Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: BVerfGG § 23 Abs. 1 Satz 2; BVerfGG § 90 Abs. 2 Satz 1; BVerfGG § 92; BVerfGG § 93a; BVerfGG § 93a Abs. 2; BVerfGG § 93b; BVerfGG § 93d Abs. 1 Satz 3; SGB IV § 8 Abs. 1; SGG § 160 Abs. 2; SGG § 160a Abs. 2 Satz 3; GG Art. 2; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 3; GG Art. 9 Abs. 3; GG Art. 14; GG Art. 14 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 20 Abs. 3
Instanzenzug: BSG, B 12 KR 11/05 B vom LSG Nordrhein-Westfalen, L 5 KR 89/03 vom
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Berechnung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages. Konkret geht es um die Frage, ob für die Festsetzung der Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung das tarifvertraglich geschuldete ("Entstehungsprinzip") oder das tatsächlich gezahlte (niedrigere) Arbeitsentgelt ("Zuflussprinzip") als Bemessungsgrundlage heranzuziehen ist.
I.
Die Beschwerdeführerin beschäftigte von September 1990 bis Dezember 1999 eine Mitarbeiterin in ihrem Einzelhandelsgeschäft. In einem schriftlich geschlossenen Arbeitsvertrag waren eine wöchentliche Arbeitszeit von 12 Stunden und ein monatliches Entgelt von 610 DM in den Jahren 1997 und 1998 und 630 DM im Jahr 1999 vereinbart worden. Urlaubsgeld oder Sonderzuwendungen waren danach nicht geschuldet. Die Beschwerdeführerin führte die Mitarbeiterin als geringfügig Beschäftigte und leistete für diese ab April 1999 Pauschalbeiträge zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung. Nach einer Betriebsprüfung stellte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (jetzt: Deutsche Rentenversicherung Bund) die Versicherungspflicht der Mitarbeiterin in der gesetzlichen Sozialversicherung fest und forderte für den Zeitraum von Januar 1997 bis Dezember 1999 Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 5.241,59 € nach. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte hatte als Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge den nach den für den Bereich des Einzelhandels in Nordrhein-Westfalen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geschuldeten Stundenlohn nach der niedrigsten Lohnstufe und daraus entstandene Ansprüche auf tarifliche Sonderzahlungen ermittelt. Die von der Beschwerdeführerin geschuldeten Zahlungen überschritten die Grenze für eine versicherungsfreie geringfügige Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV).
Im Verwaltungsverfahren und vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit wandte sich die Beschwerdeführerin erfolglos gegen die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen. Auch das Sozialgericht und das Landessozialgericht beurteilten die Versicherungspflicht nicht nach dem tatsächlich geleisteten, sondern nach dem aus den Tarifverträgen geschuldeten Arbeitsentgelt. Das Bundessozialgericht hat die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe einen Revisionszulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht ausreichend begründet (§ 160a Abs. 2 Satz 3 SGG).
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts und den Beschluss des Bundessozialgerichts und macht eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2, 3, Art. 9 Abs. 3, Art. 14 und Art. 20 Abs. 3 GG geltend. Sie trägt vor, es fehle an einer gesetzlichen Regelung, die zur Beitragserhebung von tarifvertraglich geschuldetem, nicht gezahltem Arbeitsentgelt ermächtige. Es gehöre nicht zum Regelungsbereich eines Tarifvertrages, für die Erhebung von Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung zu sorgen. Zudem habe die Beschwerdeführerin darauf vertrauen dürfen, dass der Beitragserhebung nur das tatsächlich geleistete Arbeitsentgelt zugrunde gelegt werde.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
1. Die Beschwerdeführerin hat nicht den Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ordnungsgemäß erschöpft. Eine Verfassungsbeschwerde ist in der Regel unzulässig, wenn ein an sich gegebenes Rechtsmittel, durch dessen Gebrauch der behauptete Grundrechtsverstoß hätte ausgeräumt werden können, aus prozessualen Gründen erfolglos bleibt (vgl. BVerfGE 74, 102 <114>; BVerfGK 1, 222 <223>; stRspr). Nach Verfassungsrecht ist es unbedenklich, die Beschreitung des Rechtswegs von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig zu machen. Dies gilt insbesondere für Begründungs-, Darlegungs- und Bezeichnungserfordernisse im Verfahren vor dem Revisionsgericht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1412/99 -, SozR 3-1500 § 160a Nr. 31). Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Bundessozialgericht bei der Verwerfung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als unzulässig unzumutbare und willkürliche Anforderungen an die Darlegungspflicht nach § 160a Abs. 2 Satz 3 SGG gestellt und dadurch die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt hat.
Obwohl sich die Verfassungsbeschwerde ausdrücklich auch gegen den Beschluss des Bundessozialgerichts richtet, hat die Beschwerdeführerin zu dieser Entscheidung nichts vorgetragen (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Die Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde hat sie der Verfassungsbeschwerde nicht beigefügt.
2. a) Im Übrigen fehlt es an einer hinreichend substantiierten Begründung nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Soweit die Beschwerdeführerin sinngemäß vorträgt, sie sei dadurch in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, dass nicht der Gesetzgeber, sondern die Tarifvertragsparteien - ohne kraft Gesetzes dazu ermächtigt zu sein - über das Bestehen der Sozialversicherungspflicht entschieden, entspricht diese Ansicht nicht der einfachen Rechtslage: Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bestimmen das geschuldete Arbeitsentgelt zwar anhand der allgemeinverbindlichen Tarifverträge. Dass bei versicherungspflichtigen Beschäftigten das Arbeitsentgelt der Beitragsbemessung zugrunde zu legen ist, regelt dagegen für die einzelnen Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung das Gesetz (§ 342 Drittes Buch Sozialgesetzbuch <SGB III>, § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch <SGB V>, § 162 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>, § 57 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch <SGB XI> i.V.m. § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V). Ferner hat der Gesetzgeber die Höhe des Arbeitsentgelts als maßgebliches Kriterium für das Vorliegen einer geringfügigen Beschäftigung nach § 8 Abs. 1 SGB IV und damit für die Versicherungsfreiheit in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung (§ 7 Abs. 1 SGB V, § 7 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 1 Abs. 2 SGB XI, § 5 Abs. 2 SGB VI, § 27 Abs. 2 SGB III) bestimmt.
b) Aus der Verfassungsbeschwerde geht auch keine mögliche Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes hervor. Der Vortrag der Beschwerdeführerin, sie werde mit der Zahlung von höheren Sozialversicherungsbeiträgen belastet und dadurch gegenüber nicht tarifgebundenen Arbeitgebern ohne sachlichen Grund schlechter gestellt, trifft nicht zu. Das Gesetz gibt das Arbeitsentgelt als Bemessungsgrundlage für alle gegen Arbeitsentgelt Beschäftigten vor. Der Maßstab für die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge ist daher für alle Beschäftigten gleich. Im Übrigen wird bei der ersten Gruppe von Versicherten der Sozialversicherungsbeitrag auf kollektivvertraglicher und in der zweiten Gruppe auf individualvertraglicher Grundlage bemessen; in beiden Fällen wird auf das vereinbarte und geschuldete Arbeitsentgelt abgestellt.
c) Der Vortrag der Beschwerdeführerin, durch die Anwendung des Entstehungsprinzips werde der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt, lässt schon keinen konkreten Vertrauenstatbestand auf eine (Weiter-)Geltung des Zuflussprinzips erkennen. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht nicht so weit, dass er sich auf jede Erwartung stützen lässt. Vielmehr ist nur das - insbesondere in Form von getroffenen Dispositionen - betätigte Vertrauen schutzwürdig (vgl. BVerfGE 69, 272 <309>; 75, 246 <280>). Dazu hat die Beschwerdeführerin nichts vorgetragen. Der bloße Hinweis auf eine - von der Beschwerdeführerin als bekannt vorausgesetzte - frühere Verwaltungsübung genügt dafür nicht. Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdeführerin selbst vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit erklärt hat, sie habe von den geschuldeten tariflichen Lohnhöhen keine Kenntnis gehabt. Im Übrigen war die Änderung der Rechtsprechung vom Zufluss- auf das Entstehungsprinzip schon seit Jahren bekannt (vgl. dazu BSGE 93, 119 <122 ff.>).
d) Soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG annimmt, weil dieser nur die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen und nicht den Begriff des Arbeitsentgelts als Bemessungsgrundlage im Sozialversicherungsrecht erfasse, fehlt es an der Geltendmachung einer eigenen Grundrechtsverletzung.
Zu Art. 14 Abs. 1 GG enthält die Verfassungsbeschwerde keine Ausführungen.
Im Übrigen wird zur Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesauslegung bei der Anwendung des Entstehungsprinzips auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des - verwiesen (im Umdruck beigefügt).
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstelle(n):
HAAAC-95591