BSG Urteil v. - B 4 AS 4/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche - Unionsbürger - Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger - Unterhaltsgewährung durch Eltern vor dem Zeitpunkt der Einreise - wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis - Sozialhilfe für Ausländer - Überbrückungsleistungen - sozialgerichtliches Verfahren - Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers - unzulässige Klage - Fehlen einer vorherigen Verwaltungsentscheidung - neuer Leistungsantrag - Zäsurwirkung - Zeitraum

Gesetze: § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2, § 2 FreizügG/EU 2004, § 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU 2004, § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 vom , § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 vom , § 23 Abs 3 S 3 SGB 12 vom , § 31 SGB 10, § 54 SGG, § 69 SGG, § 75 SGG, § 37 SGB 2

Instanzenzug: SG Darmstadt Az: S 21 AS 1018/16 Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 6 AS 1/20 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II bzw von Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII für den Zeitraum vom bis , insbesondere um das Bestehen eines Leistungsausschlusses für die Klägerin als Unionsbürgerin.

2Die 1993 geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Lettland. Sie erzielte dort nach ihren Angaben zuletzt als Verkäuferin einen Monatslohn iHv 360 Euro. Am reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und zog zunächst bei ihren Eltern, die bereits seit dem Jahr 2010 im Inland wohnen, ein.

3Am beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Leistungen mit der Begründung, sie habe ab dem eine eigene Wohnung angemietet, werde also aus dem Haushalt der Eltern ausziehen. Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ab; sie sei von Leistungen ausgeschlossen, da sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe (Bescheid vom ).

4Das SG verpflichtete den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung, der Klägerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens aber bis zum , zu gewähren (Beschluss vom - S 21 AS 411/16 ER). Hierauf zahlte der Beklagte ausdrücklich in Ausführung des Beschlusses vom der Klägerin vorläufig Grundsicherungsleistungen für den genannten Zeitraum (Bescheid vom ). Am stellte die Klägerin einen Weiterbewilligungsantrag bei dem Beklagten.

5Der Beklagte wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom zurück (Widerspruchsbescheid vom ). Es bestehe kein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige der Eltern, da durch die sehr geringen Überweisungen der Eltern nach Lettland dort kein Abhängigkeitsverhältnis bestanden habe. Dies setze der Tatbestand des § 3 Abs 2 Nr 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) aber gerade voraus. Auch mit dem Antrag vom hätten sich keine Änderungen derart ergeben, dass nunmehr Leistungen zu bewilligen wären.

6Das SG hat den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum vom bis zu gewähren (Urteil vom ). Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben, den im Berufungsverfahren beigeladenen örtlich zuständigen Sozialhilfeträger verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom bis Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe sowie für den Zeitraum vom bis Überbrückungsleistungen zu gewähren, und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom ).

7Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beigeladenen, mit der sie eine Verletzung des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF sowie des § 23 Abs 3 Satz 3 SGB XII nF rügt.

8Die Beigeladene beantragt,das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom aufzuheben, soweit sie zur Gewährung von Leistungen verurteilt worden ist.

9Der Beklagte beantragt,die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen und hilfsweise die Klage, soweit sie sich gegen den Beklagten richtet, abzuweisen.

10Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verweist im Übrigen auf die Entscheidung des LSG.

11Die Klägerin hat sich nicht geäußert und stellt keinen Antrag.

Gründe

12Die zulässige Revision der Beigeladenen ist teilweise begründet.

13Die Revision der Beigeladenen ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), soweit das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom bis verurteilt hat (dazu 3.). Die Revision der Beigeladenen ist hingegen insoweit begründet und das Urteil des LSG aufzuheben (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG), als das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom bis zum verurteilt hat; insofern ist die Klage mangels vorheriger Verwaltungsentscheidung unzulässig (dazu 4.). Im Revisionsverfahren nicht mehr streitbefangen ist der Zeitraum vom 29.1. bis . Insofern hat das LSG die Klage abgewiesen; diese Klageabweisung ist rechtskräftig geworden, weil die Klägerin keine Revision eingelegt hat.

141. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG). Der Bescheid vom ist hingegen schon deswegen nicht nach § 86 Halbsatz 1 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden, weil er lediglich zur Umsetzung der einstweiligen Anordnung des SG erlassen worden ist, ihm insoweit daher die Regelungswirkung (§ 31 Satz 1 SGB X) fehlt (vgl AS 79/20 R - BSGE 133, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 62, RdNr 10; AS 30/21 R - juris RdNr 13).

152. Die Revision der Beigeladenen ist zulässig. Die Beigeladene kann als Beteiligte des Verfahrens (§ 69 Nr 3 SGG) gemäß § 75 Abs 4, § 160 Abs 1 SGG selbständig Revision einlegen (vgl etwa - BSGE 129, 135 = SozR 4-2400 § 89 Nr 9, RdNr 12). Die Rechtsmittelbefugnis setzt dabei eine materielle Beschwer der Beigeladenen durch die angefochtene Entscheidung voraus (vgl - juris RdNr 7; - SozR 4-2500 § 5 Nr 27 RdNr 17 ff), die im Fall einer Verurteilung nach § 75 Abs 5 SGG stets gegeben ist. Als Beigeladene im Sinne des § 75 Abs 2 SGG (sog unechte notwendige Beiladung) kann sie auch abweichende Sachanträge stellen (§ 75 Abs 4 Satz 2 SGG).

163. Die Revision der Beigeladenen ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), soweit das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom 1.4. bis verurteilt hat.

17a) Die Klage ist hinsichtlich des Zeitraums vom 1.4. bis zulässig. Dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin für den gesamten Zeitraum steht nicht entgegen, dass der Beklagte ihr aufgrund der einstweiligen Anordnung des Leistungen für die Zeit vom bis erbracht hat. Denn die Wirkung dieser einstweiligen Anordnung und des sie umsetzenden Bescheids vom würde spätestens mit Bestandskraft des die Leistungsgewährung ablehnenden Bescheids vom entfallen (vgl AS 79/20 R - BSGE 133, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 62, RdNr 11; AS 30/21 R - juris RdNr 14). In diesem Fall wäre die Klägerin ipso iure zur Rückzahlung der erbrachten Leistungen verpflichtet (vgl - BSGE 131, 286 = SozR 4-1300 § 50 Nr 7, RdNr 28). Ob dies auch gelten würde, wenn und soweit ein Erstattungsanspruch des Beklagten gegenüber der Beigeladenen bestünde (vgl § 107 SGB X), kann hier dahinstehen. Denn allein die Möglichkeit, sich einer Rückzahlungsverpflichtung ausgesetzt zu sehen, reicht für die Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses aus (vgl auch - SozR 4-2500 § 44 Nr 1 RdNr 11 mwN; - juris RdNr 11).

18Richtige Klageart ist auch in der vorliegenden Konstellation die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Zwar hat die Klägerin die begehrten Leistungen vom Beklagten aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG bereits zum Teil erhalten, sodass insofern die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ausreichen würde (vgl AS 79/20 R - BSGE 133, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 62, RdNr 11; AS 30/21 R - juris RdNr 14). Im Hinblick auf die hilfsweise begehrte Verurteilung der Beigeladenen musste der Klägerin aber auch insofern die Möglichkeit der unechten Leistungsklage eröffnet bleiben (vgl auch - SozR 4-2500 § 44 Nr 1 RdNr 12; - juris RdNr 12).

19b) Zu Recht hat das LSG die Beigeladene verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1.4. bis Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Klägerin war von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (dazu aa), hatte aber einen Anspruch aus § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF (dazu bb).

20aa) Die Klägerin, die Staatsangehörige der Republik Lettland ist, war nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II (in der hier anzuwendenden vom bis geltenden Fassung) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hiernach sind "ausgenommen" - erhalten also keine Leistungen nach dem SGB II - Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

21(1) Die Voraussetzungen der Ausschlussnorm des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II liegen bei der Klägerin vor, denn sie hat allenfalls ein Aufenthaltsrecht, das sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ein anderes Aufenthaltsrecht (vgl zu den möglichen Aufenthaltsrechten zuletzt - RdNr 18 ff - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen) liegt nicht vor.

22Insbesondere bestand kein Aufenthaltsrecht aufgrund § 3 Abs 1 und 2 FreizügG/EU in der vom bis geltenden Fassung (vgl jetzt § 1 Abs 2 Nr 3 Buchst d, § 3 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU in der seit dem geltenden Fassung des Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht vom , BGBl I 2416). Nach § 3 Abs 1 FreizügG/EU aF haben das Recht aus § 2 Abs 1 FreizügG/EU, also das Recht auf Einreise und Aufenthalt, Familienangehörige der in § 2 Abs 1 Nr 1 bis 5 FreizügG/EU aF genannten Unionsbürger, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Gemäß dem hier allenfalls in Betracht kommenden § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF sind Familienangehörige die Verwandten in gerader aufsteigender und in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs 2 Nr 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU aF genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren.

23Zwar handelt es sich bei der Klägerin und ihren Eltern um Verwandte iS des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF. Allerdings ist die Tatbestandsvoraussetzung der Unterhaltsgewährung nicht erfüllt. Es kann daher dahinstehen, ob - wozu das LSG keine Feststellungen getroffen hat - die Eltern über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 1 bis 5 FreizügG/EU verfügen.

24§ 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF dient der Umsetzung des Art 2 Nr 2 Buchst c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom , weswegen bei seiner Auslegung die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen ist. Eine Unterhaltsgewährung iS des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF setzt danach voraus, dass ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis nachgewiesen wird ( - juris RdNr 20). Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten sichergestellt wird ( - juris RdNr 35; - juris RdNr 21). Eine solche Abhängigkeit liegt nur vor, wenn der Verwandte in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt ( - juris RdNr 22), wobei es - wie das LSG zu Recht angenommen hat - auf die Situation im Herkunfts- oder Heimatland ankommt ( - juris RdNr 37, 43; - juris RdNr 22, 30). Die Tatsache, dass ein Unionsbürger dem Verwandten in absteigender Linie regelmäßig während eines beachtlichen Zeitraums einen Geldbetrag zahlt, den Letzterer zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Herkunftsland benötigt, ist geeignet, ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Verwandten in absteigender Linie und dem Unionsbürger nachzuweisen ( - juris RdNr 24). Geleistete Zahlungen müssen zu ihrer Beachtlichkeit zwar nicht in einer Höhe erbracht werden, die allein ausreicht, um den Unterhalt vollständig zu decken. Erforderlich ist aber eine fortgesetzte und regelmäßige Leistung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken ( 11 C 1.93 - BVerwGE 94, 239 [242 f], dort bejaht bei monatlichen Zahlungen von 300 Deutsche Mark). Dies setzt, auch zur Vermeidung rechtsmissbräuchlicher Verhaltensweisen, einen nicht unwesentlichen Betrag voraus, der sich über einen gewissen Zeitraum erstreckt, der - um der Notwendigkeit der Regelmäßigkeit der Zahlungen Rechnung zu tragen - mindestens zwölf Monate beträgt. Selbst dann fehlt es jedoch an einem Abhängigkeitsverhältnis, wenn der Verwandte die Zahlungen zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Heimatland nicht benötigt ( - juris RdNr 22). Dass es hierdurch - wie die Revision rügt - zu einer Ungleichbehandlung von zuziehenden Familienangehörigen erwerbstätiger Unionsbürger, die typischerweise über größere finanzielle Mittel verfügen, gegenüber zuziehenden Familienangehörigen nicht erwerbstätiger Unionsbürger kommen kann, ist Folge der vom EuGH nicht beanstandeten unionsrechtlichen Vorgabe.

25Nach den bindenden Feststellungen des LSG erhielt die Klägerin von ihrer Mutter zwischen Dezember 2014 und Oktober 2015, dem Monat ihrer Einreise in das Bundesgebiet, monatliche Zahlungen zwischen 10 und 95 Euro. Dies entspricht bei einer Verteilung auf zwölf Monate einem Durchschnittsbetrag von ca 37 Euro. Hinzu kommen Zahlungen im November 2011 iHv 450 Euro, im Dezember 2012 iHv 15 Euro und im November 2013 iHv 60 Euro. Die Annahme des LSG, dass angesichts der geringen und der Höhe nach unregelmäßigen Zahlungen zwischen Dezember 2014 und Oktober 2015 auch unter Berücksichtigung der tatrichterlich zu würdigenden Lebenshaltungs- und Wohnkosten in Lettland einerseits und dem eigenen Verdienst der Klägerin (360 Euro Monatslohn) andererseits kein Abhängigkeitsverhältnis im oben beschriebenen Sinne vorliegt, ist nicht zu beanstanden. Die jeweils einmaligen Zahlungen in den Jahren 2011 bis 2013 müssen dabei ohnehin außer Betracht bleiben, weil es auf die Situation ankommt, die zuletzt im Heimatland bestand (vgl nochmals - juris RdNr 37, 43; - juris RdNr 22, 30).

26(2) Die Klägerin kann einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zudem nicht aus dem Gleichbehandlungsanspruch des Art 1 Europäisches Fürsorgeabkommen (BGBl 1956 II 563) ableiten, denn die Republik Lettland ist kein Unterzeichnerstaat dieses Abkommens (vgl etwa - juris RdNr 29 zu Rumänien).

27(3) Der Leistungsausschluss ist auch mit den grundrechtlichen Positionen der Klägerin, insbesondere mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG vereinbar. Das BSG hat bereits entschieden, dass es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, Personen, denen die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland möglich und zumutbar ist, von existenzsichernden Leistungen auszuschließen ( - RdNr 34 ff - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen; anschließend ebenso etwa ER - juris RdNr 12; ER - juris RdNr 34; aA ER - juris RdNr 16). Auch das BVerfG hat zuletzt erneut betont, dass der Gesetzgeber den Bezug existenzsichernder Leistungen grundsätzlich an die Erfüllung der Obliegenheit knüpfen kann, tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern ( - juris RdNr 75 - zur Veröffentlichung in BVerfGE 163 vorgesehen); eine solche Möglichkeit zur inländischen Bedürftigkeitsvermeidung liegt grundsätzlich in der Rückkehr in das Heimatland (dazu näher - RdNr 38 ff - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen).

28Ebenso hat das BSG bereits entschieden, dass der Ausschluss von existenzsichernden Leistungen mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist, wenn den betroffenen Personen die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland möglich und zumutbar ist ( - RdNr 45 f - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen). Insbesondere folgen aus der Europäischen Grundrechtecharta keine weitergehenden Ansprüche als aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG ( - RdNr 46 - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen; aA ER - juris RdNr 20).

29bb) Dass das LSG die Beigeladene verurteilt hat, der Klägerin für die Zeit vom 1.4. bis Leistungen nach § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII (in der bis zum geltenden Fassung) zu gewähren, steht in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG (etwa - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 53 ff; - SozR 4-4200 § 7 Nr 47 RdNr 40 f), an der festzuhalten ist, zumal es sich um die Auslegung außer Kraft getretenen Rechts handelt. Die Annahme des LSG, dass die von ihm festgestellten Umstände des Einzelfalls während des genannten Zeitraums eine Ermessensreduktion auf Null rechtfertigen, begegnet keinen durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken.

30cc) Ob und ggf in welcher Höhe der Anspruch gegen die Beigeladene gemäß § 107 Abs 1 SGB X durch die Zahlungen des Beklagten aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG als erfüllt gilt (vgl LSG Niedersachsen-Bremen vom - L 15 AS 256/16 - juris RdNr 49), bedarf im Grundurteilsverfahren keiner Prüfung. Die Beigeladene ist durch die Verurteilung dem Grunde nach nicht mit dem Einwand der Erfüllung ausgeschlossen (vgl - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 12 mwN; - juris RdNr 12; - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 14, 38).

314. Die Revision der Beigeladenen ist hingegen begründet und das Urteil des LSG aufzuheben (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG), soweit das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom bis zum verurteilt hat. Insofern ist die Klage abzuweisen, denn sie ist unzulässig, weil bislang keine Verwaltungsentscheidung ergangen ist.

32a) Ein Verwaltungsakt ist Sachurteilsvoraussetzung für die erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage; fehlt es daran, ist die Klage unzulässig (§ 54 Abs 1, Abs 4 SGG; vgl - BSGE 39, 86 [87] = SozR 2200 § 628 Nr 1 S 2 = juris RdNr 11 mwN; BH - juris RdNr 9; BH - juris RdNr 5; Bieresborn in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, 3. Aufl 2023, § 54 RdNr 55 ff, Stand ; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 54 RdNr 19). Zwar lässt § 75 Abs 5 SGG für seinen Anwendungsbereich die Notwendigkeit entfallen, dass der beigeladene Sozialleistungsträger eine eigene Verwaltungsentscheidung getroffen hat ( - SozR 4-2700 § 136 Nr 3 RdNr 26), nicht jedoch, dass überhaupt - nämlich vom Beklagten - eine Verwaltungsentscheidung getroffen worden ist ( - SozR 4-2700 § 54 Nr 1 RdNr 13 ff). Ist bereits die Klage unzulässig, scheidet auch eine Verurteilung des Beigeladenen aus ( - SozR 4-2700 § 54 Nr 1 RdNr 13), weil dem Gericht dann eine Prüfung des materiellen Rechts verwehrt ist.

33b) An dieser Verwaltungsentscheidung fehlt es hinsichtlich des Leistungsantrags der Klägerin vom .

34aa) Diesen Antrag legt der Senat dahingehend aus, dass er sich auf die Zeit ab dem bezieht. Zwar wirkt ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gemäß § 37 Abs 2 Satz 2 SGB II auf den Ersten des Monats zurück. Dies gilt aber nicht, wenn der Antrag sich auf einen anderen, späteren Zeitpunkt bezieht. Die Entscheidung, für welchen Zeitraum Leistungen beantragt werden, steht grundsätzlich zur alleinigen Disposition des Betroffenen ( - BSGE 117, 179 = SozR 4-4200 § 37 Nr 7, RdNr 19; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 37 RdNr 59; vgl aber zur begrenzten Wirkung einer Antragsbeschränkung - BSGE 117, 179 = SozR 4-4200 § 37 Nr 7, RdNr 22 ff; - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 23). Ist das Datum, ab dem der Antrag wirken soll, nicht ausdrücklich genannt, ist der Antrag der Auslegung zugänglich ( - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 18 ff; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 37 RdNr 20), die auch das Revisionsgericht durchführen darf ( - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 18 mwN). Hier ist für den Senat ausschlaggebend, dass die Klägerin aufgrund des Bescheids des Beklagten vom , der aufgrund der entsprechenden einstweiligen Anordnung des ergangen ist, bereits mit der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II bis zum rechnen konnte. Daher war es allein sinnvoll, den neuen Antrag für die Zeit ab dem zu stellen. Für diese aus der Sicht des objektiven Empfängerhorizonts vorzunehmende Auslegung spricht auch, dass der Beklagte die Klägerin im Bescheid vom darauf hingewiesen hat, dass sie zur Vermeidung von Unterbrechungen des Leistungsbezugs rechtzeitig vor Ablauf des (bis zum währenden) Zahlungszeitraums Leistungen beantragen müsse.

35bb) Durch den mit Wirkung zum gestellten Antrag vom erfährt der vom Verwaltungsverfahren bzgl des Antrags vom betroffene Zeitraum mit Ablauf des eine Zäsur.

36In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass bei Klagen gegen leistungsablehnende Bescheide, die keine zeitliche Beschränkung enthalten, streitgegenständlich der gesamte Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung bzw Entscheidung der (letzten) Tatsacheninstanz ist (stRspr; s nur B 11b AS 37/06 R - BSGE 98, 243 = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, RdNr 17; - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11). Die Ablehnung der Leistungsbewilligung im Bescheid vom enthielt weder eine ausdrückliche noch eine konkludente (zu dieser Möglichkeit - BSGE 131, 123 = SozR 4-4200 § 11 Nr 89, RdNr 11) zeitliche Begrenzung.

37Allerdings bewirkt ein neuer Leistungsantrag eine Zäsur. Er begrenzt den streitigen Zeitraum des vorherigen Antrags ( - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11; - BSGE 131, 116 = SozR 4-4200 § 44a Nr 2, RdNr 9; vgl auch - juris RdNr 8). Die Zäsur tritt unabhängig davon ein, ob der neue Leistungsantrag bereits beschieden worden ist (vgl - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11; - BSGE 131, 116 = SozR 4-4200 § 44a Nr 2, RdNr 9; siehe auch - juris RdNr 8; anders in einem Obiter Dictum - BSGE 123, 188 = SozR 4-4200 § 9 Nr 16, RdNr 13). Denn nur so lässt sich erreichen, dass zum Zeitpunkt des neuen Leistungsantrags der streitige Zeitraum des ersten Verwaltungs- und ggf Gerichtsverfahrens feststeht und auch nicht in der Folgezeit verändert werden kann. Anderenfalls würde der Streitzeitraum des ersten Verfahrens weder bei Einleitung des zweiten Verwaltungsverfahrens noch notwendigerweise bei Klageerhebung definitiv feststehen, sodass Rechtsklarheit und Rechtssicherheit nicht eintreten würden. Eine gegenteilige Sichtweise würde dazu führen, dass der Zeitpunkt, zu dem die Zäsur eintritt, und der Zeitpunkt, an dem bekannt ist, dass die Zäsur eintritt, auseinanderfallen. Würde man auf den Zeitpunkt der Bescheidung des zweiten Antrags abstellen, läge die Bestimmung des streitigen Zeitraums des ersten Verfahrens zudem in der Hand der Behörde. Und bei einer späteren Aufhebung des zweiten Bescheids - sei es durch die Behörde oder ein Gericht - würde die Zäsur wieder entfallen, sodass sich der streitige Zeitraum des ersten Verfahrens wieder verlängern würde. Ist das erste Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig abgeschlossen, entstünde nachträglich eine Rechtsschutzlücke. Der Zeitpunkt, in dem der zweite Antrag gestellt worden ist, steht hingegen in dem Augenblick dieser Antragstellung sofort und unabänderlich fest. Die hierdurch erreichte Rechtssicherheit gebietet es auch, bei einer Rücknahme des zweiten Antrags die hierdurch eingetretene Zäsurwirkung nicht nachträglich entfallen zu lassen.

38Soweit der Senat in der Vergangenheit ohne Begründung die gegenteilige Auffassung vertreten hat (insbesondere - SozR 4-4200 § 7 Nr 54 RdNr 13), hält er daran nicht fest.

39cc) Hieraus folgt, dass mit dem Bescheid vom keine Entscheidung für die Zeit ab dem getroffen worden ist. In der Folgezeit ist der Antrag vom ebenfalls nicht beschieden worden.

40Auch der Widerspruchsbescheid vom stellt keine Entscheidung des Antrags vom dar. Rubrum und Tenor des Widerspruchsbescheids sind eindeutig, denn danach wird lediglich der Widerspruch gegen die Ablehnung des Leistungsantrags vom zurückgewiesen. Die in der Begründung des Widerspruchsbescheids "versteckte" Passage auf Seite 6, wonach mit dem Antrag vom keine Änderungen derart eingetreten seien, dass nunmehr Leistungen zu bewilligen wären, stellt keine Regelung dar. Verwaltungsakte müssen inhaltlich hinreichend bestimmt sein (§ 33 Abs 1 SGB X), damit der Empfänger in der Lage ist, sein Verhalten danach auszurichten (vgl - SozR 4-4200 § 31 Nr 3 RdNr 16 mwN; - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 27). Insofern ist auch unter Rechtsschutzaspekten zu bedenken, ob der Adressat aus der Sicht eines verständigen Beteiligten aufgrund der Formulierung auf Seite 6 des Widerspruchsbescheids hätte wissen müssen, dass eine neue, zusätzliche und der Bestandskraft fähige Verwaltungsentscheidung getroffen worden ist. Dies verneint der Senat aus den dargelegten Gründen. Zur Auslegung des Widerspruchsbescheids ist auch das Revisionsgericht befugt (vgl - BSGE 67, 104 [110] = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 11 = juris RdNr 30 mwN; - BSGE 112, 74 = SozR 4-1300 § 45 Nr 10, RdNr 16; - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 24; - RdNr 16 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl auch - BSGE 127, 147 = SozR 4-2600 § 6 Nr 18, RdNr 37 mwN).

41Für die Zeit ab dem hat die Klägerin durch ihren Antrag vom ein neues Verwaltungsverfahren eröffnet (vgl § 8 SGB X); sie hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Bescheidung ab diesem Zeitpunkt, den sie jederzeit geltend machen kann, solange nicht die Voraussetzungen der Verwirkung eintreten (vgl BH - juris RdNr 10; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 88 RdNr 5c).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:060623UB4AS422R0

Fundstelle(n):
GAAAJ-51125