Berücksichtigung eines unterlassenen Verböserungshinweises im Klageverfahren; entsprechende Anwendung des § 68 FGO im NZB-Verfahren
Gesetze: AO § 367 Abs. 2 Satz 2; FGO § 68
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erwarben ein 1 147 qm großes Grundstück mit einem Einfamilienhaus nebst Anbau für 285 000 DM zuzüglich Nebenkosten (Grunderwerbsteuer, Notarkosten und Gebühren) von 8 956 DM. Die Übergabe sollte am erfolgen. Bereits am veräußerten sie eine Teilfläche von 506 qm als Bauplatz zum Preis von 90 000 DM. Sie verpflichteten sich, den auf der veräußerten Teilfläche stehenden Anbau auf ihre Kosten abzureißen und auf der neuen Grundstücksgrenze eine Mauer zu errichten. Die Kosten der Vermessung und Teilung trug der Käufer. Die Übergabe des durch Teilung entstandenen Grundstücks geschah vertragsgemäß am .
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) ermittelte zunächst aufgrund der Veräußerung des Grundstücksteils von 506 qm einen Spekulationsgewinn von 6 497 DM. Im Einspruchsverfahren reichten die Kläger ein Sachverständigengutachten ein, das die frühere Grundstückseigentümerin vor dem Verkauf an die Kläger hatte erstellen lassen, und errechneten auf dieser Grundlage einen Spekulationsverlust. Das FA ermittelte nunmehr, ausgehend von den Angaben des Gutachtens, den Spekulationsgewinn mit 10 684 DM und erläuterte die Berechnung in mehreren Schreiben an den Bevollmächtigten der Kläger. Einen ausdrücklichen Hinweis auf die Möglichkeit der Verböserung enthielten diese Schreiben nicht. Auf die wiederholte Aufforderung des FA, die Abbruchkosten für die Beseitigung des Anbaus anzugeben, verzichteten die Kläger insoweit auf rechtliches Gehör; weiterer Vortrag sei vor dem Hintergrund der Berechnungen ihres Bevollmächtigten „ungeeignet, die Steuerfestsetzung zu berühren”. In seiner Einspruchsentscheidung legte das FA den höheren Spekulationsgewinn von 10 684 DM zugrunde und setzte die Einkommensteuer von 12 056 DM auf 13 184 DM herauf. Am Tage der Fertigung der Einspruchsentscheidung wies die Sachbearbeiterin den Bevollmächtigten der Kläger telefonisch auf die Verböserung hin.
Im Klageverfahren beantragten die Kläger, die Einkommensteuer (ohne Ansatz eines Spekulationsgewinns) auf 10 376 DM herabzusetzen und die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt. Es ermittelte auf der Grundlage der Angaben des Sachverständigengutachtens den Spekulationsgewinn mit 8 754 DM.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger sämtliche Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Während des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens hat das FA unter dem eine Abrechnung (auf der Grundlage eines maschinell erstellten Steuerbescheids mit handschriftlichen Änderungen) erteilt, mit der es das Urteil des FG nachvollzieht. Die Kläger sehen darin eine erneute Steuerfestsetzung und halten deshalb den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Die Kläger beantragen, die Erledigung der Hauptsache festzustellen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Das FA widerspricht der Erledigungserklärung der Kläger und beantragt, die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. 1. Der Rechtsstreit ist nicht in der Hauptsache erledigt.
a) Die Abrechnung vom enthält keine erneute Festsetzung der Einkommensteuer. Zwar könnte sie auf den ersten Blick mit einem maschinell erstellten Steuerbescheid verwechselt werden. Jedoch enthält sie handschriftliche Änderungen, die erkennen lassen, dass ihr Regelungsgehalt nicht in einer erneuten Steuerfestsetzung, sondern lediglich in einer Abrechnung, Umbuchung und Zinsfestsetzung besteht, mit der das Urteil des FG datentechnisch umgesetzt werden sollte. In der gedruckten Überschrift ist das Wort „Bescheid” handschriftlich gestrichen und durch das Wort „Abrechnung” ersetzt. Unter dem Adressenfeld ist die gedruckte Zeile „Festsetzung und Abrechnung” mit dem handschriftlichen Zusatz versehen: „auf der Grundlage des Urteils des Nds. Az.: 14 K 108/00 –”. Die folgenden drei die Steuerfestsetzung betreffenden gedruckten Zeilen sind gestrichen. Auf Blatt 3 befindet sich der handschriftliche Zusatz: „Die umseitige Rechtsbehelfsbelehrung gilt nicht für diese Abrechnung.”
b) Im Übrigen wäre der Rechtsstreit selbst dann nicht in der Hauptsache erledigt, wenn die Abrechnung vom als erneute Steuerfestsetzung anzusehen wäre. In diesem Fall wäre der erneute Bescheid gemäß § 68 Satz 1 FGO automatisch Verfahrensgegenstand geworden. Diese Vorschrift gilt im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde entsprechend (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom X B 166/87, BFH/NV 1989, 380; vom VII B 124/99, BFH/NV 2000, 604).
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Ein Zulassungsgrund liegt nicht vor.
a) Ein Zulassungsgrund ergibt sich nicht daraus, dass das FG in der Sache entschieden hat, obwohl das FA vor seiner verbösernden Einspruchsentscheidung den nach § 367 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) vorgeschriebenen Hinweis unterlassen hatte.
Die von den Klägern sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob ein bezifferter Klageantrag mit der Rüge, das FA habe den Verböserungshinweis nach § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 unterlassen, so verbunden werden kann, dass im Klageverfahren zumindest die Verböserung rückgängig zu machen ist, hat keine grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Sie ist nicht klärungsbedürftig, weil sie nach der Rechtsprechung des BFH zu verneinen ist.
Allerdings unterläuft dem FA ein wesentlicher Verfahrensmangel, wenn es eine verbösernde Einspruchsentscheidung ohne Hinweis auf die Verböserungsmöglichkeit erlässt (, BFHE 69, 569, BStBl III 1959, 472; vom VI 264/61 U, BFHE 74, 371, BStBl III 1962, 140). Die Gerichte haben den Betroffenen dann so zu stellen, dass er durch das unrechtmäßige Verhalten keinen Schaden erleidet. Das FG muss daher den Steuerpflichtigen in die Lage zurückversetzen, in der er sich ohne den prozessualen Verstoß befände; das geschieht grundsätzlich durch die Zurückverweisung an das Finanzamt (BFH-Urteil in BFHE 69, 569, BStBl III 1959, 472). Zweck des Hinweises auf eine drohende Verböserung ist es indes, dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zur Stellungnahme und zur Zurücknahme seines Einspruchs zu geben. Wenn nach dem Prozessbegehren des Steuerpflichtigen eine Zurücknahme des Rechtsmittels nicht in Betracht kommt, er vielmehr —wie die Kläger im Streitfall— vor dem FG materiell-rechtliche Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung erhebt und die Herabsetzung der Steuer beantragt, so hat das Finanzgericht den Verfahrensfehler des Finanzamts nicht zu beachten, sondern über den weiter gehenden Klageantrag zu entscheiden (vgl. BFH-Urteile in BFHE 74, 371, BStBl III 1962, 140; vom IV 66/62 U, BFHE 76, 628, BStBl III 1963, 228; vom IV 213/64 U, BFHE 82, 440, BStBl III 1965, 407). Für das Ziel der Kläger, neben dem bezifferten Klageantrag das FA „an seinem Verfahrensfehler festzuhalten” und eine Herabsetzung der Steuer wenigstens im Umfang der Verböserung zu erreichen, fehlt es mithin an einer Rechtsgrundlage. Aus den genannten Gründen ist das FG im Streitfall nicht von dem BFH-Urteil in BFHE 74, 371, BStBl III 1962, 140 abgewichen (vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) und hat auch nicht i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO verfahrensfehlerhaft entschieden.
b) Auch die vom FG zur Ermittlung des Spekulationsgewinns vorgenommene Grundstücksbewertung rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.
aa) Die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage, ob im Streitfall der Grundstückswert ausnahmsweise nach dem sog. Vergleichswertverfahren zu bestimmen ist, weil der Bauplatz nur zwei Monate nach dem Erwerb des Grundstücks weiterveräußert worden war, rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 FGO. Diese Frage kann im Streitfall nicht geklärt werden. Die Ermittlung des Verkehrswerts ist Teil der Sachverhaltsfeststellung des FG, die für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend ist (§ 118 Abs. 2 FGO; , BFHE 143, 61, BStBl II 1985, 252; vom IX R 86/97, BFHE 193, 326, BStBl II 2001, 183). Die Anwendung einer falschen Bewertungsmethode, die das Revisionsgericht zu berücksichtigen hätte, ist nicht ersichtlich; das FG ist hinsichtlich der Bewertungsmethode der vorstehend zitierten Rechtsprechung gefolgt.
bb) Das FG hat bei der Grundstücksbewertung auch keinen Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begangen. Insbesondere hat es, indem es in Anknüpfung an das Sachverständigengutachten zwischen Vorderland und niedriger zu bewertendem Hinterland unterschieden hat, nicht gegen § 96 Abs. 2 FGO verstoßen. Auch wenn die Kläger und das FA im Laufe des Verfahrens im Ansatz übereinstimmend von einem einheitlichen Quadratmeterpreis ausgegangen sind, liegt keine unzulässige Überraschungsentscheidung vor, wenn das FG sich die vom Sachverständigen getroffene Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterland zu Eigen macht und die Kläger das Gutachten selbst im Einspruchsverfahren und im Klageverfahren vorgelegt hatten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 1514
BFH/NV 2004 S. 1514 Nr. 11
VAAAB-26543