Instanzenzug:
Gründe
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
31Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. d und Art. 30 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass, wenn ein Gegenstand in das Gebiet der Union verbracht wird, die Wendung „Einfuhr eines Gegenstands“ im Sinne dieser Vorschriften nur den Eingang dieses Gegenstands in den Wirtschaftskreislauf der Union bezeichnet oder ob diese Wendung auch die Gefahr des Eingangs eines Gegenstands in diesen Kreislauf umfasst.
32Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , Cogeco Communications, C-637/17, EU:C:2019:263, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer. Nach Art. 30 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt als „Einfuhr eines Gegenstands“ die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Art. 24 EG befindet, in die Gemeinschaft.
34Nach der Rechtsprechung findet die Mehrwertsteuer, da es sich bei ihr naturgemäß um eine Verbrauchsteuer handelt, auf Waren und Dienstleistungen Anwendung, die in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangen und einem Verbrauch zugeführt werden können (Urteil vom , Latvijas Dzelzceļš, C-154/16, EU:C:2017:392, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung selbst, dass die fraglichen Gegenstände nach Griechenland, ihrem endgültigen Bestimmungsort, weiterbefördert wurden, wo sie verbraucht wurden. Es ist daher unstreitig, dass diese Gegenstände im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie in den Wirtschaftskreislauf der Union eingegangen sind.
36Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist daher in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die Frage, ob die „Gefahr“, dass ein Gegenstand in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt, für die Feststellung genügt, dass eine „Einfuhr“ dieses Gegenstands im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. d und Art. 30 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegt, hypothetisch.
37Die erste Frage ist daher unter Berücksichtigung der in Rn. 32 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unzulässig.
Zur zweiten Frage
38Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. d und Art. 30 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass es, wenn ein Gegenstand in das Gebiet der Union verbracht wird, genügt, dass in einem bestimmten Mitgliedstaat ein zollrechtliches Fehlverhalten in Bezug auf diesen Gegenstand begangen wurde, das zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld geführt hat, um anzunehmen, dass dieser Gegenstand in diesem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist.
39Insoweit ist festzustellen, dass die Einfuhr von Gegenständen nach dem Wortlaut von Art. 60 der Mehrwertsteuerrichtlinie in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird. Art. 61 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor, dass abweichend von Art. 60 bei einem Gegenstand, der sich nicht im freien Verkehr befindet und der vom Zeitpunkt seiner Verbringung in die Gemeinschaft einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne des Art. 156 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren unterliegt, die Einfuhr in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dessen Gebiet der Gegenstand nicht mehr diesem Verfahren oder der sonstigen Regelung unterliegt.
40Art. 70 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt, dass Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht insbesondere vor, dass Steuertatbestand und Steueranspruch, wenn Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Union an dem Zolllagerverfahren unterliegen, erst zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren nicht mehr unterliegen. Unterabs. 2 dieser Vorschrift betrifft hingegen den Sonderfall, in dem die eingeführten Gegenstände Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung unterliegen; dann treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben eintreten.
41Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Einfuhrmehrwertsteuer und die Zölle hinsichtlich ihrer Hauptmerkmale insofern vergleichbar, als sie durch die Einfuhr in die Union und die sich anschließende Überführung in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen. Diese Parallelität wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten ermächtigt, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der Einfuhrmehrwertsteuer mit dem Tatbestand und der Entstehung des Anspruchs bei Zöllen zu verknüpfen (Urteile vom , Einberger, 294/82, EU:C:1984:81, Rn. 18, und vom , Harry Winston, C-273/12, EU:C:2013:466, Rn. 41).
42Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass im Lauf des Jahres 2008 verschiedene einfuhrabgabenpflichtige Gegenstände mit Herkunft aus Drittstaaten nach Deutschland transportiert wurden, um anschließend nach Griechenland, ihrem endgültigen Bestimmungsort, weiterbefördert zu werden. Einige dieser Gegenstände wurden den deutschen Zollbehörden nicht vorgelegt und damit vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Union verbracht. Die anderen Gegenstände wurden vorschriftsmäßig – in Deutschland – in dieses Gebiet verbracht, danach aber zollrechtswidrig nach Griechenland weiterbefördert, indem sie der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden.
43Es ist unstreitig, dass im Ausgangsverfahren aufgrund dieses zollrechtlichen Fehlverhaltens bei dem Unternehmen, das die fraglichen Gegenstände in das Gebiet der Union verbracht hat, in Deutschland eine Einfuhrzollschuld auf der Grundlage von Art. 202 Abs. 1 Buchst. a bzw. Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex entstanden ist.
44Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann neben der Zollschuld eine Mehrwertsteuerpflicht bestehen, wenn aufgrund des Fehlverhaltens, das zur Entstehung der Zollschuld führte, angenommen werden kann, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und somit einem Verbrauch, d. h. dem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten (Urteile vom , Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, C-226/14 und C-228/14, EU:C:2016:405, Rn. 65, sowie vom , Wallenborn Transports, C-571/15, EU:C:2017:417, Rn. 54).
45Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass grundsätzlich anzunehmen ist, dass Einfuhrabgaben unterliegende Gegenstände, die der zollamtlichen Überwachung innerhalb einer Freizone entzogen werden und sich nicht mehr in dieser Zone befinden, in den Wirtschaftskreislauf der Union überführt worden sind (Urteil vom , Wallenborn Transports, C-571/15, EU:C:2017:417, Rn. 55).
46Im vorliegenden Fall ist zum einen, was die vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Union verbrachten fraglichen Gegenstände betrifft, im Hinblick auf die in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung grundsätzlich anzunehmen, dass sie im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem sie in die Union verbracht wurden, d. h. in Deutschland, in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind.
47Was zum anderen die der zollamtlichen Überwachung entzogenen fraglichen Gegenstände betrifft, so unterliegen diese in Deutschland nicht mehr dem Zollverfahren, in das sie übergeführt wurden. Daher ist im Hinblick auf die in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung ebenfalls anzunehmen, dass sie in diesem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind.
48Allerdings kann, wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 und 68 seiner Schlussanträge festgestellt hat, eine solche Vermutung widerlegt werden, wenn nachgewiesen wird, dass trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens, das zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld in dem Mitgliedstaat führte, in dem dieses Fehlverhalten begangen wurde, ein Gegenstand im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats, in dem dieser Gegenstand zum Verbrauch bestimmt war, in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist. In diesem Fall tritt der Tatbestand der Einfuhrmehrwertsteuer in diesem anderen Mitgliedstaat ein.
49Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass zwar in Bezug auf die fraglichen Gegenstände ein zollrechtliches Fehlverhalten in Deutschland begangen wurde; die Gegenstände wurden dort aber nur von einem Flugzeug in ein anderes Flugzeug umgeladen.
50Es trifft zwar zu, dass die fraglichen Gegenstände, die sich körperlich im Gebiet der Union befanden, aufgrund dieses zollrechtlichen Fehlverhaltens nicht mehr der Überwachung durch die deutschen Zollbehörden unterlagen, die keine Möglichkeit mehr hatten, den Verkehr dieser Gegenstände zu kontrollieren.
51Allerdings ergibt sich im vorliegenden Fall aus der Vorlageentscheidung, dass nachgewiesen ist, dass die fraglichen Gegenstände nach Griechenland, ihrem endgültigen Bestimmungsort, weiterbefördert worden waren, wo sie verbraucht wurden.
52In einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens stellt daher das in Deutschland begangene zollrechtliche Fehlverhalten für sich genommen keinen ausreichenden Beweis dafür dar, dass die fraglichen Gegenstände in Deutschland in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind.
53Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass in einer solchen Rechtssache die Gegenstände in dem Mitgliedstaat ihrer endgültigen Bestimmung in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und dass folglich die Einfuhrmehrwertsteuer auf diese Gegenstände in diesem Mitgliedstaat entstanden ist.
54Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. d und Art. 30 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass es, wenn ein Gegenstand in das Gebiet der Union verbracht wird, nicht genügt, dass in einem bestimmten Mitgliedstaat ein zollrechtliches Fehlverhalten in Bezug auf diesen Gegenstand begangen wurde, das in diesem Staat zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld geführt hat, um anzunehmen, dass dieser Gegenstand in diesem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist, wenn nachgewiesen ist, dass der fragliche Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat, seinen endgültigen Bestimmungsort, weiterbefördert worden ist, wo er verbraucht wurde; die Einfuhrmehrwertsteuer auf diesen Gegenstand entsteht dann nur in diesem anderen Mitgliedstaat.
Kosten
55Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Abs. 1 Buchst. d und Art. 30 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass es, wenn ein Gegenstand in das Gebiet der Europäischen Union verbracht wird, nicht genügt, dass in einem bestimmten Mitgliedstaat ein zollrechtliches Fehlverhalten in Bezug auf diesen Gegenstand begangen wurde, das in diesem Staat zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld geführt hat, um anzunehmen, dass dieser Gegenstand in diesem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist, wenn nachgewiesen ist, dass der fragliche Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat, seinen endgültigen Bestimmungsort, weiterbefördert worden ist, wo er verbraucht wurde; die Einfuhrmehrwertsteuer auf diesen Gegenstand entsteht dann nur in diesem anderen Mitgliedstaat.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
YAAAH-29424