Gründe
I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute, erhoben gegen ihre Einkommensteuerfestsetzungen für 1994 bis 1996 Klage vor dem Finanzgericht (FG), nachdem der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) ihre Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen geschätzt hatte. Das FG setzte Ausschlussfristen nach § 79b Abs. 1 und Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die die Kläger ungenutzt verstreichen ließen. Das FG beraumte einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den an. Auf Antrag der Kläger verlegte es den Termin auf den , 16.00 Uhr, Zimmer 127. Am rief der Kläger die Berichterstatterin des FG an und kündigte die Abgabe der Steuererklärungen beim FA an. Auf den Hinweis der Berichterstatterin, dass Ausschlussfristen gesetzt seien, erklärte er, die betreffende Verfügung des FG habe er nicht erhalten. Am Abend vor dem Sitzungstag teilten die Kläger per Telefax mit, die —an die Klägerin persönlich zugestellte— Verfügung des FG sei auf nicht erklärbare Weise in einen Stapel ungelesener Zeitungen und Zeitschriften geraten und dort erst nach einer Suchaktion am 7. November aufgefunden worden. Sie baten darum, den Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben und eine allerletzte Frist zur Abgabe der Steuererklärungen zu setzen. Am Sitzungstag lehnte der Senatsvorsitzende des FG mit Telefax um 12.05 Uhr den Antrag auf Terminsverlegung ab, weil kein wichtiger Grund i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung (ZPO) vorliege. Um 12.25 Uhr erbat der Kläger nochmals telefonisch eine Verlegung des Termins und eine Verlängerung der Frist zur Abgabe der Steuererklärungen. Die Berichterstatterin des FG wies auf die ihm durch Telefax übermittelte Ablehnung des Antrags auf Terminsverlegung (sodann nochmals per Telefax übermittelt um 12.33 Uhr) und auf die Erörterung der Sach- und Rechtslage in der bevorstehenden mündlichen Verhandlung hin.
Um 16.04 Uhr ging beim FG per Telefax ein von einem Arzt für Allgemeinmedizin ausgestelltes Attest vom gleichen Tage ein, mit dem bescheinigt wurde, der Kläger sei akut erkrankt, nicht reisefähig und nicht in der Lage, einer Gerichtsverhandlung zu folgen (Dauer 5 Tage). Das Attest trug den handschriftlichen Zusatz ”Finanzgericht Nürnberg”, das Aktenzeichen des FG sowie den Hinweis: ”Bitte sofort Herrn Vorsitzenden Richter X vorlegen!”. Das Telefax wurde jedoch nicht unmittelbar ins Sitzungszimmer gebracht, sondern den beteiligten Richtern erst am folgenden Tag zugeleitet. Um 16.06 Uhr am Sitzungstag begann die mündliche Verhandlung, in der für die Kläger niemand erschien. Am Schluss der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende das Urteil, dass die Klage abgewiesen werde und die Kläger die Kosten zu tragen hätten (Ende: 16.48 Uhr).
Das FG stützte sein klageabweisendes Urteil nicht auf die Ausschlusswirkung der nach § 79b Abs. 1 und 2 FGO gesetzten Fristen, sondern darauf, dass für 1996 das Klagebegehren nicht ausreichend bezeichnet sei (§ 65 Abs. 1 Satz 1 FGO) und die Schätzungen für 1994 und 1995 gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO 1977) i.V.m. § 25 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht zu beanstanden seien, weil sie sich zwar an der obersten Grenze, aber noch innerhalb eines vertretbaren Schätzungsrahmens hielten.
Der Empfangszeitpunkt des ärztlichen Attests ist im Tatbestand des Urteils mit 17.04 Uhr (also nach Ende der mündlichen Verhandlung) angegeben. Die Entscheidungsgründe gehen darauf nicht ein.
Ein nach Zustellung des Urteils gestellter Antrag der Kläger auf Tatbestandsberichtigung ergab, dass die falsche Angabe der Uhrzeit im Urteil auf der fehlerhaften Einstellung des Telefaxgeräts der Kläger beruhte. Im Beschluss über die Tatbestandsberichtigung (Eingangszeitpunkt des Attestes nunmehr: 16.04 Uhr) führte das FG unter anderem aus: Es könne dahingestellt bleiben, ob der Senat das ärztliche Attest, wenn es ihm rechtzeitig bekannt geworden wäre, zum Anlass einer Vertagung genommen oder als rechtsmissbräuchliches Gefälligkeitsattest zurückgewiesen hätte. Insoweit werde auf den Verlegungsantrag des Klägers, dessen Abweisung sowie auf den über ein mit dem Kläger geführtes Telefongespräch vom gefertigten Aktenvermerk Bezug genommen.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügen die Kläger unter anderem Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das FG habe das ärztliche Attest, das rechtzeitig vor Verhandlungsbeginn bei der Poststelle eingegangen sei, bei der Frage einer Verlegung oder Fristverlängerung und im Urteil nicht berücksichtigt. Das Verschulden der Poststelle sei dem FG zuzurechnen. Bei rechtzeitiger Weiterleitung des Attests hätte das FG den Termin verlegen müssen. Vor einem neuen Termin hätten rechtzeitig die (nunmehr der Beschwerde beigefügten) Steuererklärungen vorgelegen.
Das FG habe ferner im Urteil den Sachvortrag des FA zu den Schätzungen wiedergegeben und verwertet, ohne dass sie —die Kläger— dazu hätten Stellung nehmen können. Entweder habe das FG gegen § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO verstoßen und eine schriftsätzliche Stellungnahme des FA nicht an sie weitergeleitet oder aber entgegen § 96 Abs. 2 FGO den mündlichen Vortrag des FA verwertet, obwohl sie —die Kläger— sich dazu wegen Krankheit in der mündlichen Verhandlung nicht hätten äußern können.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision gegen die Vorentscheidung zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Beschwerde ist begründet. Gemäß § 116 Abs. 6 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Vorentscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das FG hat das rechtliche Gehör der Kläger (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes —GG—) verletzt, weil es die mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Kläger durchführte, ohne zu prüfen, ob der Termin aufgrund des vor Beginn der mündlichen Verhandlung eingegangenen ärztlichen Attestes aufgehoben werden musste.
1. Wie die Kläger zutreffend rügen, hat das FG den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt. Die Pflicht des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs erfordert es zunächst, entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl. 1997, § 96 Anm. 28; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 96 FGO Tz. 123, jeweils m.w.N.). Das Übersehen entscheidungserheblicher Schriftsätze verletzt deshalb grundsätzlich das rechtliche Gehör (Tipke/Kruse, a.a.O.).
Das FG hat das vor Beginn der mündlichen Verhandlung eingegangene ärztliche Attest nicht zur Kenntnis genommen. Daran traf den Senat des FG zwar kein Verschulden, weil ihm das Attest bis zum Ende der mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht vorgelegen hat, sondern ihm erst am folgenden Tag zugeleitet worden ist. Dies ist indessen unerheblich, weil die verzögerte Weiterleitung durch die Poststelle dem Gericht als ganzem zuzurechnen ist. Der verfassungsrechtlich gebotene Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG) wird dem rechtsuchenden Bürger nicht nur durch die beteiligten Richter gewährt, sondern durch die gerichtliche Organisation insgesamt, die die Voraussetzungen richterlicher Tätigkeit sicherzustellen hat. Gegenstand des Verfahrens i.S. von § 96 FGO sind danach nicht notwendig nur solche Unterlagen, die dem jeweiligen Senat bekannt waren, sondern auch solche, die er nicht kannte, die aber bereits beim Gericht eingegangen waren. Deshalb wird das rechtliche Gehör auch dann verletzt, wenn ein als besonders eilbedürftig erkennbares Schreiben pflichtwidrig nicht rechtzeitig innerhalb des Gerichts weitergeleitet wird und deshalb vom erkennenden Spruchkörper nicht mehr berücksichtigt werden kann (Bundesfinanzhof —BFH—, Urteil vom I R 218/80, BFHE 141, 221, BStBl II 1984, 668).
Das per Telefax eingegangene Attest war deutlich als besonders eilbedürftig gekennzeichnet, weil es ”sofort” dem Vorsitzenden des zuständigen Senats des FG im Sitzungssaal vorgelegt werden sollte. Die unverzügliche unmittelbare Weiterleitung des Attestes in den Sitzungssaal, für die bis zum Ende der mündlichen Verhandlung ein Zeitraum von über 40 Minuten und damit (im Gegensatz zum Sachverhalt des Beschlusses vom I B 28/85, BFHE 144, 139, BStBl II 1985, 626) ausreichend Zeit blieb, ist pflichtwidrig unterblieben. Dadurch ist der zuständige Senat des FG an der rechtzeitigen Kenntnisnahme gehindert und der Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt worden.
2. Dieser Gehörverstoß war (abgesehen von der Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO, vgl. dazu , BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676) jedenfalls deshalb entscheidungserheblich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das FG, wenn es das Attest rechtzeitig erhalten hätte, nicht durch Urteil entschieden, sondern die Verhandlung gemäß § 227 ZPO i.V.m. § 155 FGO vertagt hätte.
a) Grundsätzlich hätte das FG bei Kenntnis des Attestes die mündliche Verhandlung vertagen müssen, um seinerseits einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör zu vermeiden.
Nach der Rechtsprechung des BFH (zuletzt Beschlüsse vom IV B 86/99, BFH/NV 2000, 1353; vom X B 12/01, juris) ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO), wenn einem Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht stattgegeben wird, obwohl erhebliche Gründe vorliegen. Doch sind diese erst auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen (§ 227 Abs. 3 ZPO). Wird ein Antrag auf Terminsverlegung jedoch erst ”in letzter Minute” gestellt und mit einer plötzlichen Erkrankung des Beteiligten begründet, so reicht die Behauptung einer Erkrankung nicht aus; der Beteiligte ist vielmehr auch ohne besondere Aufforderung verpflichtet, die Gründe für die Verhinderung so anzugeben und zu untermauern, dass das Gericht die Frage, ob der Beteiligte verhandlungsunfähig ist, selbst beurteilen kann (BFH-Beschlüsse vom VII B 160/94, BFH/NV 1996, 228; vom VII B 237/95, BFH/NV 1996, 902). In einem solchen Fall reicht gewöhnlich die Vorlage eines substantiierten privatärztlichen Attestes aus, aus dem sich die Verhandlungsunfähigkeit eindeutig und nachvollziehbar ergibt (Beschluss in BFH/NV 2000, 1353). Nicht ausreichend ist hingegen das Attest eines Arztes für Allgemeinmedizin, mit dem lediglich pauschal Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wird (, juris).
Im Streitfall ist die plötzliche Erkrankung des Klägers, der während seines Telefonats mit der Berichterstatterin am Sitzungstag um 12.25 Uhr nichts von einer akuten Erkrankung hat verlauten lassen und offenbar noch keine akuten Krankheitserscheinungen verspürt hat, durch ein hinreichend substantiiertes ärztliches Attest nachgewiesen, demzufolge er akut erkrankt, nicht reisefähig und nicht in der Lage war, einer Gerichtsverhandlung zu folgen. Zwar hat das FG in seinem Beschluss zur Tatbestandsberichtigung die nicht fern liegende Frage erwogen, ob es sich um ein rechtsmissbräuchliches Gefälligkeitsattest handelt. Es hat jedoch keine Tatsachen festgestellt, die den Schluss rechtfertigen könnten, der bescheinigende Arzt habe das Attest bewusst unrichtig ausgestellt. Dementsprechend hat das FG diese Frage zu Recht offen gelassen und nicht ausgeschlossen, dass es das Attest bei rechtzeitiger Kenntnis zum Anlass einer Vertagung genommen hätte. Dann ist aber die durch die Poststelle verursachte verspätete Zur-Kenntnis-Nahme für das verkündete Urteil ursächlich gewesen.
b) Allerdings kann die Ablehnung der beantragten Terminsänderung trotz substantiiert dargelegter Verhinderungsgründe ausnahmsweise ermessensgerecht sein, wenn ein Beteiligter seine prozessuale Mitwirkungspflicht zuvor in erheblicher Weise verletzt hat (vgl. z.B. , BFH/NV 1998, 1104, m.w.N.). Das ist z.B. bei einer offensichtlichen Prozessverschleppungsabsicht der Fall, aber auch, wenn ein Beteiligter bereits im Veranlagungs- und Rechtsbehelfsverfahren seine Mitwirkungspflichten verletzt hat und trotz einer bereits seit geraumer Zeit bestehenden Erkrankung keine Vorsorge für die Wahrnehmung eines Termins getroffen hat (Entscheidungen des , BFHE 113, 4, BStBl II 1974, 637; vom III B 43/94, BFH/NV 1995, 890; vom VIII R 48/92, BFH/NV 1996, 43; in BFH/NV 1996, 902, und vom XI B 182/95, BFH/NV 1997, 777).
Die Prüfung, ob im Streitfall trotz des eingereichten substantiierten ärztlichen Attestes ausnahmsweise eine Ablehnung der Terminsverlegung hätte ermessensgerecht sein können, wäre Aufgabe des FG als Tatsacheninstanz gewesen. Das FG hätte dabei die Schwere der Verletzung der Mitwirkungspflichten der Kläger gegen den Anspruch auf Teilnahme an einer obligatorischen mündlichen Verhandlung abwägen und dabei die Bedeutung der mündlichen Verhandlung für den finanzgerichtlichen Rechtsschutz berücksichtigen müssen (vgl. Beschluss in BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676). Der BFH als Revisionsgericht kann diese vom FG zu treffende Ermessensentscheidung nach § 227 ZPO nicht anstelle des FG nachholen. Dem FG war eine solche Ermessensentscheidung nicht möglich, weil die Poststelle ihm das Attest pflichtwidrig zu spät zugeleitet und damit die gebotene richterliche Prüfung verhindert hatte. Im Ergebnis sind dadurch die Kläger von der Teilnahme an der obligatorischen mündlichen Verhandlung unter Verstoß gegen § 227 ZPO ausgeschlossen worden, weil nicht geprüft werden konnte, ob aufgrund des Attestes der Termin wegen eines erheblichen Grundes aufzuheben war.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 365 Nr. 3
RAAAA-68949