Steuerbefreiung von Umsätzen einer Heilpädagogin
Leitsatz
§ 4 Nr. 14 UStG 1993 setzt bei richtlinienkonformer Auslegung voraus, dass der Unternehmer eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin durch ärztliche oder arztähnliche Leistungen erbringt und dass er dafür die erforderliche Qualifikation besitzt. Die Leistungen von Heilpädagogen können sowohl Heilbehandlungen als auch "nichtmedizinische" Hilfen im Bereich der Lebensführung sein. Leistungen von Heilpädagogen sind gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1993 steuerfreie Heilbehandlungen, wenn sie direkt an der Krankheit und deren Ursachen ansetzen und nicht nur darauf abzielen, die Auswirkungen der Erkrankung auf die Lebensgestaltung aufzufangen oder abzumildern.
Gesetze: UStG § 4 Nr. 14
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) gibt die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ihren im Streitjahr 1993 ausgeübten Beruf als Heil- und Motopädagogin an. Seit gehörte sie als freie Mitarbeiterin dem Praxisteam einer Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und Kinderheilkunde an.
Die Klägerin hat folgenden beruflichen Werdegang:
- Ausbildung zur Krankenschwester
- berufsbegleitende Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin
- 1986: staatlich anerkannter Abschluss als Heilerziehungspflegerin
- 1992: staatlich anerkannter Abschluss als Heilpädagogin
- 1994: Zusatzqualifikation Motopädagogik
- 1998: Zusatzqualifikation Sensorisch - Integrative (SI) Pädagogik
Die Klägerin war in der Praxis der Ärztin unter deren fachärztlicher Anleitung im diagnostischen Bereich für die Anwendung, Durchführung und Auswertung standardisierter Testverfahren für die Bereiche Motorik, Entwicklung, Sprache und Intelligenz zuständig. Im therapeutischen Bereich oblagen ihr nach dem durch das FG festgestellten Sachverhalt unter ärztlicher Aufsicht die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit heilpädagogischen, motopädagogischen und kindertherapeutischen Verfahren in Einzelsitzungen sowie Kleingruppen sowie die Durchführung der begleitenden Elterngespräche.
Nach der Tätigkeitsbeschreibung der Klägerin vom , auf die das FG Bezug nahm, behandelte die Klägerin auch „viele Kinder mit Dyspraxien”. Danach „war” bei diesen Störungsbildern ihre „Zusatzqualifikation als SI-Pädagogin von großer Wichtigkeit”.
Das FG stellte fest, dass die von der Klägerin ausgeführten Leistungen „Bestandteil” des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) für die Abrechnung der Vertragsärzte (EBM Kapitel E II. physikalisch-medizinische Leistungen, Nrn. 511, 512 und Kapitel I. Kinderheilkunde Nrn. 960, 961) waren, „die nach Nachweis einer entsprechenden Weiterbildung des Arztes bzw. bei Vorliegen einer besonderen Zusatzqualifikation des nichtärztlichen Mitarbeiters abgerechnet wurden”. Nach der Tätigkeitsbeschreibung der Klägerin vom erfolgten die Diagnosen gemäß den Nrn. 890 bis 896 des EBM.
Zur Abrechnung ihrer Umsätze gegenüber der Ärztin vermerkte die Klägerin die den Leistungen zugrundeliegenden EBM-Abrechnungsnummern auf Behandlungsprotokollen. Die Leistungen rechnete die Ärztin im eigenen Namen mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ab. Nach Eingang der KV-Zahlungen erhielt die Klägerin nach dem festgestellten Sachverhalt die ihren EBM-Leistungen entsprechenden Vergütungsanteile gutgeschrieben. Zur eigenen Abrechnung den Kassen und anderen Sozialversicherungsträgern gegenüber war die Klägerin dagegen nicht berechtigt.
Nach der Einlassung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom , auf die das FG Bezug nahm, wurde entsprechend „dem Sozialamt gegenüber für die von dort überwiesenen Patienten abgerechnet, nur dass dort feste Stundensätze” galten.
Im Streitjahr nahm die Klägerin für die der Ärztin gegenüber erbrachten Leistungen insgesamt 69 208,34 DM ein, die nach den Feststellungen des FG mit 15 596,29 DM auf die Behandlung gesetzlich krankenversicherter Kinder und mit 53 512,05 DM auf Kinder entfielen, deren Krankenfürsorge vom Sozialamt übernommen worden war (Sozialhilfeempfänger). Daneben erhielt sie aus einer Tätigkeit für ein Berufsförderungswerk 3 640 DM.
Für die gesamten Umsätze, insgesamt 72 848,34 DM, beanspruchte die Klägerin in der Umsatzsteuererklärung 1993 die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG 1993).
Dieser Erklärung stimmte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) zunächst zu.
In dem nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) am geänderten Umsatzsteuerbescheid für 1993 vertrat das FA dagegen die Auffassung, die Leistungen von Heilpädagogen seien umsatzsteuerpflichtig, da diese Tätigkeiten mangels berufsrechtlicher Regelungen nicht unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 14 UStG 1993 fielen. Ausgehend von einem Bruttoumsatz von 72 848 DM errechnete das FA danach bei angenommenen Vorsteuerbeträgen in Höhe von 3 000 DM eine festzusetzende Umsatzsteuer von 6 751 DM.
Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos, die Klage hatte hingegen Erfolg.
Das FG führte aus, die Leistungen der Klägerin seien gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1993 umsatzsteuerfrei. Es komme darauf an, ob die Leistungen der Klägerin der Art nach von den Sozialversicherungsträgern finanziert worden seien. Dies sei hier der Fall, da die von der Klägerin ausgeführten Leistungen Regelleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seien. Außerdem ergebe sich aus § 28 Abs. 1 Satz 2, § 43a und § 85 Abs. 2 Satz 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), dass der Gesetzgeber die „heil- und motopädagogischen” Leistungen der Klägerin als arztähnlich ansehe.
Das Urteil ist in „Entscheidungen der Finanzgerichte” (EFG) 2006, 773 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA sinngemäß Verletzung des § 4 Nr. 14 UStG 1993.
Das FA meint, Heilpädagogen führten keine heilberuflichen, sondern sozialpflegerische Leistungen aus.
Ferner ist das FA der Auffassung, der Zweck des § 4 Nr. 14 UStG 1993, die Sozialversicherungsträger von der Umsatzsteuer zu entlasten, erfordere es nicht, die Leistungen der Klägerin gegenüber der Ärztin von der Umsatzsteuer zu befreien.
Das FA beantragt, die angegriffene Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung sowie zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Ob die Umsätze der Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit als Heilpädagogin gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1993 umsatzsteuerfrei sind, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.
a) Unerheblich für die Steuerbefreiung nach dieser Vorschrift ist, dass die Klägerin Subunternehmerin der Ärztin war und ihr gegenüber abrechnete (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften —EuGH— vom Rs. C-106/05, L. u. P. GmbH, BFH/NV Beilage 2006, 442, Umsatzsteuer-Rundschau —UR— 2006, 464 Rz 37, 38; , BFHE 208, 80, BStBl II 2005, 190, unter II.1., m.w.N.).
b) § 4 Nr. 14 UStG 1993 setzt bei richtlinienkonformer Auslegung voraus, dass der Unternehmer eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin durch ärztliche oder arztähnliche Leistungen erbringt und dass er dafür die erforderliche Qualifikation besitzt (vgl. , Christoph-Dornier-Stiftung, Slg. 2003, I-12911, BFH/NV Beilage 2004, 40, UR 2003, 584 Rz 5; vom C-443/04 und C-444/04, Solleveld u.a., BFH/NV Beilage 2006, 299, UR 2006, 587 Rz 24, 37; , BFHE 211, 69, BStBl II 2005, 904; vom V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143).
Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der im Streitjahr geltenden Sechsten Richtlinie des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) umfassen Tätigkeiten, die zum Zweck der Vorbeugung, der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen für bestimmte Patienten ausgeführt werden (, BFHE 210, 188, BStBl II 2005, 675; vom V R 7/05, BFH/NV 2006, 2387, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2006, 1982, m.w.N.).
c) Die Leistungen von Heilpädagogen können sowohl Heilbehandlungen als auch „nichtmedizinische” Hilfen im Bereich der Lebensführung sein (vgl. , Die Leistungen der Krankenversicherung Beilage 1999, 16, Urteilssammlung für die gesetzliche Krankenversicherung —USK— 98145; vom B 1 KR 34/01 R, Sozialrecht —SozR— 4-2500 § 18 Nr. 1, USK 2003-108). Entscheidend kommt es dabei auf die Zielsetzung der Maßnahmen an: Leistungen von Heilpädagogen sind Heilbehandlungen, wenn sie direkt an der Krankheit und deren Ursachen ansetzen und nicht nur darauf abzielen, die Auswirkungen der Erkrankung auf die Lebensgestaltung aufzufangen oder abzumildern (vgl. BSG-Urteil in SozR 4-2500 § 18 Nr. 1, USK 2003-108).
d) Ob hiernach sämtliche Leistungen der Klägerin für die Ärztin im Streitjahr Heilbehandlungen waren, kann der Senat nicht selbst entscheiden, weil die Feststellungen des FG hierzu unzureichend sind und nicht erkennen lassen, auf welches Jahr sie sich beziehen.
aa) Zwar erfolgte nach den Feststellungen des FG die Abrechnung der Leistungen der Klägerin nach den Abrechnungsnummern 511 und 512 für die physikalisch-medizinischen Leistungen, Nrn. 960 und 961 im Bereich der Kinderheilkunde und Nrn. 890 bis 896 für die Diagnostik. Diese Abrechnungsnummern beziehen sich allesamt direkt auf Krankheiten.
Allerdings kann diese Feststellung hinsichtlich der Nrn. 511 und 512 des EBM nicht zutreffen. Der im Streitjahr geltende EBM sah nämlich diese Abrechnungsnummern nicht vor (vgl. Mundenbruch, BMA E-GO EBM, 19. bis 21. Aufl., E.II.). Damit steht nicht fest, ob diese Leistungen in anderen Jahren ausgeführt wurden oder welcher Zielsetzung sie dienten, wenn sie die Klägerin im Streitjahr 1993 ausführte.
bb) Ferner konzentrieren sich die Feststellungen des FG auch an anderen Stellen nicht auf die Leistungen der Klägerin im Streitjahr 1993, so dass offen bleibt, welche Umsätze die Klägerin in 1993 ausführte:
Einerseits stellte das FG fest, dass der Klägerin „im therapeutischen Bereich…die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit heilpädagogischen motopädagogischen und kindertherapeutischen Verfahren” oblagen. Andererseits erwarb die Klägerin die Zusatzbezeichnung Motopädagogik nach den Feststellungen des FG erst im Jahr 1994. Damit bleibt offen, ob die Klägerin bereits im Jahr 1993 motopädagogisch tätig wurde.
Nach der durch Bezugnahme festgestellten (§ 118 Abs. 2 FGO) Tätigkeitsbeschreibung der Klägerin vom behandelte die Klägerin „auch viele Kinder mit Dyspraxien”, wobei bei diesen Störungsbildern ihre „Zusatzqualifikation als SI-Pädagogin von großer Wichtigkeit” war. Diese Beschreibung bezieht sich auf Leistungen, die erst nach Erwerb der Zusatzqualifikation in SI-Pädagogik im Jahr 1998 ausgeführt wurden. Demnach betreffen sie nicht das Streitjahr 1993.
Somit war das Urteil aufzuheben und an das FG zurückzuweisen.
2. Im zweiten Rechtsgang wird das FG Folgendes zu beachten haben:
a) In Betracht kommt die Anwendung des § 19 Abs. 1 UStG 1993. Danach wird für Umsätze i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 UStG 1993 geschuldete Umsatzsteuer von Unternehmern nicht erhoben, wenn der Umsatz zuzüglich der darauf entfallenden Steuer im vorangegangenen Jahr 25 000 DM nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 100 000 DM voraussichtlich nicht übersteigen wird.
Im Jahr 1993 führte die Klägerin Umsätze in Höhe von 72 848,34 DM aus, so dass die Grenze in Höhe von 100 000 DM für das Streitjahr unterschritten ist. Das FG wird Feststellungen zu den Umsätzen im Jahr 1992 und zu einem Verzicht auf die Anwendung des § 19 Abs. 1 UStG 1993 nachzuholen haben.
b) Wenn die Klage nicht bereits wegen der Anwendung des § 19 Abs. 1 UStG 1993 begründet ist und Heilbehandlungen i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG vorliegen, kommt es für die Befreiung der Umsätze der Klägerin als Heilpädagogin gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1993 darauf an, ob sie die erforderliche Qualifikation besitzt. Hierfür sind die Grundsätze der Senatsrechtsprechung zu beachten (vgl. , BFHE 207, 381, BStBl II 2005, 227; in BFHE 211, 69, BStBl II 2005, 904).
Greift § 4 Nr. 14 UStG 1993 nicht ein, so kommt eine Steuerbefreiung gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG in Betracht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143).
c) Die Leistungen der Klägerin aus ihrer Tätigkeit für das Berufsbildungswerk sind steuerbar (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG 1993), wenn sie insoweit selbstständig, also als Unternehmerin tätig war. Sofern es sich bei den Leistungen um selbstständige Lehrtätigkeit handelt, weist der Senat auf seinen Vorlagebeschluss an den (BStBl II 2006, 147, BFH/NV 2006, 461) hin.
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1203 Nr. 6
HFR 2007 S. 780 Nr. 8
NWB-Eilnachricht Nr. 21/2007 S. 1756
NWB-Eilnachricht Nr. 31/2007 S. 16
UR 2007 S. 428 Nr. 11
DAAAC-43770