BSG Beschluss v. - B 4 AS 161/11 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil - Versäumung der Berufungsfrist - Wiedereinsetzung - keine Zurechnung von Verschulden - Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht - kein rechtzeitiger Hinweis des Gerichts

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG

Instanzenzug: Az: S 15 AS 664/10 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 6 AS 472/11 Urteilnachgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 6 AS 139/12 ZVW Urteilnachgehend Az: B 4 AS 6/13 R Urteil

Gründe

1I. Im Streit steht die Übernahme der Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung durch den Beklagten. Die Gesamthöhe der hier streitigen Kosten beträgt 1525,35 Euro. Der Beklagte hat dieses Begehren durch Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom abgelehnt. Mit der dagegen erhobenen Klage vor dem SG Köln hat die Klägerin, vertreten durch ihren Vater, den zuvor benannten Betrag im Klammerzusatz "zahlbar … in monatlichen Teilbeträgen von 31,78 Euro" geltend gemacht.

2Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, im SGB II existiere keine Rechtsgrundlage, weder für die Übernahme der der Klägerin obliegenden Eigenbeteiligung, noch eine darlehensweise oder zuschussweise Übernahme der Kosten, die über den im Leistungskatalog des SGB V bestimmten notwendigen Umfang der kieferorthopädischen Behandlung (ergänzender Heil- und Kostenplan) hinaus gingen. § 23 Abs 1 SGB II und Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG kämen als Anspruchsgrundlage daher von vorn herein nicht in Betracht. Die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kieferorthopädische Versorgung sei für sie als gesetzlich Krankenversicherte durch die Regelungen des SGB V sichergestellt. Bereits aus diesem Grunde läge ein Härtefall nicht vor. Soweit die darlehensweise Übernahme der Kosten geltend gemacht werde, sei die Klage unzulässig, da es insoweit bisher an einer Verwaltungsentscheidung mangele. Im Übrigen sei die Klage bezüglich des Darlehens und, wenn dieser Klageantrag zugleich als Beihilfebegehren auszulegen sei, verfristet. Diese Begehren seien erstmals schriftsätzlich am gegenüber dem Gericht geltend gemacht worden. Der Widerspruchsbescheid vom sei der Klägerin jedenfalls vor dem bekannt gegeben worden. Das SG hat seiner Entscheidung die Rechtsmittelbelehrung beigefügt, dass der Gerichtsbescheid mit der Berufung angefochten werden könne.

3Die Klägerin hat nach Zustellung des Gerichtsbescheides am durch Schriftsatz vom "gemäß § 105 Abs 2 SGG, (die Anberaumung) eine(r) mündliche(n) Verhandlung" beantragt. Durch Schreiben vom , abgesandt laut "Abvermerk" in der SG-Akte am selben Tag, hat das SG darauf hingewiesen, dass zutreffendes Rechtsmittel die Berufung und nicht der Antrag auf mündliche Verhandlung sei. Mit Schreiben vom , eingegangen bei dem SG am , hat die Klägerin alsdann beantragt, den Antrag auf mündliche Verhandlung als "Berufung" zu betrachten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass es ihrem Willen entspreche, die Entscheidung des SG einer materiell-rechtlichen Überprüfung unterziehen zu lassen.

4Das LSG hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen (Urteil vom ). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Berufung sei verfristet. Die Frist für die Berufungseinlegung sei am abgelaufen gewesen, die Berufung sei jedoch erst am eingegangen. Der Antrag auf mündliche Verhandlung könne nicht als fristgemäße Berufung gewertet werden. Eine Umdeutung komme bereits deswegen nicht in Betracht, weil der Antrag auf mündliche Verhandlung nicht auf ein Begehren der Überprüfung der Entscheidung durch die nächste Instanz, sondern durch die selbe Instanz gerichtet sei. Dies gelte um so mehr, wenn - wie hier - ausdrücklich die einschlägige Vorschrift benannt werde. Der Vertreter der Klägerin verfüge insoweit auch über hinreichende Rechtskenntnisse aus den zahlreichen von ihm betriebenen Verfahren vor SG und LSG. Wiedereinsetzungsgründe habe die Klägerin nicht geltend gemacht. Die Rechtsmittelbelehrung der Entscheidung sei eindeutig gewesen, sodass ein Irrtum hierüber ausscheide. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

5Auf ihren Antrag hat der erkennende Senat durch Beschluss vom PKH bewilligt und Rechtsanwalt C beigeordnet sowie ihr durch Beschluss vom Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG gewährt.

6Zur Begründung der Beschwerde rügt die Klägerin als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) des LSG den Erlass eines Prozess- anstatt eines Sachurteils.

7II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).

8Wie die Klägerin formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist das Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG hat zu Unrecht ein Prozess- anstatt ein Sachurteil erlassen. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG sind gegeben - die Berufungsfrist ist damit gewahrt. Zwar war die Rechtsmittelbelehrung des SG eindeutig und die Klägerin hatte in ihrem schriftsätzlichen Antrag gegenüber dem SG eine Gesamtsumme von weit über 750 Euro geltend gemacht. Ohne Verschulden handelt ein Prozessbeteiligter jedoch auch dann, wenn ein solches Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für das Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist bzw ihm nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre (, SozR 3-1500 § 67 Nr 21).

9Nach der Rechtsprechung des BSG liegt Verschulden eines Prozessbeteiligten grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist (vgl zB BSGE 1, 227; BSGE 61, 213 = SozR 1500 § 67 Nr 18; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN; , SozR 4-1500 § 160a Nr 23). Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht allerdings aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl zB BVerfGE 60, 1; 75, 183) und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 78, 123; BVerfGE 79, 372). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfGE 93, 99; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts besteht immer dann, wenn es darum geht, eine Partei oder ihren Prozessbevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein Prozessbeteiligter kann daher erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (BSG GrS - GS 2/73, BSGE 38, 248 = SozR 1500 § 67 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21; BGH NJW 1987, 440 und NJW 2000, 3649; , SozR 4-1500 § 166 Nr 1). So liegt der Fall hier.

10Der Antrag der Klägerin auf mündliche Verhandlung ist am Donnerstag, den beim SG eingegangen. Die Berufungsfrist lief am Mittwoch, dem ab. Bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang hätte die Bearbeitung des Schriftsatzes nach dessen Eingang auf jeden Fall mehr als einen Tag vor dem Ablauf der Berufungsfrist am erfolgen können. Erfolgt ist die Bearbeitung - mit dem Hinweis auf die Erforderlichkeit der Berufung - jedoch erst am , also fünf Tage nach dem Eingang des Antrags. Selbst wenn das Aufklärungsschreiben bei der Klägerin erst am Dienstag, dem eingegangen wäre, wäre noch hinreichend Zeit gewesen, die Berufung fristgerecht einzulegen. Es ist auch zu erwarten, dass die Klägerin die versäumte Handlung innerhalb der Berufungsfrist nachgeholt hätte, denn sie hat am Tag des Erhalts des Schreibens des SG, am - einen Tag nach Ablauf der Berufungsfrist - Berufung eingelegt. Sie erfüllt damit zugleich die weiteren Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG.

11Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Senats, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren. In Ausübung seines Ermessens verweist der Senat den Rechtsstreit maßgeblich aus prozessökonomischen Gründen an das LSG zurück. Ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren könnte zu keinem anderen Ergebnis führen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:201211BB4AS16111B0

Fundstelle(n):
TAAAH-24628