Nichtigkeit des Verwaltungsakts
1. Allgemeines
Gemäß § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.
Nichtige Verwaltungsakte sind gemäß § 124 Abs. 3 AO unwirksam. Sie erzeugen keinerlei Rechtswirkungen. Aus ihnen darf nicht vollstreckt werden. Nichtige Verwaltungsakte sind auch nicht heilbar gemäß § 126 Abs. 1 AO. So kann ein infolge inhaltlicher Unbestimmtheit nichtiger Verwaltungsakt nicht dadurch geheilt werden, dass der Steuerschuldner in der Einspruchsentscheidung erstmals zutreffend bezeichnet wird ( BFH/NV 1996, 196).
2. Anfechtung eines nichtigen Verwaltungsaktes
Wegen des Rechtsscheins, den auch ein nichtiger Verwaltungsakt entfalten kann, ist auch ein Einspruch gegen einen nichtigen Verwaltungsakt zulässig. Auf die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes kann sich der Stpfl. jederzeit berufen. Zur Anfechtung eines nichtigen Verwaltungsaktes braucht die Rechtsbehelfsfrist des § 355 Abs. 1 AO nicht gewahrt zu werden ( BStBl 1986 II S. 834).
Die zur Beseitigung des Rechtsscheins eines nichtigen Steuerbescheides vorgenommene Anfechtung hat keine den Ablauf der Verjährungsfrist hemmende Wirkung ( BFH/NV 1996, 196, und vom , BFH/NV 1997, 388).
3. Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts
Nach § 125 Abs. 5 AO kann die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts jederzeit von Amts wegen festgestellt werden, auf Antrag ist sie festzustellen, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse hat.
Die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts kann durch einen Verwaltungsakt getroffen werden (vgl. BStBl 2015 II S. 109). Die Finanzbehörde hat jedoch auch die Möglichkeit, nur unverbindlich ihre Rechtsmeinung zur Wirksamkeit eines Verwaltungsakts zu äußern. Im Interesse der Rechtssicherheit soll von der Möglichkeit der Feststellung durch Verwaltungsakt Gebrauch gemacht werden. Hierzu bedarf es eines entsprechenden Regelungswillens der Finanzbehörde, der – zur Abgrenzung von einer nur unverbindlichen Äußerung – in dem Schreiben an den Steuerpflichtigen zum Ausdruck zu bringen ist. Das Schreiben ist daher als „Bescheid über die Feststellung der Nichtigkeit (§ 125 Abs. 5 AO) des Verwaltungsakts …” zu bezeichnen, zu begründen und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen.
Diese durch Verwaltungsakt vorgenommene Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts ist innerhalb der Rechtsbehelfsfrist mit dem Einspruch anfechtbar. Nach Eintritt der Bestandskraft kann die Nichtigkeit des Verwaltungsakts nicht mehr in Frage gestellt werden.
4. Treu und Glauben
Zu den nicht generell und abstrakt festgelegten Rechtsfolgen, die einen Beteiligten am Steuerrechtsverhältnis aus treuwidrigem Verhalten treffen können, kann es auch gehören, dass er die Befugnis verliert, aus der Nichtigkeit eines Steuerverwaltungsaktes abgeleitete Rechte, wie vor allem Erstattungsansprüche, geltend zu machen. Eine solche Begrenzung kann sich, und zwar für beide Seiten eines konkreten Steuerrechtsverhältnisses, aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen von Treu und Glauben ausnahmsweise dann ergeben, wenn die Berufung auf die Nichtigkeit zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde ( BStBl 1993 II S. 174).
So kann es rechtsmissbräuchlich sein, wenn ein Steuerpflichtiger sich erst nach mehreren Jahren allein zu Erstattungszwecken auf einen von ihm mitzuverantwortenden Bestimmtheitsmangel beruft, der bei ihm selbst tatsächlich keinerlei Unklarheiten bewirkt hatte ( a. a. O.).
Es ist ebenfalls rechtsmissbräuchlich und deshalb ein Verstoß gegen Treu und Glauben, wenn sich die Finanzverwaltung nach jahrelangem Rechtsfrieden auf die von ihr selbst verursachte Nichtigkeit beruft, um nunmehr – ohne dass die Voraussetzungen von Änderungsvorschriften vorliegen – „verbösernde” Erstbescheide zu erlassen ( EFG 1995, 240).
5. Einzelfälle aus der Rechtsprechung
5.1 Inhaltliche Bestimmtheit
Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn
aus einem Steuerbescheid nicht eindeutig hervorgeht, von wem was gefordert wird, der Steuerschuldner im Hinblick auf die gegen ihn festgesetzte Steuerschuld nicht klar ersichtlich ist ( BFH/NV 1996, 196),
ein Steuerbescheid die festgesetzte Steuer ihrer Art nach nicht bezeichnet ( BStBl 1986 II S. 42),
ein Vorauszahlungsbescheid lediglich den Minderungsbetrag gegenüber der bisherigen Festsetzung ausweist, nicht aber den neu festgesetzten Betrag (Urteil des FG des Landes Brandenburg vom , EFG 1997, 585),
dem Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung des Grundbesitzwertes bei mehreren Miterben nicht klar und eindeutig entnommen werden kann, gegen welche Beteiligten der Erbengemeinschaft sich die Feststellungen richten. Dabei ist es zur Vermeidung der Nichtigkeit ausreichend, wenn sich die Beteiligten zwar nicht aus dem Adressfeld, wohl aber aus dem weiteren Inhalt des Bescheids ergeben ( BStBl 2016 II S. 637).
Hingegen ist ein Verwaltungsakt nicht allein deshalb nichtig, weil
der Steuer- oder Haftungsbetrag wesentlich überhöht festgesetzt worden ist ( BFH/NV 1992, 365),
in einem Haftungsbescheid die Angabe des Steuerschuldners fehlt, solange die Haftungsschuld in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in anderer Weise ausreichend konkretisiert werden kann ( BStBl 1997 II S. 306),
in einem Lohnsteuerhaftungsbescheid die Aufgliederung der Haftungssumme nach Steuerarten und Erhebungszeiträumen fehlt, wenn der Haftungsschuldner aus dem gesamten Inhalt des Bescheides, aus dem Zusammenhang, der von der Finanzbehörde gegebenen Begründung oder aus den den Beteiligten bekannten näheren Umständen im Wege der Auslegung hinreichende Klarheit gewinnen kann ( BFH/NV 1991, 137),
der Name des Adressaten falsch geschrieben wurde, sofern der Adressat durch Auslegung anhand der den Betroffenen bekannten Umständen hinreichend sicher bestimmt werden kann ( BFH/NV 2012, 1410).
5.2 Falsche oder fehlende Begründung
Nach der Rechtsprechung ist ein Verwaltungsakt nicht allein deshalb nichtig, weil
das Recht unrichtig angewandt worden oder eine gesetzliche Grundlage zu Unrecht angenommen worden ist, solange er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen nicht in einem so erheblichen Maße verletzt, dass von niemandem mehr erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen ( BStBl 1982 II S. 133),
einem Verwaltungsakt zwar eine unrichtige Rechtsauffassung zugrunde liegt, diese aber über längere Zeit und auch noch im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes praktiziert wurde, ohne dass die h. M. in Rechtsprechung, Verwaltung und Literatur dies für rechtsfehlerhaft hielt ( BStBl 1994 II S. 327),
dem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung fehlt ( BStBl 1997 II S. 422),
die Begründung einer Einspruchsentscheidung unzutreffend oder zu dürftig ist ( BFH/NV 1996, 871),
in einem Änderungsbescheid die falsche Änderungsvorschrift angegeben worden ist ( BStBl 1981 II S. 419),
einem Bescheid ein Vorläufigkeitsvermerk beigefügt worden ist, obwohl die Voraussetzungen des § 165 Abs. 1 AO nicht erfüllt waren ( BFH/NV 1992, 579),
ein Änderungsbescheid erlassen wurde, obwohl die Voraussetzungen für die Änderung oder Berichtigung nicht gegeben waren ( EFG 1996, 960),
ein Schätzungsbescheid grobe Schätzungsfehler enthält, es sei denn, das Finanzamt hat bewusst zum Nachteil des Stpfl. geschätzt ( BStBl 1993 II S. 259 und vom , BStBl 2001 II S. 381).
5.3 Folgen von Verfahrens- und Formfehlern
Diese können sowohl zur Nichtigkeit gem. § 125 AO führen als auch zur Folge haben, dass der Verwaltungsakt nicht gem. § 124 Abs. 1 AO wirksam wird. Hierzu wird auf den AEAO zu § 122 AO, Nr. 4 verwiesen.
5.4 Sonstiges
Nach der Rechtsprechung führt es nicht zur Nichtigkeit des Verwaltungsaktes, wenn
eine Aussetzungsverfügung ergangen ist, ohne dass der Steuerbescheid, dessen Aussetzung verfügt wurde, angefochten worden ist ( EFG 1997, 1087),
die dem Bescheid zugrunde liegende Steuererklärung oder der zugrunde liegende Antrag entgegen der gesetzlichen Vorschrift vom Stpfl. nicht eigenhändig unterschrieben wurde, wenn der Antrag durch den Stpfl. oder für ihn mit seinem Wissen und Wollen beim Finanzamt eingereicht worden ist ( BStBl 1992 II S. 224),
der den Verwaltungsakt unterzeichnende Bedienstete seine Zeichnungsbefugnis überschritten hat ( BStBl 1987 II S. 592),
ein Folgebescheid auf einem nichtigen Grundlagenbescheid beruht ( BStBl 2015 II S. 109),
ein Steuerbescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergeht (AEAO vor §§ 169-171, Nr. 4),
das Finanzamt § 91 AO (Anhörung des Stpfl. vor Erlass des Bescheides) nicht beachtet hat (, NV),
eine im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren notwendige Hinzuziehung vor Erlass der Einspruchsentscheidung unterlassen worden ist (, NV),
Steuer- oder Haftungsbescheide aufgrund einer Betriebsprüfung ergangen sind, ohne dass eine (wirksame) Prüfungsanordnung erlassen wurde ( BFH/NV &, 1988, 284),
ein Verstoß gegen die Formvorschrift des § 119 Abs. 3 AO vorliegt, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt unterschrieben oder mit dem Namen eines bestimmten Beamten versehen sein muss ( BStBl 1986 II S. 169),
ein Feststellungsbescheid ergangen ist ohne dass die Voraussetzungen für die gesonderte Feststellung vorlagen (, NV),
ein Einkommensteuerbescheid über eine Zusammenveranlagung gem. §§ 26, 26b EStG lediglich an einen der beiden Ehegatten adressiert wird und auch der andere Ehegatte in dem Einzelbescheid nicht benannt wird ( BFH/NV 2000, 678).
FinMin Nordrhein-Westfalen v. - S 0291
Fundstelle(n):
AO-StB 2019 S. 246 Nr. 8
DB 2019 S. 1357 Nr. 24
DStR 2019 S. 1526 Nr. 29
HAAAH-21933