Der Kläger habe den Gegenbeweis nicht erbracht, dass der Schriftsatz bereits am eingegangen sei. Die eingeholte dienstliche Stellungnahme des zuständigen Wachtmeisters habe nicht ergeben, dass es im Hause zu einer Verwechselung der Eingangspost gekommen sei. Einen weiteren Beweis für den Eingang am habe der Kläger auf den Hinweis des Gerichts, dass über den rechtzeitigen Eingang im Rahmen des Freibeweises zu entscheiden sei, nicht angeboten. Die anwaltliche Versicherung sei kein zulässiges Beweismittel, selbst eine eidesstattliche Versicherung genüge nicht. Die vom Kläger als Beweismittel vorgelegten Urkunden erbrächten den Beweis nicht, da diese nur Auskunft über die vorhergehenden Abläufe gäben.

3Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.

II.

4Die frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

51. Die kraft Gesetzes statthafte Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO iVm § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 77, 275, 284; 88, 118, 123 f.; BVerfG NJW 2005, 814, 815; , NJW-RR 2014, 179 Rn. 8 mwN).

62. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung nicht ausreichend aufgeklärt.

7a) Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass der auf der Berufungsbegründung aufgebrachte Eingangsstempel als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO Beweis dafür erbringt, dass der Schriftsatz erst an dem im Stempel angegebenen Tag beim Berufungsgericht eingegangen ist (st. Rspr.; vgl. , VersR 1995, 1467, juris Rn. 8; vom - VIII ZR 224/16, NJW 2017, 2285 Rn. 18 mwN; Beschlüsse vom - III ZB 81/04, NJW 2005, 3501, juris Rn. 8; vom - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 10). Es hat auch nicht verkannt, dass hiergegen gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der im Wege des Freibeweises zu führende Gegenbeweis zulässig ist, der die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes erfordert (st. Rspr.; vgl. nur , NJW 2017, 2285 Rn. 18 mwN).

8b) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch die Anforderungen an den nach § 418 Abs. 2 ZPO von dem Kläger zu erbringenden Beweis der Unrichtigkeit des aufgebrachten Eingangsstempels überspannt und den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt. Ob eine Berufung zulässig ist oder nicht, haben sowohl das Berufungsgericht als auch das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, wobei das Revisionsgericht weder an die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts noch an dessen Feststellungen gebunden ist (vgl. nur , NJW 2017, 2285 Rn. 19 mwN). Zwar reicht die bloße, in aller Regel nicht völlig auszuschließende Möglichkeit, dass ein Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht richtig funktioniert oder bei der Abstempelung Fehler unterlaufen, zur Führung des Beweises der Unrichtigkeit des Eingangsstempels nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht aus. Auf der anderen Seite dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei die Anforderungen an diesen Gegenbeweis nicht überspannt werden (st. Rspr.; , VersR 2000, 868, juris Rn. 7; vom - VII ZR 33/04, NJW-RR 2005, 75, juris Rn. 10; vom - III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 5; Beschlüsse vom - VIII ZB 45/02, juris Rn. 5; vom - III ZB 81/04, NJW 2005, 3501, juris Rn. 8; vom - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 10). Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (, NJW 2017, 2285 Rn. 20 mwN).

9c) Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nur unzureichend nachgekommen. Es hat sich maßgeblich auf die dienstliche Stellungnahme der beiden zuständigen Mitarbeiter der Poststelle vom gestützt. Ihr lässt sich aber weder entnehmen, auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt die Funktionsweise des Nachtbriefkastens bei der Leerung geprüft noch mit welchen Maßnahmen sichergestellt wird, dass die darin befindliche Post vom Zeitpunkt der Entnahme bis zur Abstempelung getrennt aufbewahrt wird. Insbesondere ergibt sich daraus nicht, wo genau aus dem Nachtbriefkasten entnommene Post und sonstige Eingangspost abgelegt und anschließend abgestempelt werden. Damit bleibt unklar, welche Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass die Post aus dem Nachtbriefkasten mit anderer Eingangspost vermengt wird.

10d) Darüber hinaus hat das Berufungsgericht dem Kläger keine hinreichende Gelegenheit gegeben, die Unrichtigkeit des Eingangsstempels zu beweisen. Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels, auch soweit es um die Rechtzeitigkeit der Begründung des Rechtsmittels geht, der sogenannte Freibeweis gilt (vgl. nur , NJW 2007, 1457 Rn. 8; Senatsbeschluss vom - VI ZB 30/99, NJW 2000, 814, juris Rn. 8). Danach ist das Gericht weder von einem Beweisantritt der Parteien abhängig noch auf die gesetzlichen Beweismittel beschränkt. Im Rahmen des Freibeweises können deshalb auch eidesstattliche Versicherungen berücksichtigt werden. Eine eidesstattliche Versicherung reicht allerdings für sich genommen regelmäßig nicht zum Nachweis der Fristwahrung aus (vgl. nur Senatsbeschluss vom - VI ZB 77/02, NJW 2003, 2460, juris Rn. 9; , NJW 2007, 1457 Rn. 8, 10 jeweils mwN). Die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung muss - wie auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels - zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden; an die Überzeugungsbildung werden insoweit keine geringeren oder höheren Anforderungen gestellt als sonst (vgl. , NJW 2007, 1457 Rn. 10 mwN). Nachdem das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gekommen war, dass die anwaltliche und eidesstattliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten des Klägers keinen vollen Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung erbringe, hätte es den Kläger hierauf hinweisen und ihm Gelegenheit geben müssen, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069, juris Rn. 16; BGH, Beschlüsse vom - III ZB 43/16, juris Rn. 13; vom - VIII ZB 75/06, NJW 2007, 1457 Rn. 11). Allein der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es nach Eingang der dienstlichen Stellungnahme und der Stellungnahme der Parteien zu dieser im Freibeweisverfahren entscheiden würde, genügte dafür nicht. Aus der Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom , in der er nochmals versicherte, den Brief persönlich in den Nachtbriefkasten eingeworfen zu haben, ergibt sich vielmehr, dass der Hinweis auf das Freibeweisverfahren nicht dahingehend verstanden worden war, dass nach Auffassung des Berufungsgerichts nunmehr ein konkretes Beweisangebot erforderlich war. Das Berufungsgericht wäre im Übrigen auch nicht gehindert gewesen, in der anwaltlichen Versicherung bereits ein Angebot zur Vernehmung des Anwalts als Zeugen zu sehen und ihn entsprechend zu vernehmen (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069, juris Rn. 15; BGH, Beschlüsse vom - III ZB 43/16, juris Rn. 13; vom - XII ZB 174/08, NJW-RR 2010, 217 Rn. 9, jeweils mwN).

113. Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann nach alledem keinen Bestand haben. Da es noch weiterer tatsächlicher Aufklärung bedarf, ist die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:280120BVIZB38.17.0

Fundstelle(n):
NJW 2020 S. 1225 Nr. 17
NJW 2020 S. 8 Nr. 14
JAAAH-44323