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Online-Nachricht - Montag, 27.10.2025

Umsatzsteuer | Reemtsma-Direktanspruch auf Vorsteuererstattung im Insolvenzfall (FG)

Dekorative
		  GrafikDas FG Baden-Württemberg entschied, dass bei zu Unrecht in Rechnung gestellter und abgeführter Umsatzsteuer der Leistungsempfänger im Falle der Insolvenz des Leistenden die zu viel gezahlte Umsatzsteuer statt vom Leistenden im Billigkeitswege sofort und in voller Höhe gegenüber dem Finanzamt geltend machen kann. Er ist nicht gehalten, seinen Anspruch zunächst zur Insolvenztabelle anzumelden und abzuwarten, mit welchem Bruchteil sein Anspruch im Insolvenzverfahren erfüllt wird (, Revision zugelassen, BFH-Az. V R 31/24).

Sachverhalt: Die Klägerin, eine in der Schweiz ansässige Schweizer Aktiengesellschaft, wird beim beklagten Finanzamt (FA) umsatzsteuerlich geführt. In den Streitjahren 2010 und 2011 unterhielt die Klägerin Geschäftsbeziehungen zu dem in Insolvenz geratenen Handelsunternehmen C mit Sitz in Deutschland. Im Rahmen dieser Geschäftsbeziehungen erbrachte die C Dienstleistungen an die Klägerin, so z. B. Werbeleistungen, Vermittlung von Lieferantenverträgen, Pflege von Lieferantenkontakten. Die Klägerin rechnete in den Streitjahren 2010 und 2011 über die von C erbrachten Leistungen im Gutschriftverfahren unter gesondertem Ausweis deutscher Umsatzsteuer ab. Der Leistungsort befand sich jedoch nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG am Sitz der Klägerin in der Schweiz. Die Klägerin bezahlte die Rechnungsbeträge brutto an C und machte die gezahlte Umsatzsteuer beim FA als Vorsteuer geltend. C führte die Umsatzsteuer an das Finanzamt D im Inland ab. Im Rahmen des noch laufenden Insolvenzverfahrens über das Vermögen von C stellten die Insolvenzverwalter von C einen Antrag auf Erstattung der zu Unrecht abgeführten Umsatzsteuer beim Finanzamt D. Dieses Erstattungsverfahren war im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung noch nicht abgeschlossen.

Die Klägerin zahlte ihrerseits die ihr erstattete Vorsteuer im Februar 2015 an das FA zurück. Sie beantragte sodann im April 2016, ihr den Vorsteuerabzug aus den Gutschriften der Jahre 2010 und 2011 im Billigkeitswege nach § 163 AO zu gewähren. Das FA lehnte den Antrag ab.

Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg:

  • Die Klägerin hat einen Anspruch auf Vorsteuerabzug aus den Gutschriften der C im Billigkeitswege, weil das dem FA eingeräumte Ermessen auf eine niedrigere Steuerfestsetzung nach § 163 AO auf null reduziert ist.

  • Der Grundsatz der Neutralität im Umsatzsteuerrecht besagt, dass Unternehmer vollständig von der im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Umsatzsteuer zu entlasten sind. Gewährleistet ist dies im Regelfall durch das Recht auf Vorsteuerabzug. Im vorliegenden ist die Neutralität der Umsatzsteuer in Frage gestellt, weil die Klägerin zwar Zahlungen an C geleistet hat, die einen Umsatzsteueranteil enthielten, der von C auch an die Finanzverwaltung abgeführt wurde. Gleichwohl hat die Klägerin keinen Vorsteuerabzug, weil dieser nur bei tatsächlich geschuldeter Umsatzsteuer möglich ist. Die Klägerin hat zu Unrecht in ihren Gutschriften (Rechnungen) Umsatzsteuer ausgewiesen, die C vereinnahmt und an die Finanzverwaltung abgeführt hat.

  • In dieser Konstellation stellt sich die Frage, wie die Neutralität der Umsatzsteuer gewährleistet werden kann. Konstruktiv gibt es hierfür zwei Möglichkeiten: Entweder erfolgt die Abwicklung „übers Eck“, also entlang der Leistungs- bzw. Rechtsbeziehungen. Dies würde bedeuten, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht bezahlten Umsatzsteuer gegen C hat und dieser wiederum einen Steuererstattungsanspruch gegen den Fiskus. Alternativ könnte der Klägerin ein Direktanspruch gegen die Finanzverwaltung zugebilligt werden.

  • Die Rechtsprechung hält den erstgenannten Lösungsweg für grundsätzlich angemessen, sieht in Sonderfällen allerdings die Erforderlichkeit, einen Direktanspruch zuzubilligen (vgl. EuGH Reemtsma Cigarettenfabrik, ).

  • Der BFH hat aufgrund der Leitlinien des EuGH entschieden, dass der Leistungsempfänger zwar nicht selbst einen Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO habe, die Billigkeitsregelungen der §§ 163 und 227 AO aber eine hinreichende Möglichkeit böten, trotz Fehlens der materiell-umsatzsteuerrechtlichen Voraussetzungen den Vorsteuerabzug – jedenfalls im wirtschaftlichen Ergebnis – geltend zu machen, um auf diesem Weg den im Insolvenzverfahren nicht zu realisierenden Teil der gegen den Rechnungsaussteller gerichteten, zivilrechtlichen Forderung vom Finanzamt gutgebracht zu bekommen (vgl. , BStBl II 2022 S. 246; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 16.9.2015).

  • Das FA versteht die letztgenannte Entscheidung so, dass der Leistungsempfänger vorrangig im Insolvenzverfahren versuchen muss, die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer von seinem zivilrechtlichen Vertragspartner, dem Leistenden, im vorliegenden Fall also C, erstattet zu erhalten. Einen Direktanspruch hat er nur in dem Umfang, in dem seine Forderung wegen nicht ausreichender Masse ausfällt. Dem folgt der Senat nicht. Er hält es für sachgerecht, im Insolvenzfall dem Leistungsempfänger sofort und in voller Höhe einen Direktanspruch zuzubilligen.

  • Die Auffassung des FA ist nicht geeignet, die europarechtlich gebotene Neutralität der Umsatzsteuer und die Effektivität des europäischen Rechts zu gewährleisten. Sie hat zur Folge, dass der Leistungsempfänger unter Umständen viele Jahre warten muss, bis er seinen nach der Rechtsprechung des EuGH letztlich unzweifelhaft bestehenden Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Umsatzsteuer geltend machen kann.

  • Nach Auffassung des erkennenden Senats ist der Erstattungsanspruch des Leistenden gegen das FA auch im Falle einer Insolvenz nur gegeben, wenn er zuvor die in der Rechnung zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger zurückbezahlt hat. Der BFH hat ausdrücklich auch in Fällen der Insolvenz die Rückzahlung des berichtigten Steuerbetrags vom Leistenden an den Leistungsempfänger verlangt (vgl. , BStBl II 2022 S. 570, Rn. 53; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 1.8.2018 und ).

Quelle: FG Baden-Württemberg, Newsletter 1/2025 (lb)

Fundstelle(n):
RAAAK-02705