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Gesetzeswidrige Tätigkeitsabschlüsse bei der buchhalterischen Entflechtung von Energieversorgern
Warum eine langjährige Praxis gesetzeswidrig ist
Vor über 25 Jahren wurden mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes die buchhalterische Entflechtung von Elektrizitätsversorgungsunternehmen und die Aufstellung von Tätigkeitsabschlüssen eingeführt. Vor über zehn Jahren wurde die Aufstellungspflicht auf alle Energieversorgungsunternehmen ausgeweitet; deren Tätigkeitsabschlüsse sind seitdem im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Der Gesetzgeber betrat buchungstechnisches Neuland, als er mit der buchhalterischen Entflechtung die Grundsätze der Bilanzidentität und des Buchungszusammenhangs aufgab und die Bilanzen plötzlich „nicht mehr aufgingen“.
Wegen der Untätigkeit der verantwortlichen Regulierungsbehörden musste die Praxis eine eigene Lösung für dieses Problem entwickeln. Eine Lösung beachtet dabei die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften – eine andere Lösung beachtet sie aber nicht! Nach Jahren der Untätigkeit präferieren die Regulierungsbehörden seit 2019 nun sogar die gegen das Handelsgesetzbuch verstoßende Lösung, die dann möglicherweise auch zu falsch ermittelten Netzentgelten führt.
Die Regulierungsbehörden, d. h. die Bundesnetzagentur und Regulierungsbehörden der Länder, haben durch jahrelange Untätigkeit und Unkenntnis der handelsrechtlichen Rechnungslegung ihre Verantwortung für das Erreichen der Ziele des Energiewirtschaftsgesetzes und damit für die Liberalisierung des Energiemarkts nur unzureichend wahrgenommen.
Als Folge werden seit über 25 Jahren auch gegen die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften verstoßende Tätigkeitsabschlüsse aufgestellt, geprüft, testiert, veröffentlicht und „analysiert“. Sie führen vermutlich auch zu einer fehlerhaften Berechnung der Netzentgelte.
Behörden, Institutionen und Organisationen, die den Regulierungsbehörden ein Korrektiv hätten entgegensetzen können oder müssen, haben wegen Untätigkeit oder eigener Unkenntnis diese Funktion nicht wahrgenommen.
I. Grundlagen
Der Elektrizitäts- und Gasmarkt war bis zum Jahr 1998 unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten ein Ausnahmebereich des Wirtschaftsgeschehens, da für die Versorgungsgebiete der auf diesem Markt agierenden Energieversorgungsunternehmen über Ausschließlichkeitsverträge ein Angebotsmonopol bestand. Konkurrierenden Energieanbietern war der Zugang verwehrt zu den monopolistisch gebundenen Elektrizitätsübertragungsnetzen, Gasfernleitungen und örtlichen Verteilernetzen. Hinderlich für einen funktionierenden Wettbewerb war auch die vertikale Integration der Energieversorgungsunternehmen.
Die Strategie des Europäischen Parlaments zur Beseitigung dieser Mängel – umgesetzt durch die verschiedenen Energie-Binnenmarktrichtlinien – sollte zur weitgehenden Liberalisierung der Märkte für Energieerzeugung, -beschaffung und -vertrieb beitragen. Der monopolistische Netzbetrieb wurde dafür durch verschiedene, sich ergänzende Entflechtungsmaßnahmen reguliert:
die (eigentums-)rechtliche,
die operationelle,
die informatorische und
die buchhalterische Entflechtung.
II. Verantwortung der Bundesnetzagentur und Regulierungsbehörden der Länder
Die Energie-Binnenmarktrichtlinien wurden durch das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) in nationales Recht umgesetzt; ausführende und überwachende Organe der energiewirtschaftlichen Regulierung wurden die Regulierungsbehörden (Bundesnetzagentur und Regulierungsbehörden der Länder).
Notwendige Voraussetzung für deren ordnungsmäßige Aufgabenerfüllung wäre die umfassende Kenntnis der für die Regulierung bedeutsamen energiewirtschaftlichen und handelsrechtlichen Regelungen gewesen. In der Fortentwicklung der Richtlinien werden die Bedeutung, der besondere Schutz und die Verbesserung der Informationsmöglichkeiten der Verbraucher immer deutlicher betont. Die Bürger der Europäischen Union, die von den wirtschaftlichen Vorteilen des Binnenmarkts profitieren sollen, sollen „aus Gründen der Gerechtigkeit und der Wettbewerbsfähigkeit und indirekt S. 319zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch ein hohes Verbraucherschutzniveau genießen können“.
Diese Informationen sollen die Bürger u. a. durch die im EnWG geregelte Ergänzung der handelsrechtlichen Rechnungslegung und die buchhalterische Entflechtung mit der Aufstellung der Tätigkeitsabschlüsse erhalten. Die Informationsfunktion der buchhalterischen Entflechtung und der Tätigkeitsabschlüsse gemäß EnWG wird allerdings nur dann erfüllt, wenn die gesetzlichen Vorschriften für die Aufstellung beachtet werden; die Qualität und der Informationswert müssen sich daran messen lassen, inwieweit diese Informationsinstrumente entscheidungsrelevante Informationen liefern können.
III. Informationsfunktion der buchhalterischen Entflechtung und der Tätigkeitsabschlüsse von Energieversorgungsunternehmen
Um sein Ziel der Energiemarktregulierung und der Verbesserung der Informationsfunktion der Rechnungslegung zu erreichen, ergänzte der Gesetzgeber mit dem EnWG vom 24.4.1998 – damals noch begrenzt auf Elektrizitätsversorgungsunternehmen und letztmals durch das EnWG vom 1.8.2022 neu geregelt – die handelsrechtliche Rechnungslegung und schuf mit der buchhalterischen Entflechtung eine völlig neue Methode der Informationsermittlung sowie mit den Tätigkeitsabschlüssen eine bisher unbekannte Art der Informationsvermittlung.
Der Gesetzgeber betrat mit der in § 6b Abs. 3 EnWG geregelten buchhalterischen Entflechtung und den Tätigkeitsabschlüssen sowie der Fiktion des rechtlich selbständigen Unternehmens regulatorisches Neuland. Denn mit der buchhalterischen Entflechtung wurde erstmals ein geschlossenes Buchungs- und Bilanzierungssystem – bestehend aus Bilanz und GuV-Rechnung – in mehrere Bilanzen und GuV-Rechnungen für mehrere Tätigkeitsbereiche des Energieversorgungsunternehmens aufgeteilt (Tätigkeitsabschlüsse).
Bemerkenswerterweise formulierten aber weder das Europäische Parlament in den Energie-Binnenmarktrichtlinien noch der deutsche Gesetzgeber in den Gesetzesbegründungen zum EnWG signifikante theoretische Grundlagen für die buchhalterische Entflechtung. Auch Institutionen auf europäischer Ebene wie etwa die Agency for the Cooperation of Energy Regulators in Ljubljana oder das Council of European Energy Regulators in Brüssel oder auch die Bundesnetzagentur trugen nur wenig zu einem theoretischen Gerüst bei.
In den Gesetzgebungsprozess waren seit dem Jahr 1998 bis zur derzeit geltenden Fassung des EnWG (rudimentär) die meinungsbildenden Verbände involviert – vor allem der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (BDEW), der Verband kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) und das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW).
Im Rahmen der aktuellen gesetzlichen Verankerung der Informationsfunktion in § 6b EnWG lassen sich verschiedene Informationsinstrumente unterscheiden. Primäre – bereits durch die Energie-Binnenmarktrichtlinien vorgegebene – Informationsinstrumente sind:
die Verpflichtung zur Rechnungslegung, Prüfung und Offenlegung des Jahresabschlusses,
ergänzende Anhangangaben zu Geschäften größeren Umfangs,
die Verpflichtung zur Führung getrennter Konten und zur Aufstellung von Tätigkeitsabschlüssen.
Sekundäre – erst vom deutschen Gesetzgeber entwickelte – Informationsinstrumente sind:
die Veröffentlichung der Tätigkeitsabschlüsse,
das Eingehen auf Tätigkeiten im Lagebericht sowie
die Veröffentlichung der „Geschäftsberichte“ im Internet.
IV. Kritische Betrachtung der originären Informationsfunktion der Rechnungslegung und buchhalterischen Entflechtung nach EnWG
Aus dem Katalog der Informationsinstrumente entfalten eine wesentliche Informationswirkung letztlich nur die Führung getrennter Konten und die Aufstellung von Tätigkeitsabschlüssen – relativiert durch die nachfolgend aufgeführten Einschränkungen. Denn es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Energieversorgungsunternehmen bereits aufgrund ihrer Rechtsform oder Größe die Rechnungslegungsvorschriften für Kapitalgesellschaften beachten muss und durch andere Informationsinstrumente – wie im Fall der Anhangangaben – nur punktuelle Zusatzinformationen geliefert werden.
Für die Aufstellung und Prüfung der Tätigkeitsabschlüsse sind gem. § 6b Abs. 3 Satz 6 EnWG, der auf die in „Absatz 1 Satz 1 genannten Vorschriften“ verweist, die „für Kapitalgesellschaften geltenden Vorschriften des Ersten, Dritten und Vierten Unterabschnitts des Zweiten Abschnitts des Dritten Buchs des Handelsgesetzbuchs“ zu beachten.
Auch nach der Gesetzesbegründung zum EnWG bestehen die Tätigkeitsabschlüsse „jeweils aus einer Bilanz und einer Gewinn- und Verlustrechnung; sie haben im Interesse der Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit denselben Anforderungen des Handelsgesetzbuchs zu genügen, wie wenn sie in den externen Jahresabschluss einzustellen wären“.