BGH Beschluss v. - 4 StR 325/23

Instanzenzug: LG Paderborn Az: 01 KLs 30/20 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, unter Einbeziehung der Geldstrafe aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision, mit der die Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. Die Angeklagte ist dreifache Mutter und leidet seit unbekannter Zeit an dem sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer artifiziellen Störung, die sich spätestens kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter M.   im Jahr 2014 manifestierte. Diese Erkrankung führte dazu, dass sie in Bezug auf ihre Kinder Krankheitssymptome gegenüber Ärzten und ihrem sozialen Umfeld fingierte oder deutlich dramatisierte, um hierdurch medizinisch nicht indizierte Eingriffe zu veranlassen. In der Folge wollte sie sich als besorgte und aufopferungsvolle Mutter von vermeintlich schwerkranken Kindern gerieren, um auf diese Weise – insbesondere im Rahmen eines sozialen Netzwerks, in dem sie ausführlich über den Krankheitsverlauf ihrer Kinder berichtete – Wertschätzung von Dritten zu erfahren.

42. Vor diesem Hintergrund kam es zu folgenden Taten:

5a) Nachdem die Angeklagte wiederholt gegenüber Ärzten eine – tatsächlich nicht existente – Verstopfungsproblematik bei ihrer Tochter M.   behauptet hatte, worauf mehrere ergebnislos verlaufende Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte des Kleinkindes folgten, veranlasste sie durch ihre bewusst falschen Angaben die Hausärztin zu einer erneuten stationären Einweisung ihrer Tochter und blieb auch im Aufnahmegespräch im Krankenhaus bei ihrer unwahren Behauptung. Aufgrund dieser anamnestischen Angaben der Angeklagten diagnostizierte der Chefarzt der kinderchirurgischen Abteilung eine tatsächlich nicht bestehende „unklare Darmtransportstörung“ und empfahl zur diagnostischen Abklärung die vorübergehende Anlage eines künstlichen Darmausgangs. Die Angeklagte willigte nach Aufklärung über die Operationsrisiken in die Behandlung ein, wobei ihr bewusst war, dass sie – unter Instrumentalisierung der auf ihre Angaben vertrauenden Ärzte – ihrer Tochter hierdurch eine potenziell lebensgefährliche Körperverletzung zufügen würde; sie nahm dies billigend in Kauf. Der künstliche Darmausgang wurde schließlich am in einer unter Vollnarkose durchgeführten, mehrstündigen Operation gelegt, bei der die Bauchwand mittels eines Schnitts eröffnet wurde. Es handelte sich um eine – komplikationsfrei verlaufende – chirurgische Standardprozedur, die generell dazu geeignet war, eine Lebensgefahr für das damals eineinhalb Jahre alte Kind herbeizuführen (Fall II. 1 der Urteilsgründe).

6b) In Bezug auf ihre jüngste Tochter A.   gab die Angeklagte gegenüber den Ärzten tatsächlich nicht bestehende Atmungsprobleme sowie eine Trinkschwäche an. Hierauf folgten mehrere medizinisch nicht angezeigte Krankenhausaufenthalte des Säuglings. Auch im Rahmen einer weiteren stationären Aufnahme blieb sie bei ihrer unwahren Behauptung. Wie von ihr beabsichtigt, stellten die behandelnden Ärzte – auf ihre Angaben vertrauend – die Indikation zur Legung einer PEG-Sonde. Der Angeklagten war hierbei bewusst, dass dies einen medizinisch nicht angezeigten operativen Eingriff erforderlich machen würde, der generell mit einer Lebensgefahr für den Säugling verbunden war. Gleichwohl willigte sie nach Aufklärung über die Operationsrisiken in den Eingriff ein, weil es ihr wiederum darauf ankam, sich in der Folgezeit als fürsorgliche Mutter eines schwerkranken Kindes zu inszenieren. Die PEG-Sonde wurde am im Rahmen einer unter Vollnarkose erfolgten, 20 Minuten dauernden Operation gelegt. Dieser Eingriff, bei dem unter anderem die Bauchdecke des Säuglings durchstochen wurde, verlief komplikationsfrei (Fall II. 2 der Urteilsgründe).

7c) Ab dem entschloss sich die Angeklagte, ihrer jüngsten Tochter gezielt die zur Nahrungsgabe über die PEG-Anlage vorgesehene Sondennahrung teilweise vorzuenthalten. Sie wollte den hierdurch herbeigeführten Gewichtsverlust als Vorwand für weitere, medizinisch nicht indizierte Maßnahmen verwenden, insbesondere zur Anlage eines Tracheostomas, um sich wiederum als fürsorgliche Mutter in Szene zu setzen. Der Angeklagten war hierbei bewusst, dass ihr auf Gewichtsreduktion abzielendes wiederkehrendes Unterlassen zu andauernden körperlichen Schmerzen bei ihrer Tochter führen würde und zudem allgemein geeignet war, eine Lebensgefahr für den elf Monate alten Säugling zu begründen. Aufgrund der folgenden partiellen Nahrungsvorenthaltung diagnostizierte ein von der Angeklagten aufgesuchter Kinderarzt am einen Unterernährungszustand und stellte eine Krankenhauseinweisung aus. Dort wurde im Rahmen der Aufnahme am Folgetag bei dem nur noch 5.200 g wiegenden Säugling ein Gewichtsverlust von 1.180 g innerhalb der vergangenen sieben Wochen festgestellt. Gleichwohl setzte die Angeklagte, der auf ihren ausdrücklichen Wunsch gestattet worden war, ihrer Tochter die Sondennahrung selbst zu verabreichen, den teilweisen Nahrungsentzug im Krankenhaus weiter fort. Der Säugling befand sich schließlich in einem derart unterernährten Zustand, dass bereits ein einfacher Alltagsinfekt oder eine sonstige leichte körperliche Erkrankung oder Komplikation zu dem Eintritt einer konkreten Lebensgefahr geführt hätte. Am kam es schließlich infolge des inzwischen misstrauisch gewordenen Krankenhauspersonals zu einer sog. diagnostischen Trennung der Angeklagten von ihrer Tochter und zu einer anschließenden kontinuierlichen Gewichtszunahme bei dem Säugling (Fall II. 3 der Urteilsgründe).

83. Die Strafkammer hat die Fälle II. 1 und 2 der Urteilsgründe jeweils als in mittelbarer Täterschaft begangene Misshandlung von Schutzbefohlenen – in der Tatbestandsalternative des rohen Misshandelns – in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in der Begehungsform mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung bewertet (§ 223, § 224 Abs. 1 Nr. 5, § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2, § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB). Im Fall II. 3 der Urteilsgründe hat sie eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen – in der Variante des Quälens – in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in der Begehungsform mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung, begangen durch Unterlassen, angenommen (§ 223, § 224 Abs. 1 Nr. 5, § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1, § 13 StGB).

9Die Strafkammer ist – sachverständig beraten – davon ausgegangen, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit der Angeklagten bei Begehung der Taten ungeachtet der bei dieser vorliegenden artifiziellen Störung in Form eines sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms (ICD-10: T.74.8) nicht im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war.

II.

10Den Verfahrensbeanstandungen bleibt der Erfolg versagt.

111. Die Rüge eines Verstoßes gegen § 251 Abs. 4 Satz 2 StPO, mit der die unterlassene Begründung eines Gerichtsbeschlusses zur vernehmungsersetzenden Verlesung verschiedener Urkunden beanstandet wird, ist bereits unzulässig.

12a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

13Nachdem sich die Angeklagte, ihr Verteidiger und der Vertreter der Staatsanwaltschaft damit einverstanden erklärt hatten, erließ die Strafkammer in der Hauptverhandlung einen Beschluss, wonach insgesamt 24 im Einzelnen bezeichnete ärztliche Berichte gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO verlesen werden sollten. Eine nähere Begründung enthielt der Beschluss nicht. Die Schriftstücke wurden schließlich im Wege des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 StPO) in die Hauptverhandlung eingeführt.

14b) Die Rüge wurde schon nicht zulässig erhoben. Wie sich bereits aus dem Vorbringen in der Revisionsbegründung und ergänzend auch aus den Urteilsgründen ergibt, wurden mehrere derjenigen Ärztinnen und Ärzten, die aus den Schriftstücken als deren Verfasser hervorgehen, in der Hauptverhandlung als Zeugen gehört. In Bezug auf die hiervon betroffenen ärztlichen Berichte handelte es sich daher nicht um eine die Vernehmung der Auskunftsperson ersetzende, sondern vielmehr um eine vernehmungsergänzende Verlesung (hierzu etwa Rn. 18 mwN), die auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 251 StPO statthaft ist (Kreicker in MüKo-StPO, 2. Aufl., § 251 Rn. 6). Angesichts dessen hätte es zur Wahrung der sich aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ergebenden Voraussetzungen der Darlegung bedurft, in Bezug auf welche konkreten ärztlichen Berichte es sich überhaupt um eine vernehmungsersetzende Verlesung im Sinne von § 250 Satz 2, § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO handelte (vgl. Rn. 32 mwN).

152. Die weitere Verfahrensrüge, mit der die Angeklagte einen Verstoß gegen § 249 Abs. 2 StPO geltend macht, hat aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg.

III.

16Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Nachprüfung des Urteils hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

171. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Näherer Erörterung bedürfen lediglich die rechtliche Würdigung betreffend die Fälle II. 1 und 2 der Urteilsgründe sowie die Ausführungen der Strafkammer zur Verneinung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB.

18a) Die Feststellungen tragen in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe jeweils den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung, allerdings – abweichend von der rechtlichen Würdigung der Strafkammer – in der Begehungsweise mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB) und nicht in Form einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB).

19aa) Es kann dahinstehen, ob die in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe jeweils fachgerecht durchgeführten medizinischen Standardeingriffe, die auch im Einzelfall komplikationslos verliefen, die objektiven Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB (vgl. hierzu Rn. 17; Beschluss vom – 1 StR 158/20 Rn. 10 f.) erfüllen. Jedenfalls sind die von der Strafkammer zur subjektiven Tatseite getroffenen Feststellungen – auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 17 mwN) – nicht hinreichend belegt.

20Für den Körperverletzungsvorsatz im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB ist neben dem zumindest bedingten Verletzungsvorsatz erforderlich, dass der Täter die Umstände erkennt, aus denen sich die allgemeine Gefährlichkeit des Tuns in der konkreten Situation für das Leben des Opfers ergibt. Dabei muss der Täter sie nicht als solche bewerten, jedoch muss die Handlung nach seiner Vorstellung auf Lebensgefährdung „angelegt“ sein ( Rn. 20; Beschluss vom – 4 StR 646/19 Rn. 9 mwN).

21Nach den Feststellungen war der Angeklagten zwar bewusst, dass sie ihre Töchter durch die operativen Eingriffe einer generellen Lebensgefahr aussetzen würde. Insoweit fehlt es allerdings an einem tragfähigen Beleg. Der von der Strafkammer hierzu allein angeführte Umstand, dass die Angeklagte über die Operationsrisiken aufgeklärt worden war, leidet schon für sich genommen unter einem Darlegungsmangel, da der Aufklärungsinhalt in den Urteilsgründen nicht mitgeteilt wird. Das Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB versteht sich vorliegend im Übrigen auch nicht von selbst, weil das festgestellte Handlungsmotiv der Angeklagten, sich anschließend als Mutter von pflegebedürftigen Kindern aufzuwerten, ein Vertrauen auf die erfolgreiche Durchführung der operativen Eingriffe nahelegt. Zudem handelte es sich nach den Urteilsgründen um durch medizinisches Fachpersonal vorgenommene Standardeingriffe.

22bb) Die Urteilsgründe tragen hinsichtlich der erfolgten operativen Eingriffe allerdings eine Strafbarkeit gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB.

23(1) Ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein Tatmittel, das nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im Einzelfall dazu geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (st. Rspr.; etwa Rn. 12; Beschluss vom – 2 StR 467/14 Rn. 10). Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf das chirurgische Gerät, mit dem in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe jeweils die Bauchwand durchtrennt bzw. durchstochen wurde, sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht vor.

24(2) Die zu § 223a StGB aF ergangene Rechtsprechung steht dieser Auslegung nicht entgegen. Danach standen chirurgische Instrumente (etwa ein Skalpell oder eine zahnärztliche Extraktionszange), die von einem approbierten Arzt bestimmungsgemäß bei einem Heileingriff eingesetzt wurden, unabhängig von ihrer konkreten Verwendungsweise weder einem Messer noch einem anderen gefährlichen Werkzeug im Sinne dieser Vorschrift gleich (, juris Rn. 19 ff.; Urteil vom – 2 StR 372/77, NJW 1978, 1206; vgl. auch Urteil vom – 1 StR 598/86, BGHR StGB § 223a Abs. 1 Werkzeug 1). Ausgehend von dem Wortlaut der alten Gesetzesfassung, nach der ein Messer oder ein anderes gefährliches Werkzeug nur Beispielsfälle einer Waffe darstellten, wurden die Voraussetzungen dieser Tatvariante lediglich dann als erfüllt angesehen, wenn der Täter den Gegenstand bei einem Angriff oder Kampf zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken benutzte, was bei einem bestimmungsgemäßen Einsatz als Heilinstrument nicht der Fall war ( aaO; Urteil vom – 2 StR 372/77 aaO). Dies galt auch dann, wenn es an einer medizinischen Indikation für den Eingriff fehlte ( aaO). Anders wurde der Gebrauch von ärztlichen Instrumenten allerdings dann bewertet, wenn der Eingriff durch einen vermeintlichen – tatsächlich also nicht geprüften bzw. approbierten – Heilkundigen durchgeführt wurde ( aaO; vgl. auch , NStZ-RR 2021, 109, 110).

25(3) Diese zu § 223a StGB aF ergangene einschränkende Rechtsprechung, die bestimmungsgemäß verwendete ärztliche Instrumente – trotz einer in der konkreten Verwendungssituation gegebenen Eignung zur Herbeiführung erheblicher Verletzungsfolgen – aufgrund des fehlenden Angriffs- bzw. Verteidigungszwecks nicht als gefährliche Werkzeuge ansah, kann auf die seit dem geltende Gesetzesfassung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (BGBl. I S. 164) jedenfalls in Bezug auf medizinisch nicht indizierte Eingriffe nicht übertragen werden (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 2022, 687 Rn. 7; kritisch zu der zu § 223a StGB aF ergangenen Rechtsprechung auch Grünewald in LK-StGB, 13. Aufl., § 224 Rn. 22; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 224 Rn. 50; Eschelbach in BeckOK-StGB, 60. Ed., § 224 Rn. 28.1 ff.; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 224 Rn. 8; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 224 Rn. 15a; Lorenz, medstra 2022, 220, 224; jew. mwN).

26(a) Nach dem Gesetzeswortlaut des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB stellt ein anderes gefährliches Werkzeug kein Beispiel mehr für eine Waffe dar; vielmehr handelt es sich bei einer Waffe – umgekehrt – nunmehr um einen Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs (vgl. , BGHSt 52, 257 Rn. 13 zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB; OLG Karlsruhe NStZ 2022, 687 Rn. 7; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 224 Rn. 50). Zwar geht aus der Gesetzesbegründung nicht hervor, was den Gesetzgeber zur Änderung des Wortlauts im Vergleich zu § 223a StGB aF veranlasste; dieser ging – soweit ersichtlich – wohl davon aus, die bisherigen Merkmale des § 223a StGB in den neu gefassten § 224 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 StGB übernommen zu haben (vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 36; BT-Drucks. 13/9064 S. 15 [„In § 224 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 neu werden sämtliche Fälle des geltenden § 223a aufgegriffen.“]; vgl. auch Bergschneider, StraFo 2023, 244). Dies ändert aber nichts daran, dass ein gefährliches Werkzeug nach dem für die Auslegung maßgeblichen Wortsinn, wie er sich aus dem Kontext des Gesetzes erschließt (vgl. BVerfG, NJW 2007, 1666 Rn. 20), nunmehr den Oberbegriff darstellt.

27In Abgrenzung zur Waffe setzt ein gefährliches Werkzeug danach gerade nicht mehr voraus, generell zum Einsatz als Angriffs- oder Verteidigungsmittel bestimmt zu sein (, BGHSt 52, 257 Rn. 13 zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB). Dementsprechend können auch Alltagsgegenstände wie beispielsweise eine brennende Zigarette (vgl. , NStZ 2002, 86) oder ein „fester Turnschuh“ (vgl. , NStZ-RR 2011, 337) als gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bewerten sein, wenn sie nach der Art ihrer Benutzung im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen. Unter Zugrundlegung dieser Einstufung von Gegenständen als gefährliche Werkzeuge, nämlich anhand ihrer potenziellen Gefährlichkeit hinsichtlich erheblicher Körperverletzungen, können regelgerecht eingesetzte chirurgische Instrumente nicht mit der Erwägung aus dem Anwendungsbereich von § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB ausgeschlossen werden, es fehle ihnen an der Bestimmung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel.

28(b) Für dieses Auslegungsergebnis streiten zudem gesetzessystematische Erwägungen. Das Tatbestandsmerkmal des „anderen gefährlichen Werkzeugs“ findet sich auch in weiteren qualifizierenden Straftatbeständen (§ 177 Abs. 7 Nr. 1 und Abs. 8 Nr. 1; § 244 Abs. 1 Nr. 1 a); § 250 Abs. 1 Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 1 StGB). Zwar weisen diese Qualifikationstatbestände keine einheitliche dogmatische Struktur auf, da sie tatbestandlich teilweise bereits das Beisichführen des Tatmittels erfassen, teils aber auch an dessen Verwendung anknüpfen. Ungeachtet dieses Unterschieds besteht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Einigkeit darüber, dass ein gefährliches Werkzeug in diesen Fällen jedenfalls keine Bestimmung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel voraussetzt; es reicht vielmehr aus, dass der jeweilige Gegenstand objektiv geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen (vgl. Rn. 6; Beschluss vom – 4 StR 263/20 Rn. 8 [jeweils zu § 177 Abs. 7 Nr. 1 StGB]; Urteil vom – 1 StR 112/17 Rn. 15; Beschluss vom – 5 StR 286/12 Rn. 4; Beschluss vom – 3 StR 246/07, BGHSt 52, 257 Rn. 13, 32 ff. [jeweils zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB]; Urteil vom – 3 StR 556/09 Rn. 6 [zu § 250 Abs. 1 Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 1 StGB]). Mit dieser Rechtsprechung wäre es nicht zu vereinbaren, wenn man chirurgisches Gerät, das bei einem medizinisch nicht indizierten operativen Eingriff zum Einsatz kommt, von vornherein unter Verweis auf dessen fehlenden Charakter als Angriffs- oder Verteidigungsmittel aus dem Anwendungsbereich des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB ausscheiden würde.

29(c) Schließlich wird das Auslegungsergebnis auch durch teleologische Erwägungen bestätigt. Sämtliche Begehungsvarianten des § 224 StGB zeichnen sich durch eine besonders gefährliche Begehungsweise aus (vgl. , BGHSt 47, 384, 387; Urteil vom – 5 StR 182/64, BGHSt 19, 352, 353 zu § 223a StGB aF; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 224 Rn. 1; Grünewald in LK-StGB, 13. Aufl., § 224 Rn. 1). Eine solche erhöhte Gefährlichkeit kann gerade auch beim Einsatz von chirurgischem Gerät, das bestimmungsgemäß von einer ärztlichen Behandlungsperson verwendet wird, bestehen. Ob dies der Fall ist, richtet sich – wie auch bei anderen Tatmitteln im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB – nach der objektiven Beschaffenheit des Gegenstandes und der Art seiner Benutzung im Einzelfall. Entgegen teilweise vertretener Ansicht (vgl. Engländer in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 224 Rn. 7; Bergschneider, StraFo 2023, 244) kann eine erhöhte Gefährlichkeit von chirurgischen Instrumenten auch nicht von vornherein mit Blick auf die Sachkompetenz der Behandlungsperson verneint werden (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 2022, 687 f.; Vogel, NStZ 2022, 688; siehe auch Ulsenheimer/Gaede in Ulsenheimer/Gaede, Arztstrafrecht in der Praxis, 6. Aufl., Rn. 623).

30(4) Die rechtliche Bewertung von chirurgischem bzw. sonstigem ärztlichen Instrumentarium richtet sich somit jedenfalls bei medizinisch nicht indizierten Eingriffen, über die der Senat hier ausschließlich zu entscheiden hat, nach den allgemein für gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB geltenden Rechtsprechungsmaßstäben, weshalb vorliegend in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe dieser Qualifikationstatbestand erfüllt ist.

31§ 265 StPO steht der abweichenden rechtlichen Würdigung nicht entgegen, da sich die – die operativen Eingriffe als solche einräumende – Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.

32Es bedurfte zudem auch keiner Vorlage nach § 132 Abs. 2 GVG, da die rechtliche Grundlage der früheren Entscheidungen infolge der erwähnten Gesetzesänderung entfallen ist (vgl. BVerfG NStZ 1993, 90, 91; , BGHSt 44, 121, 124; Feilcke in KK-StPO, 9. Aufl., § 132 GVG Rn. 8).

33b) Die von der Strafkammer in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe angenommene, tateinheitlich zur gefährlichen Körperverletzung hinzutretende Strafbarkeit wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen – in der Tatbestandsalternative der rohen Misshandlung – gemäß § 225 Abs. 1 Nr. 1, § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB begegnet keinen rechtlichen Bedenken.

34aa) Ein rohes Misshandeln im Sinne von § 225 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der Täter einem anderen eine Körperverletzung aus gefühlloser Gesinnung zufügt, die sich in erheblichen Handlungsfolgen äußert. Eine gefühllose Gesinnung ist gegeben, wenn der Täter bei der Misshandlung das – notwendig als Hemmung wirkende – Gefühl für das Leiden des Misshandelten verloren hat, das sich bei jedem menschlich und verständig Denkenden eingestellt hätte (st. Rspr.; etwa Rn. 7 mwN). Das Tatbestandsmerkmal erfordert eine sorgfältige Darstellung nicht nur der objektiven Tatseite, sondern auch der Gesinnung des Täters (vgl. aaO; Beschluss vom – 6 StR 462/21 Rn. 6 mwN).

35bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe gerecht. Die durch die bewusst unwahren anamnestischen Angaben der Angeklagten veranlassten operativen Eingriffe waren mit erheblichen Handlungsfolgen für ihre Töchter in diesem Sinne verbunden. Zudem würde kein besonnener und vernünftig denkender Mensch ein Kind einer solchen Prozedur mit anschließenden erheblichen Einschränkungen unnötig aussetzen. Zwar hat die Strafkammer bei ihrer Würdigung als „gefühllos“ das bei der Angeklagten im Tatzeitraum vorliegende sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom nicht ausdrücklich erörtert. Nach einer Gesamtschau der Urteilsgründe kann jedoch ausgeschlossen werden, dass ihr das Störungsbild aus dem Blick geraten ist. Denn sie hat sich wiederholt und schließlich im Rahmen der Prüfung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausführlich mit dem Handlungsantrieb der Angeklagten, namentlich der ein Leiden ihrer Kinder bedingenden Inszenierung als fürsorgliche Mutter zum Zwecke der Aufwertung der eigenen Person, auseinandergesetzt. Die Urteilsgründe tragen daher auch die subjektiven Voraussetzungen einer rohen Misshandlung.

36c) Die Strafkammer hat zudem ohne Rechtsfehler das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB verneint.

37aa) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Täters zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert grundsätzlich eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei ihm eine psychische Störung zu diagnostizieren ist, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein (st. Rspr.; Rn. 6; Beschluss vom – 4 StR 491/22 Rn. 7; jew. mwN).

38Diese Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; Rn. 8; Urteil vom – 2 StR 255/22 Rn. 39; Urteil vom ‒ 2 StR 257/21 Rn. 15). Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass der Tat, die Motivlage und das Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können ( Rn. 8; Beschluss vom – 6 StR 360/23 Rn. 6; Beschluss vom – 4 StR 366/22 Rn. 5).

39bb) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil. Die Strafkammer kommt nach ausführlicher Darstellung der Einschätzung der Sachverständigen zu dem Schluss, dass die bei der Angeklagten vorliegende artifizielle Störung in Form eines sog. Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms, welches grundsätzlich das Eingangsmerkmal einer anderen schweren seelischen Störung erfüllen kann, schon nicht den hierfür erforderlichen Ausprägungsgrad erreicht. Zur Begründung hat sie – im Rahmen einer Gesamtbetrachtung – die Art und Weise der Tatausführung, die psychische Verfassung und die persönliche und berufliche Situation der Angeklagten im Tatzeitraum sowie deren Vorleben herangezogen. Sie hat die wiederholten und sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Falschangaben der Angeklagten gegenüber den behandelnden Ärzten – ohne erkennbare akute psychische Belastung – in den Blick genommen. Aus deren planvollen und strukturierten Vorgehen, einhergehend mit der Bereitschaft abzuwarten sowie Entdeckungsvorsorge zu betreiben, schließt sie darauf, dass die Angeklagte Handlungsalternativen gegeneinander abwägen konnte. Zudem befasst sich die Strafkammer mit der Leistungsfähigkeit der Angeklagten im Tatzeitraum und stellt dabei keinerlei Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens fest. Die partnerschaftliche Beziehung der Angeklagten und ihre sonstigen zwischenmenschlichen Kontakte gestalteten sich unauffällig. Neben der Betreuung der Kinder ging sie einer Tätigkeit in dem Unternehmen ihres Lebensgefährten nach. Ferner hat die Strafkammer weder Auffälligkeiten in der Kindheit der Angeklagten noch in ihrem schulischen und beruflichen Werdegang ausmachen können. Danach ergibt sich aus den Urteilsgründen noch hinreichend, dass die Angeklagte im Sinne einer motivationalen Steuerungsfähigkeit (vgl. hierzu Rn. 16) ihre als normwidrig erkannte Motivation kontrollieren konnte.

402. Der Strafausspruch hält ebenfalls der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.

41a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. In dessen Strafzumessungsentscheidung kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn diese Rechtsfehler aufweist, weil die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (st. Rspr.; etwa Rn. 18).

42Dabei ist das Tatgericht bei der Darstellung seiner Strafzumessungserwägungen im Urteil nur gehalten, die bestimmenden Zumessungsgründe mitzuteilen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Eine erschöpfende Aufzählung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Gesichtspunkte ist dagegen weder gesetzlich vorgeschrieben noch in der Praxis möglich (st. Rspr.; etwa Rn. 6 mwN). Auswahl und Gewichtung der Strafzumessungsgesichtspunkte obliegt grundsätzlich dem Tatgericht. Es hat unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls zu entscheiden, welchen Umstand es als bestimmenden Strafzumessungsgrund ansieht ( Rn. 19).

43b) Hieran gemessen zeigen die Urteilsgründe keine durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten auf.

44Gegen die tatrichterliche Bewertung, dass es sich bei dem Störungsbild der für voll schuldfähig erachteten Angeklagten nicht um einen ausdrücklich anzuführenden bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkt (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) handelt, ist nichts zu erinnern. Im Übrigen kann bei einer Gesamtschau der Urteilsgründe ausgeschlossen werden, dass der Strafkammer dieser Gesichtspunkt bei der Strafbemessung aus dem Blick geraten ist.

45Soweit die Revision rügt, die Strafkammer habe bei der Strafbemessung zu Unrecht die lange Verfahrensdauer nicht berücksichtigt, stellt auch dies keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar. Zwar kann einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, wenn sie für den Angeklagten mit besonderen Belastungen verbunden ist ( Rn. 3). Hierfür liegen indes nach Maßgabe der Urteilsgründe keine Anhaltspunkte vor und die Strafkammer musste sich daher auch zu weiteren diesbezüglichen Ausführungen nicht gedrängt sehen.

463. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:191223B4STR325.23.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-64982