Nichtannahmebeschluss: Parallelentscheidung
Gründe
I.
1Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen § 130b Abs. 3a Satz 9 und Abs. 4 Satz 3 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz - ALBVVG) vom (BGBl I Nr. 197).
21. Gemäß § 130b Abs. 3a Satz 2 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz - GKV-FinStG) vom (BGBl I S. 1990) gilt der nach § 130b Abs. 1 SGB V zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem pharmazeutischen Unternehmer für ein Arzneimittel vereinbarte Erstattungsbetrag ab dem siebten Monat nach dem erstmaligen Inverkehrbringen des Arzneimittels mit dem Wirkstoff. § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V bestimmte in der bis zum geltenden Fassung, dass die Differenz zwischen Erstattungsbetrag und dem bis zu dessen Vereinbarung tatsächlich gezahlten Abgabepreis auszugleichen ist.
3In dem Fall, dass der Inhalt einer Erstattungsbetragsvereinbarung gemäß § 130b Abs. 4 Satz 1 SGB V durch die Schiedsstelle festgesetzt wird, gilt der festgelegte Erstattungsbetrag ebenfalls ab dem siebten Monat nach dem erstmaligen Inverkehrbringen des Arzneimittels mit dem Wirkstoff mit der Maßgabe, dass die Differenz zwischen dem von der Schiedsstelle festgelegten Erstattungsbetrag und dem tatsächlich gezahlten Abgabepreis bei der Festsetzung entsprechend Absatz 3a Satz 9 auszugleichen ist (§ 130b Abs. 4 Satz 3 SGB V i.d.F des GKV-FinStG).
42. Durch Art. 2 Nr. 7 Buchst. a) des ALBVVG wurde § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V mit Wirkung zum um die Formulierung "einschließlich der zu viel entrichteten Zuschläge nach der Arzneimittelpreisverordnung und der zu viel entrichteten Umsatzsteuer" ergänzt. Entsprechend wurde mit Art. 2 Nr. 7 Buchst. c) des ALBVVG auch § 130b Abs. 4 Satz 3 SGB V geändert.
53. Die Beschwerdeführerin, ein pharmazeutisches Unternehmen, rügt eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG durch die Verpflichtung zum Ausgleich der zu viel entrichteten Zuschläge nach der Arzneimittelpreisverordnung.
II.
6Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unzulässig.
71. Die am beim Bundesverfassungsgericht eingegangene Verfassungsbeschwerde ist allerdings gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG fristgemäß binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des ALBVVG am erhoben worden.
8Zwar wird in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages zum ALBVVG (BTDrucks 20/7397, S. 60 f.) ausgeführt, dass es sich bei der Änderung des § 130b Abs. 3a Satz 9 und des Abs. 4 Satz 3 SGB V um eine "Klarstellung" handele, dies kann indes nicht dazu führen, dass die Jahresfrist für die Verfassungsbeschwerde nicht mit Inkrafttreten der Gesetzesänderungen neu zu laufen begonnen hat. Jedenfalls in Fällen, in denen der Gesetzgeber einer Vorschrift einen neuen Wortlaut gegeben hat und es sich nicht lediglich um redaktionelle Änderungen handelt, sondern der Anwendungsbereich der Vorschrift eindeutiger bestimmt wird (vgl. BVerfGE 11, 351 <359>: dort handelte es sich ebenfalls um eine "Klarstellung", weil beim bisherigen Wortlaut Zweifel aufgekommen waren), beginnt die Jahresfrist mit Inkrafttreten der Gesetzesänderung neu zu laufen.
92. Der in Art. 93 Abs. 5 Satz 2 GG angelegte Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) ist nicht gewahrt.
10a) Vor der Erhebung von Rechtssatzverfassungsbeschwerden sind nach dem Grundsatz der Subsidiarität grundsätzlich alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können (vgl. BVerfGE 150, 309 <326 Rn. 41>; 156, 11 <34 Rn. 60>; 158, 170 <199 Rn. 68).
11Zwar steht unmittelbar gegen Gesetze der fachgerichtliche Rechtsweg in der Regel nicht offen. Die Anforderungen der Subsidiarität beschränken sich jedoch nicht darauf, nur die zur Erreichung des unmittelbaren Prozessziels förmlich eröffneten Rechtsmittel zu ergreifen, sondern verlangen, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 150, 309 <326 Rn. 42 f.>; 158, 170 <199 Rn. 69>). Damit soll erreicht werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen treffen muss, sondern zunächst die für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte die Sach- und Rechtslage vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aufgearbeitet haben (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>; 123, 148 <172>; 143, 246 <321 Rn. 209>; 158, 170 <199 Rn. 68>; stRspr).
12Die Pflicht zur Nutzung aller prozessualen Möglichkeiten besteht auch dann, wenn die Vorschriften abschließend gefasst sind und die fachgerichtliche Prüfung günstigstenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird. Ausschlaggebend ist auch dann, ob die fachgerichtliche Klärung erforderlich ist, um zu vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft. Ein solcher Fall wird in der Regel dann gegeben sein, wenn die angegriffenen Vorschriften auslegungsbedürftige und -fähige Rechtsbegriffe enthalten, von deren Auslegung und Anwendung es maßgeblich abhängt, inwieweit Beschwerdeführer durch die angegriffenen Vorschriften tatsächlich und rechtlich beschwert sind (vgl. BVerfGE 158, 170 <199 f. Rn. 70> m.w.N.).
13b) Gemessen daran ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Sie wendet sich gegen Regelungen, deren Auslegung und Anwendung fachgerichtlich bislang nicht geklärt ist, obwohl die Beurteilung, inwieweit die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Vorschriften beschwert ist, von einer solchen Klärung abhängen kann. Die Verfassungsbeschwerde wirft insbesondere nicht allein verfassungsrechtliche Fragen auf, die ohne die Aufbereitung der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen zu beantworten wären. Es stellen sich Fragen des einfachen Rechts, deren Beantwortung zuvörderst den Fachgerichten obliegt.
14Für den Umfang der Beschwer ist insbesondere ausschlaggebend, ob Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche der pharmazeutischen Unternehmer gegenüber den Apotheken und dem pharmazeutischen Großhandel im Hinblick auf die Zuschläge nach der Arzneimittelpreisverordnung bestehen. Hierfür bedarf es einer fachgerichtlichen Klärung, um zu verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft. Denn es ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass solche Ansprüche in Betracht kommen. Solche können sich aus speziellen Normierungen oder aus allgemeinen Regeln ergeben. Zwar ist zutreffend, dass § 130b SGB V selbst keinen speziellen Rückgriffs- oder Ausgleichsanspruch vorsieht und auch in der Begründung des Gesetzentwurfes kein solcher Anspruch genannt wird. Dies schließt aber nicht aus, dass sich solche Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche möglicherweise aus allgemeinen öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Rechtsgrundlagen, wie beispielsweise den Regelungen zum Gesamtschuldnerausgleich oder dem Bereicherungsrecht, ergeben. Es ist nicht ersichtlich, dass der Rückgriff auf allgemeine Ausgleichsinstitute verfassungsrechtlich ausgeschlossen wäre.
15Von deren Bestehen kann die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm abhängen. Denn an der Vereinbarkeit der angegriffenen Regelung mit Art. 12 Abs. 1 GG bestehen jedenfalls dann erhebliche Zweifel, wenn die pharmazeutischen Unternehmer nach § 130b Abs. 3a Satz 9 SGB V Zahlungen erstatten müssten, die ihnen nie zugeflossen sind, ohne ihrerseits Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche zu haben. Gegenstand der fachgerichtlichen Prüfung wird daher auch sein, ob bei der Auslegung der einfachrechtlichen Vorschriften über zivil- oder öffentlich-rechtliche Ansprüche der pharmazeutischen Unternehmer gegenüber Apotheken beziehungsweise pharmazeutischen Großhändlern diesem Umstand methodengerecht Rechnung getragen werden kann. Dabei wird sich gegebenenfalls auch ergeben, wie groß der Durchsetzungsaufwand und wie hoch ein eventuelles Abwicklungsrisiko wäre.
16Die Voraussetzungen, unter denen nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ausnahmsweise vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfGE 77, 381 <401 f.>; 78, 290 <301 f.>; 79, 275 <278 f.>; 104, 65 <70 f.>), liegen nicht vor. Ein schwerer und unabwendbarer Nachteil könnte zwar unter Umständen dann vorliegen, wenn auch bei der Annahme des Bestehens eines Rückgriffs- oder Ausgleichsanspruchs aufgrund der dann immer noch vorliegenden Belastungen, insbesondere wegen der Abwälzung des Verwaltungsaufwands sowie des Abwicklungs- und Insolvenzrisikos, offensichtlich ein Verfassungsverstoß gegeben wäre. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Heranziehung von Leistungserbringern zur Erfüllung administrativer Pflichten bei der Umsetzung von Kostendämpfungsmaßnahmen im System der gesetzlichen Krankenversicherung liegt eine solche Offenkundigkeit indes nicht vor (vgl. BVerfGE 114, 196 <246> m.w.N.).
17Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
18Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250131.1bvr174424
Fundstelle(n):
UAAAJ-86673