BSG Urteil v. - B 4 AS 4/23 R

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Sonderregelungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie - Angemessenheitsfiktion - Umzug

Gesetze: § 22 Abs 1 S 1 SGB 2, § 22 Abs 4 S 1 SGB 2, § 41 SGB 2, § 67 Abs 1 SGB 2, § 67 Abs 3 S 1 SGB 2, § 242 BGB

Instanzenzug: SG Freiburg (Breisgau) Az: S 22 AS 886/21 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 13 AS 3802/21 Urteil

Tatbestand

1Die Kläger begehren die Gewährung höherer Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) nach dem SGB II für Februar bis Juli 2021.

2Die miteinander verheirateten Kläger zu 1 und 2 bezogen vom zunächst örtlich zuständigen Jobcenter seit dem Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Zum zogen die Kläger zu 1 und 2 nach B (Landkreis L) und damit in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Für ihre neue Wohnung beträgt die von ihnen zu entrichtende Miete insgesamt 1000 Euro. Der Beklagte erteilte keine Zusicherung zur Übernahme dieser Kosten. Er bewilligte den Klägern zu 1 und 2 Leistungen für die Zeit vom 1.2. bis und berücksichtigte dabei nur die seiner Ansicht nach angemessenen monatlichen KdU iHv insgesamt 598,06 Euro (Bescheid vom ). Den hiergegen von den Klägern zu 1 und 2 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom ). Hiergegen haben sich die Kläger zu 1 und 2 zunächst klageweise und im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gewandt.

3Das SG hat den Beklagten durch eine einstweilige Anordnung verpflichtet, den Klägern zu 1 und 2 für die Zeit vom 1.4. bis - längstens bis zur Bestandskraft des Bescheids vom - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung vorläufig zu gewähren (Beschluss vom - S 22 AS 1018/21 ER). Daraufhin hat der Beklagte den Klägern zu 1 und 2 ausdrücklich nur in Ausführung des Beschlusses vom für April bis Juli 2021 Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung von KdU iHv 960 Euro (ohne Stellplatzkosten) monatlich bewilligt (Änderungsbescheid vom ). Auf die Beschwerde des Beklagten hat das LSG zunächst die Vollstreckung aus dem Beschluss des SG ausgesetzt (Beschluss vom - L 13 AS 1326/21 ER-B). Daraufhin hat der Beklagte für Juni und Juli 2021 Leistungen für KdU iHv insgesamt 777,96 Euro bewilligt (Änderungsbescheid vom ). Sodann hat das LSG den aufgehoben und die Anträge der Kläger auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt (Beschluss vom ).

4Am gebar die Klägerin zu 2 den Kläger zu 3. Daraufhin bewilligte der Beklagte nun allen drei Klägern Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1.2. - dem Kläger zu 3 ab dessen Geburt - bis zum unter unveränderter Berücksichtigung der KdU iHv 777,96 Euro (Bescheid vom ). Den Widerspruch des Klägers zu 3 wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom ). Hiergegen hat der Kläger zu 3 Klage erhoben.

5Auf die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Klagen der Kläger zu 1 und 2 einerseits und des Klägers zu 3 andererseits () hat das SG den Bescheid vom idF der Änderungsbescheide vom "" (richtig: ), und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom geändert und den Beklagten verurteilt, den Klägern Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Berücksichtigung von KdU iHv monatlich 1000 Euro zu bewilligen (Urteil vom ). Die Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 1 SGB II sei durch § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II vorübergehend ausgesetzt worden. Dem stehe nicht entgegen, dass die Kläger erst kürzlich umgezogen seien und über keine Zusicherung nach § 22 Abs 4 SGB II verfügten.

6Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, den Klägern KdU über die Beträge von jeweils 652,65 Euro in den Monaten Februar bis April 2021, 738,94 Euro im Mai 2021 und jeweils 781,71 Euro in den Monaten Juni und Juli 2021 (hinaus) zu gewähren, und im Übrigen die Berufung zurückgewiesen und die Klage(n) abgewiesen (Urteil vom ). Im vorliegenden Fall könne eine Übernahme der KdU für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht auf § 67 Abs 1 und 3 SGB II gestützt werden. Mit § 67 SGB II hätten nur die explizit genannten Vorschriften modifiziert bzw vorübergehend außer Kraft gesetzt werden sollen. § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II verweise ausschließlich auf § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II und nicht auf § 22 Abs 4 SGB II. Diese allgemeine Regelung zur Kostenregulierung für Neuanmietungen im Leistungsbezug sei damit nicht coronabedingt suspendiert gewesen. Sowohl aus der Systematik des § 67 Abs 3 SGB II als auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung folge, dass diese Vorschrift Neuanmietungen nicht erfassen sollte.

7Die Kläger rügen mit ihren Revisionen eine Verletzung des § 22 Abs 1 iVm § 67 Abs 3 SGB II.

8Die Kläger beantragen bei sachgerechter Fassung schriftsätzlich,das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom zurückzuweisen.

9Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,die Revisionen zurückzuweisen.

10Er verweist auf die Entscheidung des LSG.

11Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Gründe

12Die Revisionen der Kläger, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 124 Abs 2 SGG), sind begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat das Urteil des SG zu Unrecht teilweise aufgehoben und die Klagen insoweit abgewiesen. Das SG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, die KdU in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen, wobei der Senat klarstellend dem Individualcharakter der Ansprüche im Tenor Rechnung getragen hat.

131. Gegenstand der Revisionsverfahren der Kläger zu 1 und zu 2 ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG) und idF der Bescheide vom und (§ 96 Abs 1 SGG); der Bescheid vom ist hingegen nicht nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden, weil er lediglich zur Umsetzung der einstweiligen Anordnung des SG erlassen worden ist und ihm daher die Regelungswirkung (§ 31 Satz 1 SGB X) fehlt (vgl - RdNr 14 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Es ist unerheblich, dass der Bescheid vom den Hinweis enthielt, er werde nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens. Ein solcher Hinweis ist nicht konstitutiver Natur. Dass das SG auch den Bescheid vom "" (gemeint: ) abgeändert hat, ist aber unschädlich und daher nicht zu korrigieren. Der Bescheid vom hat die vorangegangenen Bescheide nicht vollständig ersetzt, sondern nur für Mai bis Juli 2021, weil er nur insoweit Regelungswirkung hatte; für Februar bis April 2021 ließ er die früheren Bewilligungen unverändert, sodass es sich insofern nur um wiederholende Verfügungen handelte (vgl - SozR 4-4200 § 22 Nr 107 RdNr 16 mwN). Gegenstand des Revisionsverfahrens des Klägers zu 3 ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG).

14Der Streitgegenstand währt in zeitlicher Hinsicht vom 1.2. bis zum und ist in sachlicher Hinsicht auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung beschränkt.

152. Die Revisionen der Kläger sind begründet.

16a) Die Klagen sind zulässig. Dem Rechtsschutzbedürfnis der Kläger zu 1 und 2 steht nicht entgegen, dass sie aufgrund der einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs 2 Satz 1 SGG) des höhere Leistungen des Beklagten für die Zeit vom 1.4. bis teilweise erhalten haben. Denn die Wirkung dieser einstweiligen Anordnung ist entfallen, nachdem das LSG im Beschwerdeverfahren den aufgehoben hat. Seitdem sind die Kläger zu 1 und 2 ipso iure zur Rückzahlung der erbrachten Leistungen verpflichtet (vgl - RdNr 17 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; - RdNr 18 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).

17Richtige Klageart ist in der vorliegenden Konstellation die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Unabhängig davon, dass die Kläger zu 1 und 2 aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG bereits teilweise Leistungen erhalten haben, die sie aufgrund der Aufhebung des Beschlusses des SG durch das LSG im Beschwerdeverfahren aber erstatten müssen, muss den Klägern insgesamt die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage jedenfalls hier offenstehen, weil die aufgrund der einstweiligen Anordnungen erfolgten Zahlungen nicht den gesamten in der Hauptsache streitbefangenen Zeitraum betreffen (vgl - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 14; - RdNr 19 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Der Beklagte ist durch eine Verurteilung nicht mit dem Einwand der (teilweisen) Erfüllung ausgeschlossen (vgl - RdNr 30 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; - RdNr 19 mwN - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen); dies hat der Senat im Tenor klarstellend berücksichtigt.

18b) Die Klagen sind auch begründet. Die Kläger haben gegen den Beklagten Anspruch auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung im streitbefangenen Zeitraum. Die Kläger erfüllten nach den Feststellungen des LSG die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, ohne einem Leistungsausschluss zu unterliegen. Die Ansprüche der Kläger sind hinsichtlich der KdU aufgrund des § 22 Abs 4 SGB II auf die angemessenen Kosten beschränkt (dazu aa), wobei jedoch § 67 Abs 3 SGB II die tatsächlichen Kosten als angemessen fingiert (dazu bb). Klarstellend war der Tenor des Urteils des SG zu korrigieren (dazu cc).

19aa) Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen. Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen und der leistungsberechtigten Person den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang der Aufwendungen mitteilen ( - SozR 4-4200 § 22 Nr 109 RdNr 15; - SozR 4-4200 § 22 Nr 119 RdNr 17).

20Dies gilt jedoch nicht im - hier aufgrund des Umzugs der Kläger zu 1 und 2 jedenfalls insofern eröffneten - Anwendungsbereich des § 22 Abs 4 Satz 1 SGB II. Nach dieser Regelung (in der seit dem geltenden Fassung) soll vor Abschluss eines Vertrags über die neue Unterkunft die leistungsberechtigte Person die Zusicherung des für die neue Unterkunft örtlich zuständigen kommunalen Trägers zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. Die Zusicherung darf nur erteilt werden, wenn die Unterkunftskosten der neuen Unterkunft angemessen sind (§ 22 Abs 4 Satz 2 SGB II in der vom bis geltenden Fassung; vgl - SozR 4-4200 § 22 Nr 57 RdNr 14; Luik in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 22 RdNr 239). Da der Leistungsberechtigte bei fehlender Zusicherung nicht bessergestellt werden kann als bei Vorliegen einer an diesem Maßstab ausgerichteten (rechtmäßigen) Zusicherung, besteht auch bei - wie hier - fehlender Zusicherung ein Anspruch nur auf Berücksichtigung der angemessenen Kosten (im Ergebnis ebenso ER - juris RdNr 20; Berlit in Münder/Geiger/Lenze, SGB II, 8. Aufl 2023, § 22 RdNr 226, 228; Breitkreuz in BeckOK Sozialrecht, § 22 SGB II RdNr 23, Stand ; Busse in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 3. Aufl 2023, § 22 SGB II RdNr 55; Lauterbach in BeckOGK, § 22 SGB II RdNr 104, Stand ; Luik in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 22 RdNr 231; Piepenstock in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 22 RdNr 211; Šušnjar in Hohm, SGB II, § 22 RdNr 271, Stand März 2023; Wieland in Estelmann, SGB II, § 22 RdNr 238, Stand April 2022; zu § 22 Abs 4 SGB II in der seit dem geltenden Fassung S. Knickrehm in Knickrehm/Roßbach/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 8. Aufl 2023, § 22 SGB II RdNr 34a), wobei es auf die Angemessenheit am Zuzugsort ankommt (Berlit in Münder/Geiger/Lenze, SGB II, 8. Aufl 2023, § 22 RdNr 236; Piepenstock in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 22 RdNr 217).

21bb) Als angemessen gelten jedoch im vorliegenden Fall aufgrund des § 67 Abs 1 und 3 SGB II die tatsächlichen Kosten.

22Nach § 67 Abs 1 SGB II in der vom bis geltenden Fassung werden Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom bis zum beginnen, nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 erbracht. Nach § 67 Abs 1 SGB II in der vom bis zum geltenden Fassung gilt dies für die Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom bis beginnen, und nach § 67 Abs 1 SGB II in der seit dem geltenden Fassung für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom bis zum beginnen. Nach § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II in der seit dem geltenden Fassung ist § 22 Abs 1 SGB II mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Der Gesetzgeber hat unter anderem hiermit auf die Ausbreitung des Covid-19 in Deutschland reagiert, um die deswegen drohenden ökonomischen und sozialen Folgen abzumildern (vgl die Begründung des Gesetzentwurfs vom , BT-Drucks 19/18107, S 1 f).

23 (1) § 67 Abs 1 SGB II ist vor diesem Hintergrund in jedem Fall in zeitlicher Hinsicht insofern anwendbar, als der streitbefangene Bewilligungszeitraum am und damit innerhalb des von § 67 Abs 1 SGB II alter und neuer Fassung ausdrücklich umschriebenen Zeitraums begonnen hat.

24 (2) Auch steht der Anwendung des § 67 Abs 1 und 3 SGB II nicht entgegen, dass die Kläger bereits vor dem Leistungen nach dem SGB II bezogen haben, denn § 67 Abs 1 und 3 SGB II erfasst nicht nur erstmalige Bewilligungen, sondern auch Weiterbewilligungszeiträume (so auch Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 5. Aufl 2020, § 67 RdNr 28, 1. Überarbeitung; Harich in BeckOK, § 67 SGB II RdNr 1, Stand ; Karl in Estelmann, SGB II, § 67 RdNr 21, Stand November 2021; Köhler in Hauck/Noftz, SGB II, § 67 RdNr 26, Stand Juli 2020; T. Lange in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 67 RdNr 2a). Soweit sich der Begründung des Gesetzentwurfs entnehmen lässt, dass der Gesetzgeber Personen im Blick hatte, die durch die Auswirkungen insbesondere der im Laufe des März 2020 in Kraft getretenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Covid-19-Pandemie hilfebedürftig geworden sind und deshalb einen Leistungsantrag stellen (BT-Drucks 19/18107, S 25), hat sich dies im Normtext nicht andeutungsweise niedergeschlagen. Motive des Gesetzgebers müssen aber zumindest einen Anknüpfungspunkt im Gesetzestext haben - etwa in Form eines insofern der Auslegung zugänglichen Tatbestandmerkmals -, um für die Normauslegung Bedeutung zu erlangen (vgl - BGHZ 195, 257 [269, RdNr 30] mwN; - juris RdNr 66; - juris RdNr 24; Burkiczak, Rechtstheorie 52 [2021], 23 [32 f] mwN).

25 (3) Der Anwendung des § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II steht auch nicht entgegen, dass dessen Fiktionswirkung einmalig auf einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzt wäre (so auch SG Nordhausen vom - S 13 AS 1534/21 - juris RdNr 32 ff; Karl in Estelmann, SGB II, § 67 RdNr 47, Stand Mai 2021; vgl auch die - nach Inkrafttreten der Regelung geäußerte - Rechtsauffassung der Bundesregierung, BT-Drucks 20/2692, S 44; aA ER - juris RdNr 25; T. Lange in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 67 RdNr 14). Die sich aus § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II ergebende Rechtsfolge der Fiktion, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für sechs Monate als angemessen gelten, tritt in jedem Bewilligungszeitraum (§ 41 Abs 3 SGB II) erneut ein, der innerhalb des in § 67 Abs 1 SGB II genannten Zeitraums beginnt.

26Der Gesetzgeber wollte für die Dauer des "Pandemiezeitraums" die Leistungsberechtigten in qualifizierter Weise schützen. Der "Pandemiezeitraum" iS des SGB II wurde mehrfach sukzessive verlängert. Er ergibt sich aus § 67 Abs 1 SGB II und ergab sich zwischenzeitlich aus § 67 Abs 6 SGB II aF bzw § 67 Abs 5 SGB II aF iVm den auf dieser Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen (dazu Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 67 RdNr 14.1 ff, 1. Überarbeitung). Die aus der Pandemiesituation resultierenden, vom Gesetzgeber angenommenen Belastungen für die Leistungsberechtigten beschränkten sich danach nicht auf die ersten sechs Monate des ersten Bewilligungszeitraums nach Beginn der Pandemie. Es ist deshalb auch in der Folgezeit bei der sukzessiven Ausdehnung des Anwendungszeitraums der Vorschrift bei dem ursprünglichen Normzweck der Vorschrift geblieben, ein "vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie" - so die amtliche Überschrift der Norm - unter anderem auch für die KdU beizubehalten, ohne weitere Einschränkungen vorzusehen.

27Damit harmoniert die Regelung in § 67 Abs 2 SGB II zum Vermögensschutz der Leistungsberechtigten. Er sollte ebenfalls zunächst sechs Monate währen (Begründung des Gesetzentwurfs zum sog Sozialschutz-Paket vom , BT-Drucks 19/18107, S 25). Den Motiven des Gesetzgebers für die späteren Verlängerungen des Anwendungszeitraums in § 67 Abs 1 SGB II lässt sich jedoch entnehmen, dass er damit nicht lediglich neue Leistungsfälle für jeweils sechs Monate privilegieren, sondern die Zugangsvoraussetzungen auch für Bestandsfälle während des gesamten Zeitraums perpetuieren wollte, auch wenn er die Sechsmonatsbegrenzung in § 67 Abs 2 SGB II nicht ausdrücklich modifiziert hat. So wird in den Materialien ausgeführt, dass es um eine "Verlängerung des vereinfachten Zugangs zu den Grundsicherungssystemen" geht und sichergestellt werden soll, "dass diejenigen, die weiterhin unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie leiden, auch künftig möglichst einfach und schnell die nötige Unterstützung erhalten" (Begründung des Gesetzentwurfs zum Sozialschutz-Paket III vom , BT-Drucks 19/26542, S 2 - Hervorhebung hinzugefügt). An anderer Stelle heißt es, dass den Betroffenen "damit die Sorge vor einem Wegfall der oft noch immer nötigen Unterstützung genommen" wird (Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom , BT-Drucks 20/15, S 36). Abs 2 und 3 des § 67 SGB II können aber nicht unterschiedlich verstanden werden. Zur Vermeidung von - bei länger als sechs Monate dauernden Bewilligungszeiträumen eintretenden - Friktionen waren im Pandemiezeitraum beginnende Bewilligungszeiträume, bei denen die Bewilligung auf § 67 Abs 2 und/oder 3 SGB II beruhte, daher auf sechs Monate zu befristen (vgl Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 41 RdNr 49.1).

28 (4) Zwar beschränkt der Normwortlaut des § 67 Abs 3 SGB II seine Fiktionswirkung auf § 22 Abs 1 SGB II und erstreckt sie nicht auf § 22 Abs 4 SGB II. Dies führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis. Die Anspruchsbegrenzung auf die angemessenen Kosten hängt zwar nicht von einem sog Kostensenkungsverfahren ab. Die Begrenzung auf die angemessenen Kosten iS des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II aktiviert im hier streitbefangenen Zeitraum aber gerade die Fiktion des § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II; der Angemessenheitsbegriff in § 22 Abs 4 SGB II ist identisch mit demjenigen in § 22 Abs 1 SGB II.

29Soweit in Rechtsprechung und Literatur den entstehungsgeschichtlichen Materialien (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks 19/18107, S 25 zu § 67 SGB II, S 34 zum parallelen § 88a Abs 3 BVG) entnommen wird, dass der Gesetzgeber während der Corona-Pandemie nur die Bestandssicherung der bewohnten Wohnung intendiert habe (etwa LSG Niedersachsen-Bremen vom - L 9 AS 662/20 B ER - juris RdNr 32; Schifferdecker, NZS 2021, 274; vgl auch Gräf/Geiger in Münder/Geiger/Lenze, SGB II, 8. Aufl 2023, § 22 RdNr 33; S. Knickrehm in BeckOGK, § 67 SGB II RdNr 33, Stand ), hat sich ein solches Motiv im Normwortlaut des § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II nicht hinreichend niedergeschlagen. Der Gesetzgeber hat die Fiktionswirkung durch § 67 Abs 3 Satz 3 SGB II vielmehr nur für den Fall ausgeschlossen, dass im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt wurden. Der Senat verkennt nicht, dass damit Anreize für Leistungsberechtigte bestehen konnten, ihre Wohnsituation unter Ausnutzung der pandemiebedingten Sonderregelung zu verbessern, auch wenn dies im Einzelfall nicht durch die Pandemiesituation veranlasst war. Dies lässt sich angesichts der dies ermöglichenden gesetzlichen Regelungen allerdings nur nach Maßgabe des Rechtsmissbrauchsverbots verhindern (dazu noch unter (6)).

30 (5) Keine Bedeutung kommt entgegen der Auffassung der Revision dem Umstand zu, dass der Gesetzgeber § 67 Abs 3 SGB II nach dessen Inkrafttreten am trotz der unterschiedlichen Auslegungen der Norm durch die Rechtspraxis nicht geändert hat. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, auf eine in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage durch eine - sei es als klarstellende, sei es als konstitutiv zu wertende - Änderung des Normwortlauts zu reagieren. Dies gilt schon deswegen, weil er grundsätzlich nicht verpflichtet ist, die Rechtsanwendung zu beobachten (vgl zu hier nicht in Rede stehenden exzeptionellen Beobachtungspflichten des Gesetzgebers in Bezug nur auf tatsächliche Entwicklungen zur Sicherstellung verfassungsgemäßer Gesetze etwa , 2 BvF 2/15 - BVerfGE 150, 1 [90, RdNr 176] mwN; vgl auch Smeddinck in Kluth/Krings, Gesetzgebung, 2014, § 3 RdNr 36 ff mwN). Schweigt der Gesetzgeber zu einem Meinungsstreit in Rechtswissenschaft und -praxis, lassen sich daher daraus für die Auslegung einer unveränderten Norm - zumal gleichsam rückwirkend - keine Schlussfolgerungen ziehen. Selbst aus dem Schweigen des Gesetzgebers zu einer höchstrichterlichen Auslegung eines mehrdeutigen Normtextes ließe sich nicht auf eine legislatorische Übernahme der höchstrichterlichen Interpretation schließen, auch wenn andere Vorschriften desselben Gesetzes in der Zwischenzeit geändert worden sind( - BVerfGE 78, 20 [25]).Dies gilt erst Recht, wenn es - wie hier - an einer höchstrichterlichen Rechtsprechung mangelte. Etwas anderes würde - für die Zukunft - gelten, wenn der Gesetzgeber auf eine bestimmte Rechtsprechung reagiert hätte; daran fehlt es hier aber gerade.

31 (6) Sowohl bei Bestandsmietverhältnissen als auch bei neuen Mietverhältnissen nach einem Umzug ist die Begünstigung durch § 67 Abs 3 SGB II aber nicht schrankenlos. Es gelten für beide Fallgruppen die der Rechtsordnung innewohnenden allgemeinen Anspruchsbegrenzungen. Die Fiktionswirkung greift deshalb dann nicht, wenn ein Leistungsbezieher rechtsmissbräuchlich gehandelt hat. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der auch im öffentlichen Recht gilt ( - juris RdNr 17; B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 26 mwN), liegt Rechtsmissbrauch unter anderem vor, wenn jemand eine bloß formal bestehende Rechtsposition ohne schutzwürdiges Eigeninteresse ausnutzt ( - juris RdNr 17; - juris RdNr 18). Dies kann im vorliegenden Kontext etwa dann der Fall sein, wenn eine offensichtlich unangemessen teure Wohnung allein deswegen angemietet wurde, um die eigenen Wohnverhältnisse unter Ausnutzung der Corona-Sonderregelung des § 67 Abs 3 SGB II zu Lasten der Allgemeinheit zu verbessern (vgl etwa LSG Niedersachsen-Bremen vom - L 9 AS 662/20 B ER - juris). Dafür, dass es sich im vorliegenden Fall so verhält, ergeben sich aus den Feststellungen des LSG indes keine Anhaltspunkte.

32cc) SG und LSG haben in ihren Tenorierungen allerdings nicht berücksichtigt, dass es sich bei den Ansprüchen nach dem SGB II nicht um solche der Bedarfsgemeinschaft handelt, sondern um Individualansprüche (stRspr seit B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12 ff). Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind dabei zu gleichen Teilen auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu verteilen (stRspr seit B 11b AS 1/06 R - BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, RdNr 28; aus jüngerer Zeit etwa - SozR 4-4200 § 22 Nr 113 RdNr 13). Mangels Einkommens und Vermögens ergeben sich Ansprüche in Höhe des jeweils zu berücksichtigenden Bedarfs. Dem hat der Senat durch die Korrektur im Tenor Rechnung getragen. Rundungen bei den Berechnungen beruhen jeweils auf § 41 Abs 2 SGB II. Eine dem § 338 Abs 4 SGB III entsprechende Regelung, wonach bei einer Berechnung eine Multiplikation vor einer Division durchzuführen ist, enthält das SGB II nicht (vgl Löcken in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 41 RdNr 14).

33Der Bedarf für Unterkunft und Heizung iHv 1000 Euro monatlich ist für Februar bis April 2021 auf zwei Personen (also jeweils 500 Euro) und für Juni und Juli 2021 auf drei Personen (also jeweils 333,33 Euro) aufzuteilen.

34Für Mai 2021 ist aufgrund der Geburt des Klägers zu 3 am eine taggenaue Berechnung durchzuführen: Für die Zeit vom 1. bis ist der anteilige Bedarf (1000 Euro dividiert durch 31 Tage, multipliziert mit 16 Tagen = 516,13 Euro) je zur Hälfte auf die Kläger zu 1 und 2 zu verteilen (dies ergibt 258,06 Euro). Für die Zeit vom 17.5. bis ist der anteilige Bedarf (1000 Euro dividiert durch 31 Tage, multipliziert mit 15 Tagen = 483,87 Euro) je zu einem Drittel auf die Kläger zu 1 bis 3 zu verteilen (dies ergibt 161,29 Euro). Insgesamt ergeben sich damit für Mai 2021 Ansprüche der Kläger zu 1 und 2 iHv jeweils 419,35 Euro und ein Anspruch des Klägers zu 3 iHv 161,29 Euro.

35Die taggenaue Berechnung für Mai 2021 folgt aus § 41 Abs 1 Satz 1 und 3 SGB II, wonach (der) Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für jeden Kalendertag besteht und die Leistungen anteilig erbracht werden, wenn die Leistungen nicht für einen vollen Tag zustehen. Diese taganteilige Berechnung ist auch vorzunehmen, wenn zwar der Anspruch dem Grunde nach für den vollen Monat zusteht, er sich aber - wie hier aufgrund der Geburt des Klägers zu 3 und der kopfteiligen Berücksichtigung der KdU - der Höhe nach während des Monats verändert (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 41 RdNr 32; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, § 41 RdNr 127, Stand Februar 2021; Löcken in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl 2024, § 41 RdNr 15; in diesem Sinne auch AS 9/21 R - SozR 4-4200 § 41a Nr 5 RdNr 32). Dass damit insgesamt für Mai 2021 31 Tage berücksichtigt werden, steht nicht in Widerspruch zu § 41 Abs 1 Satz 2 SGB II, wonach der Monat mit 30 Tagen berechnet wird. Diese Norm greift mit Blick auf Bedarfe, die an tatsächliche Kosten anknüpfen (etwas anderes gilt für pauschalierte Bedarfe: - SozR 4-4200 § 7 Nr 35 RdNr 20), nur dann ein, wenn wegen gleichbleibender Verhältnisse innerhalb eines Monats keine differenzierte taggenaue anteilige Berechnung durchzuführen ist. Ansonsten würde eine Reduzierung des Gesamtanspruchs für den betroffenen Monat allein durch die Änderung des Bedarfs im laufenden Monat erfolgen. Dies wäre vom Zweck des § 41 Abs 1 Satz 2 SGB II, monatlich gleichbleibende Leistungen sicherzustellen und damit zum einen der Verwaltungsökonomie, zum anderen auch der Rechtssicherheit für die Leistungsbezieher und gegebenenfalls auch deren Gläubiger zu dienen (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks 15/1516, S 63), nicht gedeckt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:141223UB4AS423R0

Fundstelle(n):
WAAAJ-66194