BGH Urteil v. - 3 StR 56/23

Schuldspruch eines Jugendlichen oder Heranwachsenden wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern: Anforderungen an die Prüfung der Schwere der Schuld

Gesetze: § 17 Abs 2 Alt 2 JGG, § 176 Abs 3 StGB vom

Instanzenzug: LG Aurich Az: 13 KLs 17/21

Gründe

1Die Jugendkammer hat den Angeklagten des sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen schuldig gesprochen. Sie hat ihn für die Dauer von sechs Monaten der Betreuung und Aufsicht durch die Jugendgerichtshilfe unterstellt und ihm aufgegeben, insgesamt vier Beratungsgespräche bei einem Psychotherapeuten und der Jugendberufsagentur wahrzunehmen sowie 80 Stunden gemeinnützige Arbeit binnen sechs Monaten ab Rechtskraft des Urteils abzuleisten.

2Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Sachrüge gestützten und auf den Rechtsfolgen-ausspruch beschränkten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

3Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen lebte der Angeklagte im elterlichen Bauernhaus. Eine Einliegerwohnung war an die Großeltern der am geborenen Geschädigten vermietet. Sie hielt sich nahezu täglich im Haus und häufig allein mit dem Angeklagten in dessen Zimmer auf. Er kannte das Mädchen, das ihm vertraute, seit dessen Geburt und spielte wiederholt „Vater-Mutter-Kind“ mit ihm. Im Tatzeitraum zwischen dem und dem - der Angeklagte war 17, die Geschädigte anfangs fünf, dann sechs Jahre alt - forderte er sie bei insgesamt vier Gelegenheiten innerhalb der Spielsituation dazu auf, seinen erigierten Penis mit den Händen zu umfassen, unter Zuhilfenahme seines Speichels durch Auf- und Abbewegungen zu stimulieren und in drei der Fälle außerdem am Glied zu lecken. Dem kam das Mädchen jeweils nach. Auf Bitte des Angeklagten nahm das Kind den Penis in einem der Fälle zudem in den Mund. Diese Handlungen führten zur sexuellen Stimulation des Angeklagten und in einem Fall zur Ejakulation.

4Das Landgericht hat die Verhängung einer Jugendstrafe geprüft, sich jedoch mangels schädlicher Neigungen (§ 17 Abs. 2 Alternative 1 JGG) und Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG) daran gehindert gesehen.

II.

5Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft erzielt keinen Erfolg; sie hat weder zum Vor- noch zum Nachteil des Angeklagten Fehler aufgedeckt (§ 301 StPO). Die Entscheidung des Landgerichts, keine Jugendstrafe zu verhängen, hält rechtlicher Überprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Revisionsführerin sind die Ausführungen zum Nichtvorhandensein von schädlichen Neigungen und Schuldschwere im Ergebnis nicht zu beanstanden.

61. Die Staatsanwaltschaft hat zunächst rechtliche Bedenken dahin erhoben, dass ein Persönlichkeitsmangel beim Angeklagten nicht nachvollziehbar ausgeschlossen worden sei. Das Tatbild offenbare - vor allem eingedenk der Wiederholungssituation - eine pädophile Veranlagung, die schädliche Neigungen nahelege.

7Die Jugendkammer hat indes schädliche Neigungen (zu deren Voraussetzungen s. etwa , NStZ-RR 2015, 154 mwN) im Wege einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten rechtsfehlerfrei verneint. Sie hat dies tragfähig damit begründet, dass sich der geständige Angeklagte sowohl vor als auch nach dem Tatzeitraum keines weiteren Delikts schuldig gemacht habe. Er sei altersgerecht sozialisiert, verfüge über einen großen, gleichaltrigen Freundeskreis sowie einen Schulabschluss, habe eineinhalb Jahre lang in einer Werft gearbeitet und verfolge nunmehr konkrete Pläne für den Beginn einer Ausbildung. In seiner Freizeit spiele er Fußball. Seine Sexualität sei an sich auf gleichaltrige Frauen ausgerichtet, mit denen er bereits intime Beziehungen geführt habe. Er distanziere sich vom Tatgeschehen und empfinde ehrliche Reue und Scham. Vor diesem Hintergrund hat die Jugendkammer die Überzeugung gewonnen, dass die Übergriffe ihren Ursprung nicht im Wesen oder einer Veranlagung des Angeklagten hatten, sondern in der sich jeweils in der Spielsituation bietenden Gelegenheit. Sie ist danach zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte keine Anlage- oder Erziehungsmängel aufweist und auch keiner längeren Gesamterziehung bedarf.

8Diese Würdigung lässt keinen wesentlichen Umstand außer Betracht. Das Landgericht hat insbesondere bedacht, dass der Angeklagte eine Mehrzahl an Taten beging.

92. Die Revisionsführerin hat darüber hinaus beanstandet, dass die Jugendkammer den Schuldgehalt der Taten unzutreffend erfasst und in der Folge die Schwere der Schuld zu Unrecht verneint habe. Weder die Spielsituation noch die fehlende Progredienz der Tathandlungen entlaste den Angeklagten. Das Landgericht habe auch nicht hinreichend geprüft, ob in einer Parallelwertung ein besonders schwerer Fall gemäß § 176 Abs. 3 StGB aF anzunehmen sei.

10Diese Einwände greifen ebenfalls nicht durch. Sie stützen sich auf einzelne, für sich genommen nicht unproblematische Formulierungen, die sich jedoch in der Gesamtheit der Urteilsgründe auflösen; diese dokumentieren eine sorgfältige und umfassende Abwägung. Im Einzelnen:

11a) Die Jugendkammer hat zunächst zutreffend erkannt, dass der Schuldgehalt der Tat eines Jugendlichen oder Heranwachsenden jugendspezifisch zu bestimmen ist. Für die Bemessung der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen, also darauf, inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit des Täters sowie seine Tatmotivation in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat ist dafür insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die innere Tatseite gezogen werden können. Besonders schwere Taten können die Schwere der Schuld indizieren (st. Rspr.; s. etwa , NStZ 2023, 428 Rn. 8 ff. mwN). Das gilt - worauf die Revision zutreffend hinweist - unter anderem regelmäßig für gravierende Sexualdelikte (vgl. , BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 5 Rn. 8; Urteile vom - 4 StR 457/14, NStZ 2016, 102; vom - 2 StR 295/21, juris Rn. 20, jeweils mwN), insbesondere den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern (, juris Rn. 33).

12b) Davon ausgehend hat die Jugendkammer in einem ersten Schritt das objektive Tatunrecht gewürdigt und es als erheblich eingestuft. Sie hat gesehen, dass die begangenen Delikte geeignet sind, das Leben der Geschädigten nachhaltig und nachteilig zu beeinflussen. Als objektiv schulderschwerend hat sie zutreffend bewertet, dass deren Alter deutlich unterhalb der Schutzaltersgrenze lag und es zu insgesamt vier Taten kam.

13Das Landgericht hat ferner ausdrücklich bedacht, dass der sexuelle Kindesmissbrauch im zur Tatzeit gültigen § 176 Abs. 3 StGB aF einen besonders schweren Fall mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr vorsah. In diesem Zusammenhang hat es „insbesondere“ die Tat in den Blick genommen, in der der Angeklagte mit seinem Glied in den Körper der Geschädigten eindrang. Diesen Umstand hat es als den Unrechtsgehalt zusätzlich maßgeblich erhöhend bewertet. Entgegen dem Revisionsvorbringen sind diese Formulierungen insgesamt dahin zu verstehen, dass die Jugendkammer sämtliche Taten der gebotenen Parallelwertung nach Erwachsenenstrafrecht unterzogen und (nur) den Oralverkehr als einen besonders schweren Fall im Sinne der Vorschrift eingeordnet hat (zur Notwendigkeit einer solchen Parallelwertung s. etwa BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 155, 156 mwN; vom - 3 StR 549/18, NStZ-RR 2019, 159 mwN).

14Schließlich hat die Jugendkammer geprüft, ob dem Angeklagten schulderhöhend eine Intensitätssteigerung vorzuwerfen ist. Dies hat sie verneint, weil sich keine Reihenfolge der Taten hat feststellen lassen. Dem ist im Ergebnis trotz auch hier nicht völlig klarer Wortwahl keine Würdigung als schuldmindernd zu entnehmen.

15c) In einem zweiten Schritt hat das Landgericht geprüft, in welchem Ausmaß die Taten die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit des Angeklagten offenbaren. Es hat dabei nicht verkannt, dass der festgestellte gravierende Unrechtsgehalt es zumindest nahelegt, die Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG anzunehmen. Gleichwohl ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass das Geschehen keinen Rückschluss auf eine besonders verwerfliche Gesinnung oder eine rohe, antisoziale Veranlagung des Angeklagten zulässt. Dies hat die Jugendkammer maßgeblich damit begründet, dass er vielfach mit der Geschädigten zu tun gehabt habe, wobei es zahlreiche Gelegenheiten zur Begehung gleichgelagerter Taten gegeben habe, die er nicht genutzt habe. Das zeige, dass er die Rollenspiele nicht initiiert habe, um das Kind sexuell missbrauchen zu können, sondern dass umgekehrt die Taten dem sich in Einzelfällen jeweils situationsbedingt bietenden Anlass gefolgt seien. Der Angeklagte führe ansonsten ein an üblichen gesellschaftlichen Normen ausgerichtetes Leben und habe diese für sich als richtig verinnerlicht.

16Auch diese Würdigung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Welche Bedeutung einzelnen Schuldzumessungsgesichtspunkten zukommt, hängt vom Einzelfall ab und ist der umfassenden Abwägung durch das Tatgericht überlassen (vgl. , NStZ 2018, 728, 729 mwN; vom - 3 StR 436/21, juris Rn. 17). Eine solche hat die Jugendkammer vorgenommen. Ihr Ergebnis ist deshalb aus revisionsrechtlicher Sicht hinzunehmen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:290623U3STR56.23.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-45530