Beitragspflichten zur Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft - Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom (SokaSiG) - Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist
Gesetze: § 236 Abs 2 S 2 ZPO, § 234 Abs 3 ZPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 7 Abs 7 SokaSiG
Instanzenzug: ArbG Wiesbaden Az: 3 Ca 267/15 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 12 Sa 1014/16 Urteilnachgehend Az: 1 BvR 2315/19 Beschluss
Tatbestand
1Die Parteien streiten über Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes.
2Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes verpflichtet. Er nimmt den Beklagten auf der Grundlage der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe in der jeweils maßgeblichen Fassung (VTV) auf Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer in der Zeit von Dezember 2010 und Februar bis Dezember 2011 in Höhe von 9.925,26 Euro in Anspruch.
3Der nicht originär tarifgebundene Beklagte unterhält im bayerischen M einen Gewerbebetrieb, in dem Abbruch- und Entkernungsarbeiten ausgeführt werden. In einem Schreiben vom teilte der Beklagte dem Kläger ua. mit, dass er nur „Abbruch- und Entkernarbeiten“ ausführe.
4Der Beklagte überwies an den Kläger im Januar 2016 einen Betrag von 10.000,00 Euro und im Februar 2016 einen weiteren Betrag von 5.109,41 Euro.
5Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Betrieb des Beklagten unterfalle dem VTV, der jedenfalls aufgrund des SokaSiG zur Anwendung komme. Zu mehr als 50 % der persönlichen Arbeitszeit, die zusammengerechnet auch mehr als 50 % der betrieblichen Gesamtarbeitszeit ausgemacht habe, hätten die Arbeitnehmer des Beklagten den Abbruch von Estrichen, Bodenplatten und Mauerwerk sowie Entkernungsarbeiten durch Entfernung von Fliesen, Elektrokabeln, Lüftungskanälen, Abhangdecken, Trennwänden, Türen, Fenstern und Sanitärgegenständen ausgeführt. Damit hätten sie bauliche Leistungen iSd. § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 29 VTV erbracht.
6Der Kläger hat beantragt,
7Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat behauptet, die Parteien hätten am einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen. In Erfüllung dieses Vergleichs habe er 15.109,41 Euro an den Kläger gezahlt. Er hat die Klage für unbegründet gehalten. Sein Betrieb unterfalle schon nicht dem betrieblichen Geltungsbereich des VTV. Der Kläger habe lediglich Behauptungen „ins Blaue hinein“ aufgestellt. Abbruch- und Entkernungsarbeiten unterfielen nicht dem VTV. Jedenfalls sei der VTV nicht anzuwenden. Die Allgemeinverbindlicherklärung sei unwirksam. Das SokaSiG sei verfassungswidrig.
8Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiterhin das Ziel, dass die Klage abgewiesen wird.
Gründe
9Die Revision ist unbegründet.
10I. Der Senat kann jedenfalls bei unterstellter Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist davon ausgehen, dass die Berufung des Beklagten zulässig ist.
111. Die Zulässigkeit der Berufung ist Prozessfortsetzungsvoraussetzung für das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung. Sie ist vom Revisionsgericht deshalb von Amts wegen zu prüfen (st. Rspr., vgl. - Rn. 13 mwN).
122. Eine zulässige Berufung setzt ua. voraus, dass die Berufungsschrift als bestimmender Schriftsatz von einem bei einem Landesarbeitsgericht nach § 11 Abs. 4 Satz 1, Satz 2 und Satz 4 ArbGG vertretungsberechtigten Prozessbevollmächtigten nach eigenverantwortlicher Prüfung genehmigt und eigenhändig unterschrieben ist, § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 519 Abs. 4, § 130 Nr. 6 ZPO (vgl. für die Berufungsbegründung - Rn. 16). Der Schriftzug, mit dem die Berufungsschrift abschließt, ist erheblich kürzer und weniger ausgeprägt als andere Schriftzüge, mit denen Schriftsätze dieses Rechtsstreits unterzeichnet sind. Er begründet Zweifel daran, ob es sich um eine ordnungsgemäße Unterschrift oder ein bloßes Handzeichen handelt (vgl. zu den Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Unterschrift - Rn. 19 mwN, BAGE 151, 66).
133. Selbst wenn der Schriftzug nicht den Anforderungen des § 130 Nr. 6 ZPO genügen sollte, geht der Senat von einer zulässigen Berufung aus. Es kann unterstellt werden, dass nach §§ 233, 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO in die Berufungsfrist wieder einzusetzen ist.
14a) Wiedereinsetzung kann nach § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO auch ohne Antrag des Beklagten von Amts wegen gewährt werden. Dass der Beklagte die versäumte Prozesshandlung der Berufungseinlegung nicht ausdrücklich nachgeholt hat, ist unschädlich. Er hat sie bereits vorgenommen, indem er eine formwirksame Berufungsbegründung eingereicht hat. In der noch ordnungsgemäß unterzeichneten Berufungsbegründung ist zugleich die Prozesshandlung der Berufungseinlegung enthalten ( - Rn. 11; - III ZB 44/02 - zu II 1 b der Gründe; - VII ZB 25/99 - zu 3 der Gründe).
15b) Der Wiedereinsetzung steht nicht die Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO entgegen. Danach kann eine Wiedereinsetzung nur innerhalb eines Jahres nach Ablauf der versäumten Frist beantragt werden.
16aa) Ungeachtet des absoluten Charakters von § 234 Abs. 3 ZPO ist diese Bestimmung nicht anzuwenden, wenn sonst der Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt wäre (vgl. - zu III 2 b der Gründe, BVerfGK 3, 169).
17bb) Dies wäre der Fall, wenn der vom Landesarbeitsgericht und vom Arbeitsgericht als Unterschrift iSv. § 130 Nr. 6 ZPO gebilligte Schriftzug erstmals vom Revisionsgericht außerhalb der Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO als nicht ausreichendes Handzeichen eingestuft würde und der betroffenen Partei keine Reaktionsmöglichkeit mehr eröffnet wäre.
18(1) Prozessbevollmächtigte müssen zwar die höchstrichterlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze kennen. Der verfassungsrechtlich gebotene Vertrauensschutz kann jedoch verletzt sein, wenn derselbe Spruchkörper die von ihm längere Zeit gebilligte Form einer Unterzeichnung ohne Vorwarnung nicht mehr hinnehmen will ( - Rn. 11 mwN; vgl. ferner - Rn. 30, BAGE 151, 66).
19(2) Geschütztes Vertrauen wäre auch verletzt, wenn erst das Revisionsgericht die von den zuvor befassten Gerichten gebilligte Praxis der Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze beanstandete und eine Korrektur dieses Mangels unter Berufung auf die Frist des § 234 Abs. 3 ZPO ausschlösse.
20(3) Das Landesarbeitsgericht hat die knappen Schriftzüge, mit denen der Prozessbevollmächtigte des Beklagten gezeichnet hat, zumindest in zwei vor dem Senat anhängigen Streitigkeiten unbeanstandet gelassen. Daher kann von einem schutzwürdigen Vertrauen ausgegangen werden, das der Anwendung des § 234 Abs. 3 ZPO entgegensteht.
21c) Die Sache muss nicht an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden. Der Senat kann unterstellen, dass in die Berufungsfrist wieder einzusetzen ist.
22aa) Nach § 237 ZPO ist für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand grundsätzlich das Gericht zuständig, dem die Entscheidung über die nachgeholte Prozesshandlung, hier also die Berufungseinlegung, zusteht. Diese Zuständigkeit gilt sowohl für einen ausdrücklich gestellten Wiedereinsetzungsantrag als auch für eine Wiedereinsetzung von Amts wegen nach § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO. Angesichts der grundlegenden Entscheidungskompetenz des Berufungsgerichts kann in der Revisionsinstanz nur in Ausnahmefällen davon abgesehen werden, die Sache zur Entscheidung über die Wiedereinsetzung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (vgl. - Rn. 23; - 8 AZR 426/14 - Rn. 33 mwN; - Rn. 11 ff. mwN).
23bb) Ein solcher Ausnahmefall kann angenommen werden, wenn ein Wiedereinsetzungsgrund nach Aktenlage unzweifelhaft ist oder die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zugunsten der säumigen Partei unterstellt werden kann (vgl. - Rn. 24; - 8 AZR 426/14 - Rn. 34, 37 mwN). Die Wiedereinsetzung kann zB unterstellt werden, wenn die Entscheidung über die Revision materiell-rechtlich zu demselben Ergebnis führt wie die Versagung der Wiedereinsetzung ( - Rn. 39 mwN).
24cc) Im Streitfall kann die Wiedereinsetzung zugunsten des Beklagten unterstellt werden. Die Entscheidung in der Sache und die Ablehnung der Wiedereinsetzung führen materiell zu demselben Ergebnis. Da die Klage zulässig und begründet ist, ergeht in jedem Fall ein die Ansprüche zuerkennendes Urteil. Der Senat kann dies, ohne in Beurteilungsspielräume des Landesarbeitsgerichts einzugreifen, selbst entscheiden. In der unterstellten Wiedereinsetzung liegt deshalb keine Entscheidung zulasten des Klägers.
25II. Der Kläger hat die zulässige Klage nicht geändert, indem er die Beitragsforderungen in der Berufungsinstanz nicht mehr nur auf die maßgebliche Allgemeinverbindlicherklärung gestützt hat, sondern auch auf § 7 Abs. 7 iVm. Anlage 32 SokaSiG.
261. Der prozessuale Streitgegenstand umfasst alle konkurrierenden materiell-rechtlichen Ansprüche. Er ändert sich auch dann nicht, wenn der Kläger erst im Verlauf des Rechtsstreits eine wirksame Anspruchsgrundlage benennt. Rechtliche Begründungen innerhalb desselben Tatgeschehens betreffen allein die Normebene und damit die dem Gericht obliegende rechtliche Bewertung des Tatsachenkomplexes ( - Rn. 11; - 10 AZR 318/17 - Rn. 14; - 10 AZR 121/18 - Rn. 27; - Rn. 30).
272. Deshalb handelt es sich hier nicht um eine Klageänderung. Beitragsansprüche nach dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe, für dessen Geltungserstreckung sowohl eine Allgemeinverbindlicherklärung als auch § 7 SokaSiG in Betracht kommen, werden von demselben den Streitgegenstand umgrenzenden Lebenssachverhalt erfasst ( - Rn. 18 ff.). Die Ansprüche stützen sich auf dasselbe Tatgeschehen. Sie sind weder in ihren materiell-rechtlichen Voraussetzungen noch in ihren Folgen oder strukturell grundlegend verschieden ausgestaltet ( - Rn. 12; - 10 AZR 318/17 - Rn. 15).
28III. Die Klage ist begründet. Der Kläger hat für die Monate Dezember 2010 und Februar bis Dezember 2011 Anspruch auf die geltend gemachten Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer aus § 7 Abs. 7 iVm. Anlage 32 SokaSiG. Die Anlage 32 enthält den vollständigen Text des VTV 2009 (vgl. den Anlageband zum BGBl. I Nr. 29 vom S. 337 bis 350). Die in § 7 Abs. 7 SokaSiG angeordnete Geltungserstreckung des VTV auf nicht Tarifgebundene ist aus Sicht des Senats verfassungsgemäß. Die Beitragspflichten des Beklagten folgen aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. V Nr. 29, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 18 Abs. 2 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2009. Die Voraussetzungen für eine Beitragspflicht des Beklagten sind erfüllt.
291. Der im Freistaat Bayern gelegene Betrieb des Beklagten unterfällt dem räumlichen Geltungsbereich des VTV 2009 (§ 1 Abs. 1 VTV 2009). Die bei dem Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer werden vom persönlichen Geltungsbereich des VTV 2009 erfasst (§ 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VTV 2009). Der betriebliche Geltungsbereich ist nach § 1 Abs. 2 VTV 2009 eröffnet. Im Betrieb des Beklagten werden arbeitszeitlich überwiegend bauliche Leistungen iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 29 VTV 2009 ausgeführt.
30a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats wird ein Betrieb vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfasst, wenn in ihm arbeitszeitlich überwiegend Tätigkeiten ausgeführt werden, die unter die Abschnitte I bis V des § 1 Abs. 2 VTV fallen. Betriebe, die überwiegend eine oder mehrere der in den Beispielen des § 1 Abs. 2 Abschn. V VTV genannten Tätigkeiten ausführen, fallen unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV, ohne dass die Erfordernisse der allgemeinen Merkmale der Abschnitte I bis III geprüft werden müssen. Nur wenn in dem Betrieb arbeitszeitlich überwiegend nicht die in den Abschnitten IV und V genannten Beispielstätigkeiten versehen werden, muss darüber hinaus untersucht werden, ob die ausgeführten Tätigkeiten die allgemeinen Merkmale der Abschnitte I bis III erfüllen ( - Rn. 15; - 10 AZR 318/17 - Rn. 18; - 10 AZR 428/13 - Rn. 10).
31b) Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, dass im Betrieb des Beklagten zeitlich überwiegend Tätigkeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 29 VTV 2009 ausgeübt werden. Der Kläger hat schlüssig vorgetragen, dass im Betrieb des Beklagten zu mehr als 50 % der betrieblichen Gesamtarbeitszeit bauliche Leistungen in Form von Abbruch- und Entkernungsarbeiten erbracht werden. Die Darlegungen des Klägers sind nicht „ins Blaue hinein“ erfolgt. Der Kläger hat sich auf ein Schreiben des Beklagten bezogen, in dem dieser selbst erklärt, „Abbruch- und Entkernarbeiten“ auszuführen. Diesem Vortrag ist der Beklagte nicht in entscheidungserheblicher Weise entgegengetreten. Die insoweit erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch. Der Senat sieht von einer Begründung nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 564 Satz 1 ZPO ab.
322. Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger Sozialkassenbeiträge für den Anspruchszeitraum von insgesamt 9.925,26 Euro verlangen kann. Von den auf den Eigenmeldungen des Beklagten beruhenden Sozialkassenbeiträgen für gewerbliche Arbeitnehmer entfallen 853,21 Euro auf den Monat Dezember 2010 und weitere 9.072,05 Euro auf die Monate Februar bis Dezember 2011.
333. Die dem Kläger zustehenden Ansprüche sind nicht aufgrund eines Vergleichs erloschen. Die Parteien haben keinen neuen Schuldgrund geschaffen, indem sie einen Vergleich über die bestehenden Beitragsansprüche geschlossen haben (zu der schuldumschaffenden Wirkung eines Vergleichs - Rn. 31, BAGE 149, 60). Der für den Abschluss eines Vergleichs darlegungs- und beweisbelastete Beklagte hat nicht substantiiert dargelegt, dass eine solche Einigung erzielt worden wäre. Er kann bereits die für den Kläger handelnde Person nicht namentlich benennen, mit der er die Vereinbarung getroffen haben will.
344. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist es, dass die Vorinstanzen angenommen haben, die geltend gemachten Beitragsansprüche seien nicht erfüllt. Sie sind davon ausgegangen, der darlegungs- und beweisbelastete Beklagte habe nicht substantiiert vorgetragen, dass die Zahlungen erfolgt seien, um die streitgegenständlichen Ansprüche zu tilgen. Der Senat braucht nicht darüber zu entscheiden, ob ein solcher Vortrag vom Beklagten mit Blick auf § 18 Abs. 1 Satz 2 des im Zeitpunkt der Zahlung maßgeblichen VTV vom idF vom (VTV 2015) überhaupt zu verlangen ist. Nach § 18 Abs. 1 Satz 2 VTV 2015 sind §§ 366, 367 BGB nicht anzuwenden. Selbst wenn der tarifvertragliche Ausschluss unwirksam sein sollte, hätte der Beklagte keinen ausreichenden Tatsachenvortrag erbracht, um die Tilgungsreihenfolge der §§ 366, 367 BGB bestimmen zu können.
35a) Ist der Ausschluss wirksam, besteht ein durch § 315 BGB begrenztes einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Klägers als Gläubiger der Beiträge (Staudinger/Olzen [2016] § 366 Rn. 51). Eine ausdrückliche Erklärung, welche Forderungen mit den geleisteten Zahlungen getilgt werden sollen, hat der Kläger nicht abgegeben. Durch sein prozessuales Verhalten hat er jedoch konkludent zu verstehen gegeben, dass er die Zahlungen jedenfalls nicht zur Tilgung der streitgegenständlichen Ansprüche verstanden wissen will. Er hat den Rechtsstreit weder für erledigt erklärt noch die Klage zurückgenommen, sondern die Ansprüche weiterverfolgt. Dass dieses Verhalten angesichts der zahlreichen Verbindlichkeiten des Beklagten gegenüber dem Kläger unbillig iSv. § 315 BGB wäre, ist nicht ersichtlich.
36b) Für den Fall, dass die Tarifvertragsparteien §§ 366, 367 BGB nicht wirksam abbedingen konnten und die Vorschriften anzuwenden sind, hat der Beklagte keinen ausreichenden Sachvortrag erbracht. Der gezahlte Betrag war nicht ausreichend, alle seine Verbindlichkeiten nebst Zinsen zu tilgen. Der Beklagte hätte jedenfalls die Tatsachen vortragen müssen, aufgrund derer die Erfüllungswirkung anhand der gesetzlichen Tilgungsreihenfolgen nach § 366 Abs. 2 und § 367 Abs. 1 BGB zu ermitteln gewesen wäre.
375. Der Beklagte kann der Durchsetzbarkeit der Klageforderung mit Blick auf die von ihm geleisteten Zahlungen von insgesamt 15.109,41 Euro nicht das sog. Dolo-agit-Gegenrecht entgegenhalten (vgl. zu der Rechtsnatur - Rn. 38 f., BAGE 162, 221). Danach verstößt gegen Treu und Glauben, wer eine Leistung verlangt, die er sofort zurückgewähren muss („dolo agit qui petit quod statim redditurus est“, vgl. - Rn. 74 mwN; - Rn. 12). Dass dem Beklagten aufgrund der zahlreichen Beitrags- und Zinsstreitigkeiten ein wie auch immer gearteter Anspruch auf Rückgewährung der geleisteten Zahlungen aus Leistungskondiktion zusteht, ist nicht ersichtlich.
386. Ungeachtet der fehlenden Tarifbindung ist der Beklagte an den VTV 2015 nach § 5 Abs. 4 TVG gebunden. Der Senat hat die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV 2015 vom (BAnz. AT B4) für wirksam befunden ( - Rn. 27 ff.). Der Beschluss wirkt nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG für und gegen jedermann und damit auch für und gegen den Beklagten.
397. Gegen die Geltungserstreckung des VTV 2009 auf den nicht tarifgebundenen Beklagten durch § 7 Abs. 7 iVm. Anlage 32 SokaSiG bestehen aus Sicht des Senats keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. - Rn. 42 ff.).
40a) Die erhobene Verfahrensrüge des Beklagten, das Landesarbeitsgericht hätte das SokaSiG nicht ohne Hinweis als Geltungsgrund für den VTV 2009 heranziehen dürfen, hat der Senat geprüft, aber nicht als durchgreifend erachtet. Von einer Begründung sieht der Senat nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 564 Satz 1 ZPO ab.
41b) § 7 SokaSiG ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar (vgl. - Rn. 30 ff.; - 10 AZR 121/18 - Rn. 45 ff.). Etwaige Eingriffe in die Tarifautonomie wären jedenfalls gerechtfertigt. Sie erwiesen sich als verhältnismäßig. Dem Gesetzgeber steht ein Prognose- und Beurteilungsspielraum zu. Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber mit den Erwägungen, die dem SokaSiG zugrunde liegen, den ihm eröffneten Spielraum nicht überschritten.
42c) § 7 SokaSiG verstößt aus Sicht des Senats nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Das gilt nicht nur mit Blick auf den Ausschluss möglicher Rückforderungsansprüche (vgl. - Rn. 56 ff.), sondern auch hinsichtlich der Beitragspflicht selbst. Ein möglicher Eingriff wäre jedenfalls gerechtfertigt ( - Rn. 54 ff. mwN). Da sich der Zugriff auf das Vermögen betroffener Arbeitgeber als rechtmäßig erweist, bleibt für den vom Beklagten angenommenen enteignungsgleichen Eingriff kein Raum.
43d) § 7 SokaSiG verletzt nach Auffassung des Senats nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden ( - Rn. 68 ff.). Der gegenteiligen Ansicht des Beklagten stimmt der Senat nicht zu.
44aa) Der Beklagte musste wie alle Betroffenen mit der nachträglichen - gesetzlichen - Bestätigung der Beitragspflicht aufgrund der Verfahrenstarifverträge rechnen. Sein Einwand, die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Fallgruppe der überragenden Belange des Gemeinwohls, nach der eine echte Rückwirkung ausnahmsweise zulässig ist, sei nicht einschlägig, trägt nicht. Ob der Sachverhalt einer der von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen zugeordnet werden kann, ist unerheblich, weil sie nicht abschließend sind (vgl. - Rn. 64, BVerfGE 135, 1; - Rn. 47).
45bb) Mit dem SokaSiG hat der Gesetzgeber die in der Entscheidung vom (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213) festgestellten formellen Mängel geheilt ( - Rn. 48; - 10 AZR 121/18 - Rn. 94 ff.). Die Ausführungen der Revision veranlassen zu keiner anderen Bewertung.
46cc) Bis zum bestand keine Grundlage für ein Vertrauen auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV in der Fassung der Anlage 32 des SokaSiG, auf die § 7 Abs. 7 SokaSiG verweist (vgl. - Rn. 77 ff.). Es entsprach der weit überwiegenden Rechtsansicht, dass diese Fassung des VTV wirksam für allgemeinverbindlich erklärt worden war. Die von dem Beklagten und anderen in Anspruch genommenen Arbeitgebern gehegten Zweifel waren keine geeignete Grundlage für die Bildung von Vertrauen dahin, dass auf der Annahme der fehlenden Normwirkung der Verfahrenstarifverträge beruhenden Dispositionen nicht nachträglich die Grundlage entzogen werden würde ( - Rn. 49; - 10 AZR 121/18 - Rn. 79 ff.). Aus diesem Grund ist es unerheblich, dass sich der Beklagte den gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Kläger und den damit verbundenen Prozesskosten nur deshalb ausgesetzt haben will, weil er von der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV ausgegangen sei.
47dd) Der Beklagte beruft sich vergeblich darauf, die „Ersetzung“ der unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung durch eine gesetzliche Regelung sei nicht vorhersehbar gewesen. Dem Gesetzgeber steht die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ( - Rn. 50; - 10 AZR 121/18 - Rn. 51).
48e) § 7 SokaSiG „kassiert“ nicht unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung. Mit der gesetzlichen Erstreckungsanordnung sollte - letztlich mit Rücksicht auf die Forderungen der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit - statt anfechtbaren Rechts unanfechtbares Recht gesetzt werden. Dies hält der Senat für verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. - Rn. 92 ff.).
49IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:030719.U.10AZR498.17.0
Fundstelle(n):
BB 2019 S. 2355 Nr. 40
DAAAH-30626