Fahrtkosten eines (nicht erwerbstätigen) Teilzeitstudierenden zwischen seiner Wohnung und seinem Studienort
Leitsatz
Ein Vollzeitstudium im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 des Einkommensteuergesetzes liegt nur vor, wenn das Studium nach der Studienordnung darauf ausgelegt ist, dass sich die Studierenden diesem —vergleichbar einem vollbeschäftigten Arbeitnehmer— zeitlich vollumfänglich widmen müssen.
Gesetze: EStG § 9 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a, Abs. 4 Satz 8;
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute. Während des Streitjahres (2017) übte der Kläger keine Erwerbstätigkeit aus. Nachdem er bereits im Jahr 2008 ein Studium an der Fernuniversität in Hagen erfolgreich abgeschlossen hatte, belegte der Kläger dort ab dem Wintersemester 2016/2017 einen weiteren Studiengang. Ausweislich der Studienbescheinigungen war er während des Streitjahres als „Teilzeitstudent“ eingeschrieben. In einem Beschäftigungsverhältnis stand der Kläger daneben nicht.
2 Die Fernuniversität differenziert auf ihrer Website wie folgt zwischen Vollzeit- und Teilzeitstudierenden:
„Vollzeitstudierende haben eine entsprechende Hochschulzugangsberechtigung und studieren den geplanten Studiengang in einem zeitlichen Umfang von etwa 40 Stunden wöchentlich. Dieser Status entspricht dem Status eines Studierenden an einer Präsenzhochschule und ist Voraussetzung für die Förderung durch BAföG.
...
Teilzeitstudierende sind ebenfalls Studierende eines Studiengangs ..., studieren aber überwiegend berufsbegleitend in einem zeitlichen Umfang von etwa 20 Stunden wöchentlich ...“
3 In ihrer Steuererklärung für das Streitjahr machten die Kläger bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Aufwendungen für 29 Hin- und Rückfahrten zwischen ihrer Wohnung und der Fernuniversität in Hagen in Höhe von 4.819,80 € als Werbungskosten geltend. Die Berechnung der Fahrtkosten hatten sie nach Reisekostengrundsätzen, mithin mit 0,30 € je gefahrenem Kilometer, durchgeführt.
4 Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) berücksichtigte die Fahrtkosten im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nur unter Anwendung der Entfernungspauschale gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 2.410 €, da ein Studium, das —wie im Streitfall— außerhalb eines Arbeitsverhältnisses erfolge, ein Vollzeitstudium sei und die Universität deshalb als erste Tätigkeitsstätte im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG gelte.
5 Der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt.
6 Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
7 Es beantragt,
das angefochtene Urteil des aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8 Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Gründe
II.
9 Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Kläger die Aufwendungen für seine Fahrten zwischen der Wohnung und der Fernuniversität in Hagen nicht nur in Höhe der Entfernungspauschale, sondern nach Reisekostengrundsätzen als Werbungskosten geltend machen kann.
10 1. Werbungskosten, nämlich Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen im Sinne des § 9 Abs. 1 Sat1 EStG liegen vor, wenn sie durch den Beruf oder durch die Erzielung steuerpflichtiger Einnahmen veranlasst sind. Sie sind nach ständiger Rechtsprechung beruflich veranlasst, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden (z.B. Senatsurteil vom - VI R 22/14, BFHE 251, 344, BStBl II 2016, 179, Rz 10). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Steuerpflichtige gegenwärtig noch keine Einnahmen erzielt. Dann sind die Aufwendungen als vorab entstandene Werbungskosten abziehbar, wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stehen (z.B. , BFHE 258, 365, BStBl II 2017, 1073, Rz 26 und vom - VI R 3/18, BFHE 269, 486, BStBl II 2021, 302, Rz 19).
11 a) Aufwendungen des Steuerpflichtigen für eine zweite Ausbildung (Berufsausbildung oder Studium) sind regelmäßig beruflich veranlasst (ständige Rechtsprechung, z.B. , BFHE 235, 444, BStBl II 2012, 825 und vom - VI R 78/10, BFHE 239, 80, BStBl II 2013, 284). Dementsprechend hat der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung in Bezug auf vorab entstandene Werbungskosten bei Berufsausbildungskosten entschieden, dass der notwendige Veranlassungszusammenhang (nur) fehlt, wenn „gleichsam ins Blaue hinein“ studiert wird (, BFHE 180, 360, BStBl II 1996, 452 und vom - VI R 26/05, BFHE 214, 370, BStBl II 2006, 764) oder ansonsten private Gründe nicht ausgeschlossen werden können (Senatsurteil vom - VI R 71/03, BFHE 208, 572, BStBl II 2005, 349). Dass die Aufwendungen zumindest für die eigene Zweitausbildung regelmäßig nicht auf unbeachtlichen privaten Motiven gründen, nimmt auch § 9 Abs. 6 EStG zum Ausgangspunkt (Senatsurteil vom - VI R 3/18, BFHE 269, 486, BStBl II 2021, 302, Rz 20).
12 Demgemäß sind sämtliche beruflich veranlassten Aufwendungen, die im Rahmen einer Zweitausbildung (Berufsausbildung oder Studium) anfallen, als (vorab entstandene) Werbungskosten abziehbar. Hierzu gehören nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a EStG auch die Fahrtkosten zur Ausbildungsstätte. Diese sind jedoch nach § 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 2 EStG bei vollzeitigen Bildungsmaßnahmen/Vollzeitstudien auf den Ansatz der Entfernungspauschale begrenzt.
13 b) Nach diesen Grundsätzen sind die vom Kläger im Rahmen seines Zweitstudiums geltend gemachten Aufwendungen für 29 Hin- und Rückfahrten zwischen seiner Wohnung und der Fernuniversität dem Grunde nach beruflich veranlasste, vorab entstandene Werbungskosten. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.
14 2. a) Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 1 und 2 EStG können die Aufwendungen eines Arbeitnehmers für beruflich veranlasste Fahrten, die nicht Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte im Sinne des § 9 Abs. 4 EStG sowie keine Familienheimfahrten sind, nach Wahl des Steuerpflichtigen in tatsächlicher Höhe oder mit den pauschalen Kilometersätzen angesetzt werden, die für das jeweils benutzte Beförderungsmittel (Fahrzeug) als höchste Wegstreckenentschädigung nach dem Bundesreisekostengesetz (BRKG) festgesetzt sind. Für die Benutzung eines Personenkraftwagens liegt diese bei 0,30 € für jeden gefahrenen Kilometer (§ 5 Abs. 2 Satz 1 BRKG).
15 b) Aufwendungen für Fahrten zu einer Bildungseinrichtung, die der Steuerpflichtige außerhalb eines Dienstverhältnisses zum Zwecke eines Vollzeitstudiums oder einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme aufsucht, können dagegen nur mit der Entfernungspauschale berücksichtigt werden, weil die Bildungseinrichtung in diesem Fall gemäß § 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 1 EStG als erste Tätigkeitsstätte gilt und unter anderem die Regelungen für Arbeitnehmer nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG entsprechend anzuwenden sind (§ 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 2 EStG).
16 aa) Ein Vollzeitstudium liegt —im Gegensatz zu einem nur in Teilzeit durchgeführten Studium— vor, wenn das Studium nach der Studienordnung darauf ausgelegt ist, dass sich die Studierenden diesem —vergleichbar einem vollbeschäftigten Arbeitnehmer— zeitlich vollumfänglich widmen müssen (vgl. Senatsurteil vom - VI R 24/18, BFHE 269, 89, BStBl II 2020, 770, Rz 13). Davon ist auszugehen, wenn das Studium nach den Ausbildungsbestimmungen (hier Studienordnungen) oder der allgemeinen Erfahrung insgesamt etwa 40 Wochenstunden (Unterricht, Praktika sowie Vor- und Nachbereitung zusammengenommen) erfordert beziehungsweise im Durchschnitt pro Semester 30 ECTS-Leistungspunkte (Creditpoints) vergeben werden. Ist dies der Fall, kann grundsätzlich von einem Vollzeitstudium ausgegangen werden (vgl. Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Urteil vom - 14 LB 81/22, Rz 52 f., m.w.N., zu einer Ausbildung im Sinne des § 2 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, die die Arbeitskraft des Auszubildenden voll in Anspruch nimmt).
17 Ist das Studium nach der jeweiligen Studienordnung hingegen darauf ausgerichtet, dass die Studierenden für die Erbringung der vorgeschriebenen Studienleistungen nur einen Teil ihrer Arbeitszeit aufwenden müssen, liegt ein Teilzeitstudium vor.
18 bb) Ob die Studierenden daneben in einem Beschäftigungsverhältnis stehen oder anderweitig erwerbstätig sind, ist für die steuerrechtliche Einordnung eines Studiums als Teilzeitstudium unerheblich. Die gegenteilige Auffassung des FA, nach der ein Vollzeitstudium im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 Halbsatz 1 EStG insbesondere vorliege, wenn der Steuerpflichtige neben dem Teilzeitstudium keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, teilt der Senat nicht. Weder der Gesetzeswortlaut noch Sinn und Zweck der Regelung oder ihre Entstehungsgeschichte rechtfertigen es, Voll- und Teilzeitstudium nicht (allein) nach dem dafür in den Studienordnungen vorgesehenen Zeitaufwand zu unterscheiden, sondern zusätzlich darauf abzustellen, ob der Steuerpflichtige neben dem Studium weitere (Erwerbs-)Tätigkeiten ausübt.
19 Die „zeitunabhängige“ Einordnung eines Studiums durch das FA steht nicht im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch. Denn auch nach diesem werden Vollzeit- und Teilzeitstudium allein nach dem zeitlichen Umfang des Studiums voneinander unterschieden.
20 Die Wortlautauslegung wird auch durch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes sowie dessen Zweck gestützt. Zwar kann auch ein Teilzeitbeschäftigter eine erste Tätigkeitsstätte haben und könnte daher mit einem Teilzeitstudierenden nach Sinn und Zweck des Gesetzes gleich zu behandeln sein. Ein Teilzeitbeschäftigter unterliegt aber —anders als ein Teilzeitstudierender— dem Direktionsrecht seines Arbeitgebers. Im Übrigen gilt für ihn insbesondere § 9 Abs. 4 Satz 4 Nr. 2 EStG. Mit dem dort geregelten Abstellen des Gesetzgebers auf die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit bei fehlender Festlegung einer ersten Tätigkeitsstätte durch den Arbeitgeber wird deutlich, dass dieser auch Teilzeitbeschäftigungen im Blick hatte. Wenn der Gesetzgeber dann bei § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG ausdrücklich auf ein Vollzeitstudium/eine vollzeitige Bildungsmaßnahme abstellt, kann dies nicht zufällig erfolgt sein. Vielmehr ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber den Werbungskostenabzug für die Fahrtkosten nur im Fall eines Vollzeitstudiums/einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme auf die Entfernungspauschale begrenzen wollte. Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber diese Begrenzung im Wege einer Fiktion („gilt auch“) angeordnet hat und mithin auf den Fall des Vollzeitstudiums/der vollzeitigen Bildungsmaßnahme beschränken wollte.
21 Der Senat kann dahinstehen lassen, ob, wie das FA meint, Rz 34 des (BStBl I 2020, 1228) dahin auszulegen ist, dass ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme nicht vorliegt, wenn der Steuerpflichtige neben dem Studium oder der Bildungsmaßnahme für einen Beruf keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Denn hierbei handelt es sich um eine norminterpretierende Verwaltungsanweisung, an die weder das FG noch der Bundesfinanzhof (BFH) gebunden sind (vgl. , Rz 29, m.w.N.).
22 c) Nach diesen Maßstäben hat das FG zu Recht entschieden, dass die Fernuniversität in Hagen im Streitjahr nicht als erste Tätigkeitsstätte des Klägers im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG gilt und seine Fahrtkosten deshalb auch nicht auf die Entfernungspauschale begrenzt sind.
23 Der Kläger hat die Fahrten zur Fernuniversität in Hagen nicht zum Zwecke eines Vollzeitstudiums unternommen. Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) musste sich der Kläger dem Studium nicht zeitlich vollumfänglich widmen. Er war lediglich als Teilzeitstudierender eingeschrieben und studierte nach seinem Hörerstatus in einem zeitlichen Umfang von etwa 20 Stunden wöchentlich. Die Tatsache, dass er im Streitjahr keiner Erwerbstätigkeit nachging, ist —wie oben ausgeführt— im Hinblick auf den Begriff des Vollzeitstudiums unerheblich.
24 Die Anzahl der vom Kläger durchgeführten Fahrten ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
25 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:U.241024.VIR7.22.0
Fundstelle(n):
YAAAJ-84038