BGH Urteil v. - VIII ZR 224/16

Versäumung der Berufungsbegründungspflicht: Beweiskraft des auf einem Schriftsatz aufgebrachten Eingangsstempels des Gerichts als öffentliche Urkunde hinsichtlich des Eingangs eines in den Nachtbriefkasten eingeworfenen Schriftsatzes; Zulässigkeit des im Wege des Freibeweises zu führenden Gegenbeweises; Umfang der Aufklärungspflicht des Gerichts

Leitsatz

1. Der auf einem Schriftsatz aufgebrachte Eingangsstempel des Gerichts erbringt als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO Beweis dafür, dass ein in den Nachtbriefkasten des Gerichts eingeworfener Schriftsatz erst an dem im Stempel angegebenen Tag beim Berufungsgericht eingegangen ist. Hiergegen ist jedoch gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der im Wege des Freibeweises zu führende Gegenbeweis zulässig, der die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes erfordert (im Anschluss an , NJW 2000, 1872 unter II 1 a; Beschlüsse vom , XII ZB 110/00, NJW-RR 2001, 280; vom , XII ZB 37/06, juris Rn. 8 und vom , VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 10).

2. Dabei dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei die Anforderungen an die Erbringung dieses Gegenbeweises nicht überspannt werden. Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (im Anschluss an , aaO unter II 1 b; vom , VII ZR 33/04, NJW-RR 2005, 75 unter II 2; Beschlüsse vom , IX ZB 169/07, NJW 2008, 3501 Rn. 11 und vom , VIII ZB 13/13, aaO Rn. 14; jeweils mwN).

3. Bei einer detaillierten Schilderung der Partei über die genauen Umstände des Einwurfs des Schriftstücks darf sich das Gericht nicht mit einer pauschal gehaltenen dienstlichen Stellungnahme des/der zuständigen Mitarbeiters/in der Poststelle begnügen, die sich in der Aussage erschöpft, es seien weder Störungen festgestellt noch Fehler gemacht worden.

Gesetze: § 418 Abs 1 ZPO, § 418 Abs 2 ZPO, § 520 Abs 2 ZPO

Instanzenzug: Az: 1 S 133/16vorgehend Az: 161 C 6659/15

Tatbestand

1Die Beklagten bewohnen auf dem Grundstück der Klägerin Mieträume. Zwischen den Parteien steht im Streit, ob die Beklagten auch berechtigt sind, zwei auf dem Grundstück gelegene Garagen zu nutzen. Das Amtsgericht hat die Beklagten zur Herausgabe der Garagen (nebst Schlüsseln) und ferner dazu verurteilt, es zu unterlassen, das Grundstück mit Kraftfahrzeugen zu befahren und solche dort abzustellen. Gegen das ihr am zugestellte Urteil hat die Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit am (Montag) eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt.

2Die Berufungsbegründungsfrist ist am abgelaufen. Der zur Akte gelangte Begründungsschriftsatz trägt jedoch den Eingangsstempel "Nachtbriefkasten Sächsischer Verfassungsgerichtshof Landgericht Leipzig Eing. " und weist kein Handzeichen auf. Die Beklagten haben geltend gemacht, ihre Prozessbevollmächtigte habe am Abend des zwischen 21.35 Uhr und 21.42 Uhr die Berufungsbegründung gleichzeitig mit der in einem zweiten Umschlag befindlichen Berufungsbegründung in einem Parallelverfahren in den Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen. Der aufgebrachte Eingangsstempel sei daher unrichtig.

3Das Original der Berufungsbegründung im Parallelverfahren, die vorab per Fax übermittelt worden ist, trägt ebenfalls das aufgestempelte Eingangsdatum "" und weist wiederum kein Handzeichen auf. Hierbei wurde allerdings nicht der Nachtbriefkastenstempel, sondern ein anderer Stempel ("Tagesstempel") mit dem Aufdruck "Gemeinsame Posteinlaufstelle Sächsischer Verfassungsgerichtshof und Landgericht Leipzig" verwendet.

4Aufgrund eines am zwischen der Prozessbevollmächtigten der Beklagten und dem Vizepräsidenten des Landgerichts wegen möglicher Störungen bei der gerichtsinternen Erfassung der Schriftsätze geführten Telefonats hat dieser eine dienstliche Stellungnahme der zuständigen Bediensteten der Poststelle und des Leiters der Poststelle eingeholt. Die Stellungnahmen hat er der Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit Schreiben vom übermittelt und zugleich mitgeteilt, eine Störung der Funktion des - im Dezember 2015 turnusgemäß gewarteten - Nachtbriefkastens sei bei einer von ihm veranlassten Prüfung nicht festgestellt worden.

5Die dienstliche Erklärung der zuständigen Poststellenmitarbeiterin vom , die bezüglich Ziffer 1 vom Leiter der Poststelle gegengezeichnet ist (eine weitere Stellungnahme hat dieser nicht abgegeben), lautet wie folgt:

"Ich erkläre ausdrücklich:

1. Ich war am für das Stempeln des Nachtbriefkastens verantwortlich.

2. Ich habe keine Störung des Nachtbriefkastens festgestellt.

3. Ich habe den richtigen Stempel mit dem richtigen Datum für die Post aus dem Nachtbriefkasten verwendet."

6Bereits mit Verfügung vom hatte die Vorsitzende der Berufungskammer den Hinweis erteilt, es sei beabsichtigt, die Berufung der Beklagten wegen Versäumung der Begründungsfrist als unzulässig zu verwerfen. Auf den daraufhin gestellten Antrag der Prozessbevollmächtigten der Beklagten, eine dienstliche Stellungnahme des/der zuständigen Poststellenmitarbeiters/in einzuholen, hat die Berufungskammer sich mit einem entsprechenden Anliegen an den Vizepräsidenten des Landgerichts gewandt, sich dann aber mit dessen Schreiben vom begnügt, in dem dieser auf den Inhalt der bereits vorliegenden dienstlichen Erklärungen verwiesen hat.

7In dem genannten Schreiben hat der Vizepräsident auch zu weiteren Anträgen der Beklagtenvertreterin Stellung genommen. Soweit diese um Ermittlungen dazu gebeten hat, ob noch weitere Beschwerden bezüglich der Korrektheit eines auf den lautenden Eingangsstempels vorlägen, hat er mitgeteilt, eine Rückfrage bei den Serviceeinheiten der 1. bis 9. Zivilkammer habe ergeben, dass keine weiteren Beschwerden bezüglich der Unkorrektheit des Eingangsstempels vom bekannt geworden seien. Hinsichtlich des weiteren Begehrens, für die Nacht vom 5. April auf den die korrekte Funktionsweise des Nachtbriefkastens im Hinblick auf eine digitale Fehlfunktion der Verschlusseinrichtung zu überprüfen sowie nachzuprüfen, ob ein Vertauschen der Nacht- und Tagespost bei der Entnahme am 6. April auszuschließen sei, hat der Vizepräsident des Landgerichts unter Wiederholung seiner bereits mit Schreiben vom erfolgten Mitteilung und unter Beifügung eines Wartungsscheins ausgeführt, Störungen seien nicht festgestellt worden; der Nachtbriefkasten sei zuletzt im Dezember 2015 turnusgemäß ohne Störungsbefund gewartet worden.

8Das Berufungsgericht hat sodann die Prozessbevollmächtigte der Beklagten zum Geschehen als Zeugin vernommen, jedoch nicht deren für die Begleitumstände ebenfalls als Zeugen benannten Ehemann. Die Beklagtenvertreterin hat im Einklang mit ihrer schriftsätzlichen Darstellung als Zeugin bekundet, sie habe die Berufungsbegründung am um 21.03 Uhr fertiggestellt und ausgefertigt. Gegen 21.15 Uhr sei sie im Besitz dieses Schriftsatzes und des Begründungsschriftsatzes für das Parallelverfahren, die sich in zwei getrennten Briefumschlägen befunden hätten, mit ihrem Pkw von ihrem Wohn- und Kanzleisitz abgefahren. Sie habe dann das Fahrzeug gegen 21.35 Uhr vor der S.  -Buchhandlung geparkt. Anschließend sei sie die "paar Meter" zu Fuß gegangen und habe beide DIN-A4-Umschläge in den Nachtbriefkasten eingeworfen.

9Weitere Ermittlungen zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens und den gerichtsinternen Abläufen bei der Erfassung und Verteilung der Eingangspost hat das Landgericht nicht angestellt. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hat es die Berufung der Beklagten durch Urteil als unzulässig verworfen. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihr Klageabweisungsbegehren weiter.

Gründe

10Die Revision hat Erfolg.

I.

11Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

12Die Berufung der Beklagten sei unzulässig, da sie nicht innerhalb von zwei Monaten ab Zustellung des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils begründet worden sei. Der auf der Berufungsbegründung aufgedruckte Eingangsstempel erbringe gemäß § 418 Abs. 1 ZPO den Beweis dafür, dass der Schriftsatz nicht innerhalb der am ablaufenden Frist bei Gericht eingegangen sei, sondern erst am . Die Beklagten hätten den ihnen bezüglich der Unrichtigkeit des Eingangsstempels obliegenden Gegenbeweis nicht erbracht.

13Es stehe nicht zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass die als Zeugin vernommene Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Berufungsbegründungsschrift in der vorliegenden Sache am in den Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen habe. Zweifel an dem ordnungsgemäßen Funktionieren des - zuletzt im Dezember 2015 beanstandungsfrei gewarteten und an eine Zeitschaltuhr gekoppelten - Nachtbriefkastens, bei dem um 24 Uhr eine mittels eines Magneten festgehaltene Klappe in eine waagrechte Position falle, wodurch die vor diesem Zeitpunkt eingeworfene Post von der danach eingeworfenen Post getrennt werde, bestünden nicht. Eine Fehlfunktion des Nachtbriefkastens, die bereits von außen durch das Aufleuchten eines Lichts zu ersehen sei, habe am nach den Angaben der zuständigen Mitarbeiterin nicht festgestellt werden können.

14Auch von einer fehlerhaften Verwendung des Eingangsstempels sei nicht auszugehen. Wie eine Nachfrage des Vizepräsidenten des Landgerichts bei allen Serviceeinheiten der 1. bis 9. Zivilkammer ergeben habe, sei allein im Streitfall die Korrektheit des am aufgebrachten Eingangsstempels angezweifelt worden. Die verantwortliche Mitarbeiterin der Poststelle habe ausdrücklich erklärt, den richtigen Stempel mit dem zutreffenden Datum für die aus dem Nachtbriefkasten entnommene Post verwendet zu haben. Anhaltspunkte für ein Vertauschen der Eingangspost vom 5. April und vom bestünden danach nicht.

15Außerdem bestünden an dem von der Zeugin bekundeten zeitlichen Ablauf im Hinblick darauf, dass der Schriftsatz im Parallelverfahren keinen für die Post aus dem Nachtbriefkasten bestimmten Eingangsstempel trage, erhebliche Zweifel. Der Umstand, dass der Schriftsatz im vorliegenden Verfahren einen Stempel mit dem Aufdruck "Nachtbriefkasten", der für das Parallelverfahren bestimmte zweite Schriftsatz dagegen den (Tages-)Stempelaufdruck "Gemeinsame Posteinlaufstelle des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs und Landgerichts Leipzig" trage, lasse sich nicht mit einem technischen Defekt begründen, da "beide Briefkästen örtlich voneinander getrennt seien".

16Eine Vernehmung des Ehemanns der Prozessbevollmächtigten der Beklagten sei nicht geboten, da dieser zum Einwurf in den Nachtbriefkasten keine Angaben mache könne. Auch die durch Angaben zur Ortung ihres Mobiltelefons unter Beweis gestellte Ortsabwesenheit der Prozessbevollmächtigten der Beklagten zum fraglichen Zeitpunkt könne unterstellt werden. Sie sei nicht geeignet, den rechtzeitigen Einwurf des Begründungsschriftsatzes zu belegen. Die anwaltlich versicherte Erklärung der Beklagtenvertreterin zu den von ihr im Postausgangsbuch am eingetragenen Vermerken führe ebenfalls zu keiner abweichenden Würdigung.

II.

17Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der gegebenen Begründung hätte das Berufungsgericht nicht von einer Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung (§ 520 Abs. 2 ZPO) ausgehen dürfen. Es hätte sich nicht mit den angestellten rudimentären Ermittlungen begnügen dürfen, sondern war gehalten, die Abläufe bei der Entnahme, der Sortierung und der Verteilung der Eingangspost im Allgemeinen und - soweit möglich - konkret für den 5./ aufzuklären.

181. Frei von Rechtsfehlern hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass der auf die Berufungsbegründung aufgebrachte Eingangsstempel "Nachtbriefkasten Sächsischer Verfassungsgerichtshof Landgericht Leipzig Eing. " als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO Beweis dafür erbringt, dass der Schriftsatz erst an dem im Stempel angegebenen Tag beim Berufungsgericht eingegangen ist (st. Rspr.; vgl. , VersR 1995, 1467 unter I; vom - IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872 unter II 1 a; Beschlüsse vom - III ZB 81/04, NJW 2005, 3501 unter II; vom - XII ZB 37/06, juris Rn. 8; vom - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 10). Es hat auch nicht verkannt, dass hiergegen gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der im Wege des Freibeweises zu führende Gegenbeweis zulässig ist, der die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes erfordert (st. Rspr.; vgl. , aaO; Beschlüsse vom - XII ZB 110/00, NJW-RR 2001, 280; vom - III ZB 81/04, aaO; vom - XII ZB 37/06, aaO; vom - VIII ZB 13/13, aaO; jeweils mwN).

192. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht jedoch die Anforderungen an den nach § 418 Abs. 2 ZPO von den Beklagten zu erbringenden Beweis der Unrichtigkeit des aufgebrachten Eingangsstempels überspannt und den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt. Ob eine Berufung zulässig ist oder nicht, haben sowohl das Berufungsgericht als auch das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (, aaO; vom - IX ZR 471/00, juris Rn. 4; jeweils mwN), wobei das Revisionsgericht weder an die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (, aaO; vom - VI ZR 198/76, VersR 1978, 155 unter II 2 mwN; Beschluss vom - XII ZB 177/96, NJW 1997, 1312 unter II mwN) noch an dessen Feststellungen (, NJW-RR 1992, 1338 unter II 2 mwN) gebunden ist.

20a) Zwar reicht die bloße, in aller Regel nicht völlig auszuschließende Möglichkeit, dass ein Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht richtig funktioniert oder bei der Abstempelung Fehler unterlaufen, zur Führung des Beweises der Unrichtigkeit des Eingangsstempels nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht aus. Auf der anderen Seite dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei die Anforderungen an diesen Gegenbeweis nicht überspannt werden (st. Rspr.; , aaO unter II 1 b; vom - VII ZR 33/04, NJW-RR 2005, 75 unter II 2; vom - III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 5; Beschlüsse vom - VIII ZB 45/02, juris Rn. 5; vom - III ZB 81/04, aaO; vom - VIII ZB 13/13, aaO; jeweils mwN). Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (, aaO; vom - VII ZR 33/04, aaO; Beschlüsse vom - IX ZB 169/07, NJW 2008, 3501 Rn. 11; vom - VIII ZB 13/13, aaO Rn. 14; jeweils mwN).

21b) Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nur unzureichend nachgekommen. Es hat sich maßgeblich auf die inhaltlich karge dienstliche Stellungnahme der zuständigen Mitarbeiterin der Poststelle vom gestützt, deren Aussagegehalt sich in der allgemein gehaltenen Erklärung erschöpft, am für das Stempeln des Nachtbriefkastens verantwortlich gewesen zu sein, keine Störung des Nachtbriefkastens festgestellt und den richtigen Stempel mit dem richtigen Datum für die Post aus dem Nachtbriefkasten verwendet zu haben. Mit dieser, inhaltlich nicht ergiebigen Stellungnahme hätte sich das Berufungsgericht indessen, wie die Revision zu Recht geltend macht, nicht zufrieden gegeben dürfen (vgl. auch , aaO).

22aa) Es fehlen bereits konkrete Angaben zur allgemeinen Organisation der Abläufe bei der Leerung des Nachtbriefkastens, der Sortierung der Post und der Aufbringung eines Eingangsstempels. Der Stellungnahme der zuständigen Poststellenmitarbeiterin lässt sich weder entnehmen, auf welche Weise und zu welchen Zeitpunkten die Funktionsweise des Nachtbriefkastens bei der Leerung geprüft noch mit welchen Maßnahmen sichergestellt wird, dass die darin in unterschiedlichen Fächern befindliche Post vom Zeitpunkt der Entnahme bis zur Abstempelung getrennt aufbewahrt wird. Insbesondere haben weder die zuständige Mitarbeiterin noch der Leiter der Poststelle Angaben dazu gemacht, wo genau eine aus dem Nachtbriefkasten entnommene Post und die sonstige Eingangspost abgelegt und anschließend abgestempelt werden und welcher Stempel für welche Eingangspost vorgesehen ist.

23Auch sind keine Angaben dazu erfolgt, welche Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass die Post aus dem Nachtbriefkasten mit anderweitiger Eingangspost (etwa durch ein Verrutschen von Stapeln) vermengt wird oder dass ein eingehendes Schriftstück zunächst unbemerkt bleibt und infolgedessen zu einem späteren Zeitpunkt einen unzutreffenden Stempel erhält (vgl. , juris Rn. 5 mwN). Dem Berufungsurteil lässt sich nicht entnehmen, dass es sich bezüglich dieser von den Beklagten ausdrücklich als aufklärungsbedürftig gerügten Organisationsabläufe auf andere Weise ausreichende Kenntnis verschafft hat. Es hat sich mit der Beschreibung der - bereits vom Klägervertreter dargestellten - Funktionsweise des Nachtbriefkastens und einer Skizzierung des Leerungsvorgangs begnügt. Außerdem ist es offensichtlich von der nicht näher begründeten und nach der Darstellung der Beklagten sowie der Revision auch unzutreffenden Annahme ausgegangen, es gäbe zusätzlich einen vom Nachtbriefkasten örtlich getrennten weiteren Briefkasten.

24bb) Weiter hat das Berufungsgericht, was die Revision ebenfalls zu Recht rügt (und die Beklagten schon in der Vorinstanz geltend gemacht haben), nicht berücksichtigt, dass eine Schilderung der allgemeinen Organisationabläufe für sich genommen nicht ausreicht, sondern auch in geeigneter Weise (jedenfalls im Streitfall vorzugsweise durch eine eingehende persönliche Anhörung der zuständigen Mitarbeiterin) der Frage nachzugehen ist, ob die mit der Leerung des Nachtbriefkastens und der Erfassung der Post betraute Mitarbeiterin noch über eine konkrete Erinnerung über die Geschehnisse am verfügt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 42/96, NJW 1996, 2038 unter b; vom - VIII ZB 45/02, aaO Rn. 6). Zu einer solchen Aufklärung hätte schon im Hinblick auf die pauschal gehaltene dienstliche Erklärung der Mitarbeiterin, der eine detaillierte Schilderung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten gegenübersteht, Anlass bestanden. Erst recht gilt dies vor dem Hintergrund, dass die Beklagten geltend gemacht haben, die Mitarbeiterin der Poststelle habe sich bei Abgabe ihrer Stellungnahme nach Auskunft des Vizepräsidenten des Landgerichts noch im Krankenstand befunden. Nach derzeitigem Stand der Dinge kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Mitarbeiterin ihre dienstliche Stellungnahme ohne konkreten Zugriff auf die in Frage stehenden Schriftstücke abgegeben hat und damit auf Mutmaßungen angewiesen war.

25cc) Da das Landgericht somit bereits die naheliegenden dienstlichen Erkenntnisquellen nicht ausgeschöpft hat, hätte es schon aus diesem Grunde nicht die abweichenden Bekundungen der als Zeugin vernommenen Prozessbevollmächtigten der Beklagten als nicht nachvollziehbar bewerten dürfen. Es trifft zwar zu, dass sich die auf den beiden Schriftsätzen befindlichen unterschiedlichen, jeweils aber das Datum vom ausweisenden Eingangsstempel nur dann mit der Darstellung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten in Einklang bringen lassen, wonach sie beide, sich in getrennten Umschlägen befindlichen Schriftstücke zusammen in den Nachtstunden des in den Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen habe, wenn der Posteingangsstelle ein Doppelfehler unterlaufen wäre. Zum einen müsste auf die Berufungsbegründung in der vorliegenden Sache versehentlich der Nachtbriefkastenstempel des Folgetages aufgebracht worden sein und zum anderen müsste der Schriftsatz in dem weiteren Verfahren irrtümlicherweise einen für sonstige Eingangspost bestimmten (Tages-)Stempelaufdruck erhalten haben.

26Nach derzeitigem Erkenntnisstand kann aber mangels Aufklärung der allgemeinen Organisationsabläufe und der konkreten Verhältnisse am nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einer solchen doppelten Fehlstempelung gekommen ist. Denkbar wäre etwa, dass bei der Erfassung der unterschiedlichen Arten der Eingangspost (möglicherweise unbemerkt) einzelne Poststücke verrutscht und infolgedessen die Berufungsbegründung im vorliegenden Verfahren mit einem falschen Nachtbriefkastenstempelaufdruck versehen worden ist. Ebenso wäre es möglich, dass der Schriftsatz in der Parallelsache zunächst gar nicht abgestempelt und erst später einen nicht das richtige Eingangsdatum ausweisenden Stempel erhalten hat.

27c) Weiter ist das Berufungsgericht nicht allen erheblichen Beweisangeboten der Prozessbevollmächtigten der Beklagten nachgegangen. Die Beklagten haben sich unter substantiierter Darlegung des von ihnen behaupteten Geschehensablaufs darauf berufen, ihre Prozessbevollmächtigte habe sich am gegen 21.15 Uhr von ihrem Ehemann und Mitinhaber der gemeinsamen Rechtsanwaltskanzlei mit der Bemerkung verabschiedet, die beiden fristgebundenen Schriftsätze in dem vorliegenden und dem parallel geführten Berufungsverfahren "noch schnell beim Landgericht" einwerfen zu wollen, und habe gemeinsam mit diesem bei ihrer Rückkehr festgestellt, dass sie sich gegen 22 Uhr wieder in dem als Kanzlei und als Wohnung genutzten Anwesen eingefunden und daher die Fahrt weniger Zeit als ursprünglich angenommen in Anspruch genommen habe.

28Dieses Beweisangebot hat das Berufungsgericht für unerheblich gehalten, weil es sich nur auf die Begleitumstände, nicht aber auf den Einwurf der Schriftstücke in den Nachtbriefkasten als solchen beziehe. In Anbetracht der gewählten Formulierung des Anschlusssatzes ("Auch die unter Beweis gestellte Ortsabwesenheit der Prozessbevollmächtigten kann unterstellt werden") steht zu vermuten, dass das Berufungsgericht die von ihm für unerheblich erachteten Begleitumstände als wahr unterstellen wollte. Dabei hat es aber nicht bedacht, dass eine Zeugenaussage des Ehemanns der Prozessbevollmächtigten der Beklagten über die beschriebenen Begleitumstände und etwaige hierbei geschilderte weitere Einzelheiten für die Glaubhaftigkeit der Bekundungen der Prozessbevollmächtigen der Beklagten von entscheidender Bedeutung sein können. Es hätte daher von der hierzu beantragten Zeugenvernehmung nur dann absehen dürfen, wenn es die von den Beklagten insoweit aufgestellten Behauptungen mit dem ihnen von diesen beigelegten Gewicht als wahr unterstellt hätte (vgl. Senatsurteil vom - VIII ZR 270/15, WuM 2017, 285 Rn. 26).

29d) Darüber hinaus hat das Berufungsgericht bei seiner Beweiswürdigung, an die das Revisionsgericht - wie oben unter II 2 ausgeführt - nicht gebunden ist, unberücksichtigt gelassen, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten eine detaillierte Schilderung der Geschehnisse am abgegeben und dabei auch detaillierte Angaben zur Bearbeitung und zum Einwurf der das Parallelverfahren betreffenden Berufungsbegründung gemacht hat, obwohl ihr zu diesem Zeitpunkt schon bekannt war, dass der auf diesen Schriftsatz aufgebrachte Stempel nicht das Eingangsdatum auswies, sondern einen - die Erbringung des von ihr verlangten Beweis des Gegenteils noch weiter erschwerenden - Tagesstempel mit dem Datum . Falls sie bestrebt gewesen wäre, eine unwahre, aber schlüssige Erklärung dafür zu liefern, warum der im vorliegenden Verfahren gefertigte und nach ihrer Darstellung in den Nachtbriefkasten eingeworfene Schriftsatz ein unrichtiges Eingangsdatum erhalten hat, hätte es nahegelegen, sich allein auf eine dieses Schriftstück betreffende Fehlstempelung zu berufen und nicht noch den weiteren Schriftsatz mit dem darauf aufgebrachten Tagesstempel von sich aus anzusprechen und damit einen - noch schwerer auszuräumenden - Doppelfehler des Landgerichts ins Spiel zu bringen. Dass sie sich gegen eine solche Vereinfachung der Geschehensabläufe entschieden hat, spricht - anders als das Berufungsgericht meint - eher für als gegen die Glaubhaftigkeit ihrer detaillierten und durch zusätzliche Indizien (Ortungsangaben bezüglich ihres Mobiltelefons; Kalendereintragung) belegten Aussage.

III.

30Nach alledem hat das angefochtene Urteil keinen Bestand; es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, da das Berufungsgericht bislang keine ausreichenden Feststellungen zu der strittigen Frage des Zeitpunkts des Eingangs der Berufungsbegründung getroffen hat. Sie ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Anders als die Revision meint, ist der Senat nicht gehalten, die fehlenden Feststellungen selbst nachzuholen. Vielmehr ist es schon im Hinblick auf die größere Orts- und Sachnähe sachgerecht, die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen selbst trifft (vgl. , juris Rn. 10; Beschlüsse vom - IX ZB 10/92, aaO unter II 3; vom - XII ZB 100/92, FamRZ 1993, 313 unter [II] 1 b; vgl. ferner Urteile vom - VII ZR 33/04, aaO unter 4; vom - V ZR 254/10, NJW-RR 2012, 701 Rn. 11 ff.; Beschlüsse vom - XII ZB 37/06, aaO Rn. 12; vom - VIII ZB 44/10, juris Rn. 11; vom - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 19 f.).

31Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:

32Falls das Berufungsgericht nach Durchführung der erforderlichen Ermittlungen nach wie vor nicht die volle richterliche Überzeugung zu gewinnen vermag, dass die Berufungsbegründung entgegen dem Eingangsstempel rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen ist, wird es ergänzend zu prüfen haben, ob nicht wenigstens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu , VersR 1983, 491 mwN) dafür spricht, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Berufungsbegründung noch am in den Nachtbriefkasten eingeworfen hat und damit ein fehlendes Verschulden an der Fristversäumnis glaubhaft gemacht worden wäre (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom - VIII ZB 102/06, juris Rn. 3; vom - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 13 - 20; vom - VIII ZB 57/15, NJW 2016, 2042 Rn. 15 [jeweils für eine Übermittlung per Telefax]), so dass den Beklagten gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:310517UVIIIZR224.16.0

Fundstelle(n):
NJW 2017 S. 2285 Nr. 31
SAAAG-48474