Gründe
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten, zur dritten und zur vierten Frage
47In der Formulierung der ersten, der dritten und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, bezieht sich das vorlegende Gericht auf eine nationale Regelung, die den Widerruf der Zulassung einer Rechtsanwaltsgesellschaft zur Rechtsanwaltschaft vorsieht, wenn ein Geschäftsanteil an dieser Gesellschaft auf eine Person übertragen wird, die nach dieser Regelung nicht Gesellschafter einer solchen Gesellschaft werden kann, wenn ein Gesellschafter in der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht beruflich tätig ist oder wenn die Gesellschafter, die Rechtsanwälte sind, nicht mehr die Mehrheit der Geschäftsanteile bzw. der Stimmrechte halten. Dem Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass mit dieser Regelung im Wesentlichen verhindert werden soll, dass reine Finanzinvestoren, die nicht die Absicht haben, in der Gesellschaft beruflich tätig zu sein, auf das operative Geschäft der Rechtsanwaltsgesellschaft Einfluss nehmen.
48Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind diese Fragen dahin aufzufassen, dass es damit im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 49 und Art. 63 Abs. 1 AEUV sowie Art. 15 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der es unzulässig ist, dass Geschäftsanteile an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf einen reinen Finanzinvestor übertragen werden, der nicht die Absicht hat, in der Gesellschaft eine in dieser Regelung bezeichnete berufliche Tätigkeit auszuüben, und die bei Zuwiderhandlung den Widerruf der Zulassung der betreffenden Rechtsanwaltsgesellschaft zur Rechtsanwaltschaft vorsieht.
49Zwar bezieht sich das vorlegende Gericht in seiner dritten Frage auch auf die Dienstleistungsfreiheit, doch geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht hervor, dass sich die SIVE auf diese Freiheit berufen möchte, um in Deutschland Rechtsdienstleistungen zu erbringen. Diese Freiheit ist daher im Ausgangsverfahren nicht relevant.
50Da das vorlegende Gericht sowohl auf die Niederlassungsfreiheit als auch auf die Kapitalverkehrsfreiheit Bezug nimmt, ist vorab zu bestimmen, welche Grundfreiheit auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist. Abzustellen ist dabei auf den Gegenstand der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung und gegebenenfalls auf die tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Falles (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Test Claimants in the FII Group Litigation, C-35/11, EU:C:2012:707, Rn. 90, 93 und 94, sowie vom , Viva Telecom Bulgaria, C-257/20, EU:C:2022:125, Rn. 78, 82 und 83).
51Insoweit fällt eine nationale Regelung, die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit. Hingegen sind nationale Bestimmungen über Beteiligungen, die in der alleinigen Absicht der Geldanlage erfolgen, ohne dass auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss genommen werden soll, ausschließlich im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr zu prüfen (Urteil vom , Viva Telecom Bulgaria, C-257/20, EU:C:2022:125, Rn. 79 und 80 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52Somit kann eine nationale Regelung, die nicht nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, sondern unabhängig vom Umfang der Beteiligung eines Anteilseigners an einer Gesellschaft gilt, sowohl unter die Niederlassungsfreiheit als auch unter die Kapitalverkehrsfreiheit fallen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Holböck, C-157/05, EU:C:2007:297, Rn. 23 und 24, sowie vom , Idryma Typou, C-81/09, EU:C:2010:622, Rn. 49).
53Der Gerichtshof prüft jedoch die in Rede stehende Maßnahme grundsätzlich nur im Hinblick auf eine dieser beiden Freiheiten, wenn sich herausstellt, dass unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann (Urteile vom , Fidium Finanz, C-452/04, EU:C:2006:631, Rn. 34, und vom , Glaxo Wellcome, C-182/08, EU:C:2009:559, Rn. 37).
54Im vorliegenden Fall zielt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung namentlich darauf ab, jede Beteiligung, gleich welchen Umfangs, von Personen, die weder Rechtsanwälte noch Angehörige eines in § 59a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BRAO a. F. genannten Berufs sind, an einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu verhindern.
55Im Übrigen hat die SIVE zwar 51 % des Stammkapitals der HR erworben, und in den sachlichen Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit fallen nationale Vorschriften, die anzuwenden sind, wenn eine Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat am Kapital einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Beteiligung hält, die es ihr grundsätzlich ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Glaxo Wellcome, C-182/08, EU:C:2009:559, Rn. 47), was bei einer Mehrheitsbeteiligung am Kapital der letztgenannten Gesellschaft der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom , Lasertec, C-492/04, EU:C:2007:273, Rn. 23, und AGET Iraklis, C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 46 und 47).
56Allerdings wurde die Satzung der HR geändert, damit die SIVE nicht die Einflussmöglichkeit hat, die sie auf der Grundlage des Kriteriums der Kapitalbeteiligung hätte in Anspruch nehmen können. Wie Teilen der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen ist, kann diese Änderung bedeuten, dass der Erwerb von Geschäftsanteilen an der HR durch die SIVE allein zu dem Zweck erfolgte, der HR Kapital zu verschaffen, das es ihr ermöglichen sollte, die Entwicklung eines innovativen Legal-Tech-Modells zu finanzieren.
57Daraus folgt, dass das Ausgangsverfahren ebenso unter die Niederlassungsfreiheit wie unter die Kapitalverkehrsfreiheit fällt, ohne dass eine dieser Freiheiten als der anderen gegenüber zweitrangig angesehen werden könnte.
58Was als Erstes die Niederlassungsfreiheit betrifft, ergibt sich aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123, dass Beschränkungen dieser Freiheit - u. a. wegen der äußerst großen Komplexität ihrer Handhabung von Fall zu Fall - nicht allein durch die direkte Anwendung des Art. 49 AEUV beseitigt werden können. Fällt ein Sachverhalt in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, ist er daher nicht auch am Maßstab des Art. 49 AEUV zu prüfen (Urteil vom , Kommission/Griechenland, C-729/17, EU:C:2019:534, Rn. 53 und 54).
59Zum einen fällt aber ausweislich des 33. Erwägungsgrunds der Richtlinie 2006/123 die Rechtsberatung, welche die von Rechtsanwälten erbrachten Rechtsdienstleistungen umfasst, in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Minister Sprawiedliwosci, C-55/20, EU:C:2022:6, Rn. 88).
60Zum anderen liegen in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung, insbesondere in der Beschränkung des Kreises der als Gesellschafter in Betracht kommenden Personen und im Erfordernis der aktiven Mitarbeit in der Gesellschaft (§ 59e Abs. 1 Sätze 1 und 2 BRAO a. F.), "Anforderungen" im Sinne des Art. 4 Nr. 7 der Richtlinie 2006/123, die sich im Kern auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen beziehen und damit unter Art. 15 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie fallen.
61Insoweit müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 prüfen, ob ihre Rechtsordnungen Anforderungen wie die in Art. 15 Abs. 2 aufgeführten vorsehen, und sicherstellen, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Art. 15 Abs. 3 erfüllen. Außerdem ist es den Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 5 Buchst. a und Abs. 6 dieser Richtlinie gestattet, Anforderungen der in Art. 15 Abs. 2 genannten Art beizubehalten oder gegebenenfalls einzuführen, sofern diese Anforderungen die Bedingungen des Art. 15 Abs. 3 erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Rina Services u. a., C-593/13, EU:C:2015:399, Rn. 33, und vom , Kommission/Österreich [Ziviltechniker, Patentanwälte und Tierärzte], C-209/18, EU:C:2019:632, Rn. 80).
62Die in Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 aufgezählten kumulativen Bedingungen betreffen erstens den nicht diskriminierenden Charakter der fraglichen Anforderungen, die weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder - bei Gesellschaften - aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen dürfen, zweitens ihre Erforderlichkeit, nämlich, dass sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein müssen, und drittens ihre Verhältnismäßigkeit, indem sie zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein müssen, nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und nicht durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen ersetzbar sind, die zum selben Ergebnis führen (Urteil vom , Kommission/Österreich [Ziviltechniker, Patentanwälte und Tierärzte], C-209/18, EU:C:2019:632, Rn. 81).
63Im vorliegenden Fall ist, was zunächst die erste Bedingung - diejenige der Nicht-Diskriminierung durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anforderungen - betrifft, keine davon diskriminierend, so dass sie diese Bedingung erfüllen.
64Sodann geht zur zweiten Bedingung - derjenigen der Erforderlichkeit der Anforderungen - aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass mit diesen die anwaltliche Unabhängigkeit und Integrität sowie die Wahrung des Transparenzgebots und die Beachtung der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht sichergestellt werden sollen.
65Es ist offensichtlich, dass diese Zielsetzung mit dem Schutz der Dienstleistungsempfänger, hier der Empfänger von Rechtsdienstleistungen, und mit der Wahrung der ordnungsgemäßen Rechtspflege zusammenhängt, beides zwingende Gründe des Allgemeininteresses im Sinne des Art. 4 Nr. 8 der Richtlinie 2006/123 in Verbindung mit deren 40. Erwägungsgrund. Da außerdem mit besagtem Art. 4 Nr. 8 nur die Rechtsprechung des Gerichtshofs kodifiziert wird, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung des Primärrechts sowohl den Schutz der Rechtsuchenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Reisebüro Broede, C-3/95, EU:C:1996:487, Rn. 38, vom , Peñarroja Fa, C-372/09 und C-373/09, EU:C:2011:156, Rn. 55, und vom , Lahorgue, C-99/16, EU:C:2017:391, Rn. 34 und 35) als auch die ordnungsgemäße Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als zwingende Gründe des Allgemeininteresses beurteilt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Wouters u. a., C-309/99, EU:C:2002:98, Rn. 107).
66Insoweit besteht die anwaltliche Vertretungsaufgabe, die im Interesse einer geordneten Rechtspflege auszuüben ist, vor allem darin, in völliger Unabhängigkeit und unter Beachtung des Gesetzes sowie der Berufs- und Standesregeln die Interessen des Mandanten bestmöglich zu schützen und zu verteidigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Uniwersytet Wroclawski und Polen/REA, C-515/17 P und C-561/17 P, EU:C:2020:73, Rn. 62, und vom , PJ und PC/EUIPO, C-529/18 P und C-531/18 P, EU:C:2022:218, Rn. 64). Den Rechtsanwälten wird die in einer demokratischen Gesellschaft grundlegende Aufgabe übertragen, für die Rechtsuchenden einzutreten. Diese Aufgabe impliziert zum einen das Bestehen der Möglichkeit für jeden Rechtsuchenden, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf an sich es seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen. Zum anderen geht mit ihr das Erfordernis der Loyalität des Rechtsanwalts gegenüber seinem Mandanten einher (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Orde van Vlaamse Balies u. a., C-694/20, EU:C:2022:963, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67Die dritte Bedingung schließlich - diejenige der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anforderungen - setzt voraus, dass diese zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sind, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und nicht durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden können, die zum selben Ergebnis führen.
68Im vorliegenden Fall sollen diese Anforderungen - insbesondere, indem mit ihnen ausgeschlossen wird, dass reine Finanzinvestoren etwa in der Lage wären, die Entscheidungen und die Geschäfte einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu beeinflussen - dazu beitragen, dass die anwaltliche Unabhängigkeit gewahrt und dem Verbot von Interessenkonflikten Rechnung getragen wird. Damit erscheinen sie geeignet, zu gewährleisten, dass das Ziel der Wahrung der ordnungsgemäßen Rechtspflege und des Schutzes der anwaltlichen Integrität erreicht wird.
69Das Bestreben eines reinen Finanzinvestors, seine Investition ertragreich zu gestalten, könnte sich nämlich auf die Organisation und die Tätigkeit einer Rechtsanwaltsgesellschaft auswirken. So könnte ein solcher Investor, sollte er den Ertrag seiner Investition für unzureichend halten, versucht sein, auf eine Kostensenkung oder das Bemühen um eine bestimmte Art von Mandanten hinzuwirken - gegebenenfalls unter der Androhung, dass er andernfalls seine Investition zurückziehen werde, was seine Einflussmöglichkeit, und sei sie auch nur mittelbar, hinreichend ausmacht.
70Erstens aber beschränkt sich das von einem reinen Finanzinvestor verfolgte Ziel auf das Streben nach Gewinn, während sich die anwaltliche Tätigkeit nicht an rein wirtschaftlichen Zwecken ausrichtet, sondern auch an die Einhaltung von Berufs- und Standesregeln gebunden ist.
71Insoweit ist klarzustellen, dass es für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs unerlässlich ist, dass es nicht zu Interessenkonflikten kommt, was insbesondere voraussetzt, dass Rechtsanwälte sich in einer Position der Unabhängigkeit - einschließlich in finanzieller Hinsicht - gegenüber staatlichen Stellen und anderen Wirtschaftsteilnehmern befinden, deren Einfluss sie nicht ausgesetzt sein dürfen (Urteil vom , Jakubowska, C-225/09, EU:C:2010:729, Rn. 61). Zum einen könnten sich nämlich in Ermangelung einer solchen finanziellen Unabhängigkeit wirtschaftliche Überlegungen, die auf einen kurzfristigen Gewinn des reinen Finanzinvestors ausgerichtet sind, gegenüber Erwägungen durchsetzen, die ausschließlich davon geleitet sind, dass die Interessen der Mandanten der Rechtsanwaltsgesellschaft vertreten werden. Zum anderen kann auch das Bestehen etwaiger Verbindungen zwischen einem reinen Finanzinvestor und einem Mandanten das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant in einer Weise beeinflussen, dass ein Konflikt mit Berufs- oder Standesregeln nicht ausgeschlossen werden kann.
72Zweitens steht es in Ermangelung einer Harmonisierung der für den Rechtsanwaltsberuf geltenden Berufs- und Standesregeln auf Unionsebene grundsätzlich jedem Mitgliedstaat frei, die Ausübung dieses Berufs in seinem Hoheitsgebiet zu regeln. Die für den Rechtsanwaltsberuf geltenden Regeln können daher in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Wouters u. a., C-309/99, EU:C:2002:98, Rn. 99, vom , Jakubowska, C-225/09, EU:C:2010:729, Rn. 57, und vom , Monachos Eirinaios, C-431/17, EU:C:2019:368, Rn. 31).
73Unter diesen Umständen kann ein Mitgliedstaat in Anbetracht des ihm somit eingeräumten Beurteilungsspielraums legitimerweise davon ausgehen, dass der Rechtsanwalt nicht in der Lage wäre, seinen Beruf unabhängig und unter Beachtung seiner Berufs- und Standespflichten auszuüben, wenn er einer Gesellschaft angehörte, zu deren Gesellschaftern Personen zählen, die zum einen weder den Rechtsanwaltsberuf noch einen anderen Beruf ausüben, für den es Regulative in Form von Berufs- und Standesregeln gibt, und die zum anderen ausschließlich als reine Finanzinvestoren handeln, ohne die Absicht zu haben, in dieser Gesellschaft eine entsprechende Berufstätigkeit auszuüben. Dies gilt erst recht, wenn es wie im Ausgangsverfahren um den Erwerb der Mehrheit der Geschäftsanteile an der in Rede stehenden Rechtsanwaltsgesellschaft durch einen solchen Investor geht.
74Ebenfalls unter Berücksichtigung dieses Beurteilungsspielraums ist die Einschätzung eines Mitgliedstaats legitim, wonach die Gefahr besteht, dass sich bei der Beteiligung eines reinen Finanzinvestors am Kapital einer Rechtsanwaltsgesellschaft in Anbetracht des Einflusses - sei er auch mittelbar -, den dieser Investor auf die Geschäftsführung und die Tätigkeiten der Gesellschaft durch im Wesentlichen oder sogar ausschließlich an der Gewinnerzielung ausgerichtete Entscheidungen über Investitionen oder Nicht- bzw. Desinvestitionen ausüben könnte, die Maßnahmen, die in nationalen Rechtsvorschriften oder in Satzungen von Rechtsanwaltsgesellschaften vorgesehen sind, um die berufliche Unabhängigkeit und Integrität der in einer Gesellschaft tätigen Rechtsanwälte zu wahren, in der Praxis als unzureichend erweisen, um die Erreichung der oben in den Rn. 64 bis 66 angeführten Ziele effektiv sicherzustellen.
75Was als Zweites die Kapitalverkehrsfreiheit betrifft, die durch Art. 63 AEUV verbürgt ist, so fallen unter diesen Artikel Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einer Gesellschaft durch Aktienbesitz, die die Möglichkeit verschafft, sich tatsächlich an der Verwaltung dieser Gesellschaft und deren Kontrolle zu beteiligen, sowie der Erwerb von Wertpapieren allein in der Absicht einer Geldanlage, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle der Gesellschaft Einfluss nehmen zu wollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Glaxo Wellcome, C-182/08, EU:C:2009:559, Rn. 40, und vom , AGET Iraklis, C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76Zu den Maßnahmen, die nach Art. 63 Abs. 1 AEUV als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verboten sind, gehören u. a. solche, die geeignet sind, gebietsfremde Gesellschaften von Investitionen in einem Mitgliedstaat abzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , SEGRO und Horváth, C-52/16 und C-113/16, EU:C:2018:157, Rn. 65). So sind nationale Maßnahmen als "Beschränkungen" im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV anzusehen, wenn sie geeignet sind, den Erwerb von Aktien gebietsansässiger Gesellschaften zu verhindern oder zu beschränken oder aber Investoren aus anderen Mitgliedstaaten davon abzuhalten, in das Kapital dieser Gesellschaften zu investieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Idryma Typou, C-81/09, EU:C:2010:622, Rn. 55).
77Im vorliegenden Fall bewirkt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, dass andere Personen als Rechtsanwälte und Angehörige der in § 59a BRAO a. F. genannten Berufe am Erwerb von Geschäftsanteilen an einer Rechtsanwaltsgesellschaft gehindert sind, so dass sie Investoren aus anderen Mitgliedstaaten, die weder Rechtsanwälte noch Angehörige eines solchen Berufs sind, den Erwerb von Beteiligungen an dieser Art von Gesellschaften verwehrt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kommission/Italien, C-531/06, EU:C:2009:315, Rn. 47). Damit einhergehend verwehrt diese nationale Regelung den Rechtsanwaltsgesellschaften den Zugang zu Kapital, das bei ihrer Gründung oder Entwicklung förderlich sein könnte. Folglich liegt in ihr eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs.
78Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs, die ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar sind, können jedoch durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sofern sie geeignet sind, die Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kommission/Italien, C-531/06, EU:C:2009:315, Rn. 49).
79Insoweit führt die Würdigung, die oben in den Rn. 64 bis 74 zu Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 erfolgt ist, im Hinblick auf Art. 63 AEUV zu keinem anderen Ergebnis.
80Demnach ist auf die erste, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 sowie Art. 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der es unzulässig ist, dass Geschäftsanteile an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf einen reinen Finanzinvestor übertragen werden, der nicht die Absicht hat, in der Gesellschaft eine in dieser Regelung bezeichnete berufliche Tätigkeit auszuüben, und die bei Zuwiderhandlung den Widerruf der Zulassung der betreffenden Rechtsanwaltsgesellschaft zur Rechtsanwaltschaft vorsieht.
Zur zweiten Frage
81Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, nach der einem Gesellschafter, der zur Ausübung eines Berufs, der es erlaubt, Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu werden, nicht berechtigt ist, kein Stimmrecht zusteht, in einem Fall entgegensteht, in dem die Satzung dieser Gesellschaft verschiedene Bestimmungen enthält, die geeignet sind, die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und der anwaltlichen Tätigkeit der Gesellschaft zu schützen.
82In Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs hat die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Versagung des Stimmrechts gegenüber zur Ausübung eines Berufs im Sinne des § 59e Abs. 1 Satz 1 BRAO a. F. nicht berechtigten Gesellschaftern, auf die das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage konkret abstellt, in Übergangssituationen Anwendung finden solle, die sich u. a. durch den Tod eines berechtigten Gesellschafters oder dadurch ergäben, dass einem berechtigten Gesellschafter das Recht zur Berufsausübung entzogen werde.
83Da der Ausgangsrechtsstreit nicht entsprechend gelagert ist, ist die Beantwortung dieser Frage für seine Entscheidung nicht objektiv erforderlich und geht über den Rahmen des dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zugewiesenen Rechtsprechungsauftrags hinaus (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 18, und vom , Miasto Lowicz und Prokurator Generalny, C-558/18 und C-563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44).
84Die zweite Frage ist daher unzulässig.
Kosten
85Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 15 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt und Art. 63 AEUV
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der es unzulässig ist, dass Geschäftsanteile an einer Rechtsanwaltsgesellschaft auf einen reinen Finanzinvestor übertragen werden, der nicht die Absicht hat, in der Gesellschaft eine in dieser Regelung bezeichnete berufliche Tätigkeit auszuüben, und die bei Zuwiderhandlung den Widerruf der Zulassung der betreffenden Rechtsanwaltsgesellschaft zur Rechtsanwaltschaft vorsieht.
Fundstelle(n):
LAAAJ-87058