Dichtung und Wahrheit
Die Beziehung zwischen der betriebswirtschaftlichen Wirklichkeit und ihrer bilanziellen Abbildung ist und bleibt komplex. Wilhelm Rieger hat sie vor 90 Jahren so charakterisiert: „Die Jahresbilanz ist also ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung. Die ... daraus abzuleitende Konsequenz wäre nicht etwa, dass wir uns nach einer anderen Art des Jahresabschlusses umsehen, sondern das resignierte Bekenntnis, dass es im Leben der Unternehmung eine wahre und richtige Abrechnung überhaupt nicht gibt.“ (Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 1927/1959).
Eine radikale Schlussfolgerung aus diesem „resignierten Bekenntnis“ wäre, den Anspruch einer objektivierten Darstellung der Wirklichkeit aufzugeben und stattdessen die Offenlegung der subjektiven Wahrheiten zu verlangen. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Konsequenz mit IFRS 8 gezogen worden. Der Segmentbericht soll nach dem management approach die Aktivitäten des Unternehmens nicht anhand (schein-)objektiver Kriterien (Risiko, Chance usw.) disaggregieren, sondern sie so aufgliedern, wie sie das Management für interne Steuerungszwecke aufgegliedert hat („through the eyes of the management“). Die Schwierigkeiten, die auch dieser Ansatz in der praktischen Umsetzung mit sich bringt, beleuchten Michael Hinz, Maya Tettenborn und Tobias Nell in ihrem Aufsatz zur .
Eine weitere, wenngleich weniger offensichtliche Tendenz zur Subjektivierung findet sich auch im Bereich des hedge accounting . Viel deutlicher als die Vorgängerregeln in IAS 39 bindet IFRS 9 die bilanzielle Abbildung von Sicherungszusammenhängen an die vom Management angewandten Sicherungsstrategien. Der Beitrag von und zum „Spannungsfeld hedge accounting“ zeigt auf, welche Vorteile, aber auch Schwächen der neue Ansatz vor diesem Hintergrund bietet.
Bei allem darf nicht übersehen werden, dass der Standardsetzungsprozess trotz politisch-lobbyistischer Rahmenbedingungen im Großen und Ganzen um die Entwicklung von Regeln bemüht ist, die – siehe Rieger – zwar nie die eine „richtige Abrechnung“ gewährleisten werden, aber doch nicht offensichtlich ganz falsch sein sollen. Dieses Bemühen bringt es mit sich, dass deutlich gewordene Defizite mit Reparaturmaßnahmen bedacht werden. Der Beitrag von Lars Ruberg erläutert eine solche Reparaturmaßnahme im Bereich der . Er hinterfragt dabei kritisch, ob die Reparatur möglicherweise zu sehr an der Oberfläche geblieben ist, ohne die Mängel im konzeptionellen Gerüst anzugehen.
Beste Grüße
Norbert Lüdenbach
Fundstelle(n):
PiR 5/2016 Seite 1
NWB IAAAF-72776