Progressionsvorbehalt bei Einkünften aus aktiven EU-Betriebsstätten
Leitsatz
1. Nach Abkommensrecht steuerfreie positive und negative Einkünfte aus gewerblichen EU-Betriebsstätten, die den Aktivitätsanforderungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG genügen, unterliegen dem Progressionsvorbehalt.
2. Der in § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG enthaltene Verweis auf § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG bezieht sich nur auf die dort enthaltenen Aktivitätsanforderungen.
Gesetze: EStG 2009 § 32b Abs 1 S 1 Nr 3, EStG 2009 § 32b Abs 1 S 2 Nr 2, EStG 2009 § 2a Abs 2 S 1
Instanzenzug: ,
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten über die Einbeziehung niederländischer Einkünfte in den sog. Progressionsvorbehalt.
2 Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden in den Streitjahren 2010 und 2011 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie haben ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland).
3 Der Kläger ist ausgebildeter Steuerfachangestellter und betreibt seit 2001 in A (Niederlande) ein Büro als Belastingadviseur. Aus dieser Tätigkeit bezog er Einkünfte.
4 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) behandelte diese Einkünfte als steuerfrei, bezog sie aber bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes (sog. Progressionsvorbehalt) gemäß § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren geltenden Fassung (EStG) ein.
5 Die Kläger beriefen sich auf den Ausnahmetatbestand des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG, konnten damit aber weder im Einspruchs- noch im Klageverfahren durchdringen.
6 Gegen das richtet sich die Revision der Kläger. Sie rügen die unzutreffende Auslegung des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG durch das FG. Außerdem sieht sich der Kläger durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts in seiner gemeinschaftsrechtlich verbürgten Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt.
7 Die Kläger beantragen sinngemäß, unter Aufhebung des FG-Urteils die Einkommensteuerbescheide 2010 und 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen dahingehend zu ändern, dass die jeweils in den Progressionsvorbehalt einbezogenen Einkünfte aus den Niederlanden nicht mehr berücksichtigt werden.
8 Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Gründe
9 II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
10 Das FG hat die niederländischen Einkünfte des Klägers zu Recht bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes berücksichtigt. Positive und negative Einkünfte aus gewerblichen Betriebsstätten in der Europäischen Union (EU), die den Aktivitätsanforderungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG genügen, unterliegen dem Progressionsvorbehalt. Das begegnet keinen gemeinschaftsrechtlichen Bedenken.
11 1. Die Einkünfte aus der Tätigkeit des Klägers als Belastingadviseur sind nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom —DBA-Niederlande 1959— (BGBl II 1960, 1782, BStBl I 1960, 382) in Deutschland steuerfrei. Es ist hierbei unerheblich, ob es sich bei den Einkünften um solche aus Unternehmensgewinnen (Art. 5 DBA-Niederlande 1959) oder um solche aus selbständiger Arbeit (Art. 9 DBA-Niederlande 1959) handelt. In beiden Fällen stünde —wovon das FG zutreffend ausgegangen ist— dem Königreich der Niederlande als Quellenstaat das alleinige Besteuerungsrecht zu (vgl. Art. 5 Abs. 1 und 9 Abs. 1 und 2 DBA-Niederlande 1959), während Deutschland die Einkünfte von der Bemessungsgrundlage unter Progressionsvorbehalt ausnimmt (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 DBA-Niederlande 1959).
12 2. Es ist ferner aus revisionsrichterlicher Sicht nicht zu beanstanden, dass das FG den Tatbestand des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG, nach dem bei Bezug von nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung steuerfreien Einkünften durch einen unbeschränkt Steuerpflichtigen ein besonderer Steuersatz auf das zu versteuernde Einkommen anzuwenden ist, im Streitfall bejaht hat. Auch dies ist zu Recht zwischen den Beteiligten nicht streitig.
13 3. Es bleibt im Streitfall bei der Geltung des besonderen Steuersatzes, weil keiner der in § 32b Abs. 1 Satz 2 EStG aufgeführten Ausnahmetatbestände erfüllt ist.
14 a) Auch insoweit kann dahinstehen, ob die Einkünfte des Klägers aus der Tätigkeit als Belastingadviseur als gewerblich oder freiberuflich zu qualifizieren sind (vgl. dazu Schmidt/ Wacker, EStG, 35. Aufl., § 18 Rz 155 „Belastingadviseur“, m.w.N.). Wären sie freiberuflicher Natur, so bliebe es bei der Geltung des Progressionsvorbehalts, weil solche von der enumerativen Aufzählung progressionsvorbehaltsschädlicher Einkünfte in § 32b Abs. 1 Satz 2 EStG von vornherein nicht erfasst sind.
15 b) Wären sie gewerblicher Natur, dann schlösse § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG die Anwendung des besonderen Steuersatzes nur dann aus, wenn es sich um Einkünfte aus einer anderen als in einem Drittstaat belegenen gewerblichen Betriebsstätte, die nicht die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllt, handelte. Diese zusätzlichen Voraussetzungen liegen im Streitfall jedoch nicht vor.
16 aa) Dass der Kläger Gewinne —und nicht Verluste— aus seiner Tätigkeit erzielt hat, sperrt die Anwendung des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG nicht; der Ausnahmetatbestand erfasst positive wie negative Einkünfte. Dies folgt zunächst aus dem ohne weitere Differenzierung oder Einschränkung verwendeten Begriff der „Einkünfte“ sowohl im Grundtatbestand (§ 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG) als auch in der Rechtsfolgenbestimmung des Ausnahmetatbestands (§ 32b Abs. 1 Satz 2 EStG: „Satz 1 Nummer 3 gilt nicht für Einkünfte“). Der in den Gesetzesmaterialien deutlich zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers, den negativen und den positiven Progressionsvorbehalt bei bestimmten innerhalb der Mitgliedstaaten der EU verwirklichten Tatbeständen auszuschließen (BTDrucks 16/10189, S. 46 und 53), hat damit einen hinreichenden Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden und ist bei der Auslegung der weiteren Tatbestandsmerkmale zu beachten.
17 bb) Zwar hat der Kläger Einkünfte „aus einer anderen als in einem Drittstaat belegenen gewerblichen Betriebsstätte“ bezogen, weil das Königreich der Niederlande die sinngemäß anwendbare Drittstaatendefinition nicht erfüllt (§ 32b Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2a Abs. 2a Satz 1 Nr. 1 EStG). Drittstaaten sind demnach solche Staaten, die nicht Mitglied der EU sind und die auch nicht zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gehören.
18 cc) Die Betriebsstätte des Klägers ist aber keine solche, „die nicht die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 erfüllt“. Mit diesem Relativsatz hat der Gesetzgeber (nur) auf die in § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG enthaltenen Aktivitätsanforderungen verwiesen (gleicher Auffassung Schmidt/Heinicke, a.a.O., § 32b Rz 34; Kuhn/Kühner in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32b EStG Rz 129; Blümich/Wagner, § 32b EStG Rz 67; Egner/Quinten in Kanzler/Kraft/Bäuml, EStG, § 32b Rz 34; Schmidt/Heinz, Internationales Steuerrecht —IStR— 2009, 43; Wittkowski/ Lindscheid, IStR 2009, 225; Holthaus, Deutsche Steuer-Zeitung 2009, 188; Gebhardt/Quilitzsch, IStR 2010, 390; , Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 1003). Liegen diese nicht vor, handelt es sich also um eine EU/EWR-Betriebsstätte mit —positiven oder negativen— Einkünften aus passiver Tätigkeit, für die der Progressionsvorbehalt ausgeschlossen ist. Bei EU/EWR-Betriebsstätten mit —positiven oder negativen— Einkünften aus aktiver Tätigkeit i.S. des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG bleibt es hingegen bei der Anwendung des besonderen Steuersatzes. Dass die Tätigkeit des Klägers als Belastingadviseur die Aktivitätsanforderungen („Bewirkung gewerblicher Leistungen“) erfüllt, steht im Streitfall außer Frage.
19 aaa) Dass der im Relativsatz des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG enthaltene Verweis auf die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 EStG nicht isoliert zu betrachten und wortwörtlich zu nehmen ist, folgt aus dem systematischen Zusammenhang der Regelungen und aus der Entstehungsgeschichte der Norm (vgl. Senatsurteil vom I R 37/08, BFHE 225, 323, BStBl II 2011, 894, zu einer vergleichbaren Auslegungsfrage).
20 Bei einem streng wortlautgetreuen Verständnis (allein) des Relativsatzes käme die darin enthaltene Negativvoraussetzung praktisch nie zum Tragen, die Regelung wäre schlicht überflüssig. Denn die erste der in § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG genannten Voraussetzungen („aus einer anderen als in einem Drittstaat belegenen gewerblichen Betriebsstätte“) setzt positiv gewendet das Vorliegen einer EU/EWR-Betriebsstätte voraus. Eine EU/EWR-Betriebsstätte wird aber immer zugleich auch der zweiten —negativen— Voraussetzung des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG („die nicht die Voraussetzungen des § 2a Absatz 2 Satz 1 erfüllt“) unterfallen, weil EU/EWR-Betriebsstätten nicht als Drittlandsbetriebsstätten i.S. von § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG qualifiziert werden können. Abgesehen davon, dass dem Gesetzgeber im Allgemeinen nicht zu unterstellen ist, „leerlaufende“ Regelungen treffen zu wollen, darf die Wortlautauslegung nicht auf den Relativsatz beschränkt werden. Diese muss vielmehr den Blick auf den gesamten Gesetzestatbestand richten: Mit der ersten in § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG enthaltenen Voraussetzung, wonach es sich um eine Nicht-Drittstaatenbetriebsstätte handeln muss, wird der Belegenheitsaspekt der verschiedenen Betriebsstättenerfordernisse eigenständig geregelt und abschließend mit der ersten Voraussetzung beantwortet. Demgegenüber bezieht sich der im folgenden Relativsatz enthaltene Verweis auf § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG nur noch auf die nicht belegenheitsbezogenen Eigenschaften der Betriebsstätte, also auf die Aktivitätsanforderungen.
21 bbb) Dass der im Relativsatz des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG enthaltene Verweis auf § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG bei rein wortlautverhaftetem Verständnis zu keinen sinnhaften Ergebnissen führt, zeigt sich auch daran, dass dort stets das Vorliegen negativer Einkünfte vorausgesetzt wird. Diese Voraussetzung wird im „Gewinnfall“ (Steuerpflichtiger mit positiven Einkünften) von vornherein nicht erfüllt und würde zum „automatischen“ Wegfall des Progressionsvorbehalts bei EU/EWR-Betriebsstätten führen, während es für EU/EWR-Betriebsstätten mit negativen Einkünften —die weiteren Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG als gegeben unterstellt— bei der Anwendung des Progressionsvorbehalts bliebe. Dies widerspräche aber dem sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergebenden Befund, dass es für die Geltung oder Nichtgeltung eines besonderen Steuersatzes nicht auf den Erfolg der wirtschaftlichen Betätigung ankommen soll. Der Gesetzgeber wollte aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen negative und positive Einkünfte gleichbehandelt wissen (BTDrucks 16/10189, S. 46 und 53; s.a. oben unter II.3.b aa der Gründe dieses Beschlusses).
22 4. Durch die Anwendung des positiven Progressionsvorbehalts wird der Kläger nicht in seinen Grundfreiheiten beschränkt. Der Senat verweist insoweit auf seinen Beschluss vom I B 10/10 (BFH/NV 2011, 17, m.w.N.). Die dort gemachten Ausführungen lassen sich auf die vom Kläger geltend gemachte Verletzung der Niederlassungsfreiheit bzw. Dienstleistungsfreiheit übertragen. Der Senat erachtet diese Rechtslage für eindeutig. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union —wie von den Klägern begehrt— bedarf es deshalb nicht (z.B. EuGH-Urteil CILFIT vom C-283/81, EU:C:1982:335).
23 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2017:B.260117.IR66.15.0
Fundstelle(n):
BB 2017 S. 2211 Nr. 38
BFH/NV 2017 S. 726 Nr. 6
IWB-Kurznachricht Nr. 9/2017 S. 322
StuB-Bilanzreport Nr. 10/2017 S. 401
AAAAG-43545