Besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung wegen einer einfachen Körperverletzung
Gesetze: § 223 Abs 1 StGB, § 224 Abs 1 Nr 4 StGB, § 230 Abs 1 S 1 Halbs 2 StGB, § 349 Abs 2 StPO, § 17 Abs 2 Alt 1 JGG, § 105 Abs 2 JGG
Instanzenzug: Az: 31 KLs 29/21
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Raub und Freiheitsberaubung in Tateinheit mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung unter Einbeziehung eines Urteils des Amtsgerichts Unna vom zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet worden ist. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die Verfahrensrüge ist unausgeführt und daher nicht zulässig im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben worden.
32. Der Schuldspruch war, wie aus der Beschlussformel ersichtlich, abzuändern.
4a) Die tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB in Fall II. 2. der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, da insoweit ein Verfahrenshindernis besteht. Der Zeuge S. als Verletzter dieser Tat im Sinne von § 77 Abs. 1 StGB hat weder einen Strafantrag gestellt, noch hat die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 230 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StGB). Eine solche Erklärung ist auch nicht konkludent der Anklageschrift oder dem Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft zu entnehmen. Die Anklage umfasste in Fall II. 2. der Urteilsgründe nur den Vorwurf eines erpresserischen Menschenraubs gemäß § 239a Abs. 1 StGB in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Da es sich dabei jeweils um Offizialdelikte handelt, kann darin nicht die Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung auch wegen einer einfachen Körperverletzung für den Fall gesehen werden, dass das Gericht – wie hier – nicht von einer qualifizierten Tat ausgeht (st. Rspr.; vgl. , NStZ-RR 2017, 251, 252 Rn. 25; Beschluss vom – 2 StR 108/15 Rn. 4; Beschluss vom – 4 StR 247/13, NStZ-RR 2013, 349; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 230 Rn. 4; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 230 Rn. 39, jew. mwN). Auch der Schlussantrag der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft lässt nicht erkennen, dass er sich auf das Antragsdelikt bezog (vgl. Eschelbach in BeckOK-StGB, 56. Ed., § 230 Rn. 18.3 mwN).
5Zwar kann das besondere öffentliche Interesse auch noch nachträglich im Revisionsverfahren vom Generalbundesanwalt bejaht werden (st. Rspr.; vgl. bereits , BGHSt 6, 282, 284 f.; Urteil vom – 2 StR 208/64, BGHSt 19, 377, 381; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 230 Rn. 4 mwN), und zwar auch konkludent in der Antragsschrift nach § 349 Abs. 2 StPO (vgl. , NStZ 2001, 313; insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 46, 225). Ausreichende Anhaltspunkte für einen auf die tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung in Fall II. 2. der Urteilsgründe gerichteten Verfolgungswillen hat der Senat jedoch der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom nicht zu entnehmen vermocht.
6b) Der Senat lässt daher die tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung in Fall II. 2. der Urteilsgründe entfallen. Dieser Schuldspruchänderung steht die Vorschrift des § 265 Abs. 1 StPO nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
73. Der Strafausspruch hat keinen Bestand, da er in mehrfacher Hinsicht Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist.
8a) Das Landgericht hat zur Begründung des Vorliegens schädlicher Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 1, § 105 Abs. 2 JGG bei dem Angeklagten unter anderem angeführt, dass er in der Hauptverhandlung „trotz einer gewissen Unrechtseinsicht nach wie vor nicht die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen wollte“ und seine Einlassung „eine deutliche Beschönigung insbesondere des Tatgeschehens zu Ziffer II. 2.“ darstellte. Damit hat es gegen den auch im Jugendstrafecht geltenden Grundsatz verstoßen, dass zulässiges Verteidigungsverhalten nicht zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden darf (st. Rspr.; vgl. Rn. 2; Beschluss vom – 3 StR 336/08, NStZ-RR 2009, 148; Brögeler in BeckOK-JGG, 28. Ed., § 18 Rn. 18; Kölbel in Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 18 Rn. 31, jew. mwN).
9b) Auch die Ausführungen zu einem neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs eines am begangenen Raubes sind mangels näherer Feststellungen hierzu nicht nachvollziehbar und daher nicht zur Begründung dafür geeignet, dass die schädlichen Neigungen im maßgeblichen Urteilszeitpunkt noch fortbestanden (vgl. , NStZ 2016, 682; Beschluss vom – 2 StR 343/97 Rn. 3; Brögeler in BeckOK-JGG, 28. Ed., § 18 Rn. 19 mwN).
10c) Die knappen Ausführungen zur Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Unna vom gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1, § 105 Abs. 2 JGG lassen die gebotene neue, selbstständige und am Erziehungsgedanken orientierte Gesamtwürdigung aller der Einbeziehung unterliegenden Delikte vermissen (vgl. dazu Rn. 3; Beschluss vom – 4 StR 228/20, StV 2020, 683; Beschluss vom – 2 StR 162/08, NStZ 2009, 43; Beschluss vom – 1 StR 139/88, StV 1989, 308; Kölbel in Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 31 Rn. 63b mwN).
11d) Zudem hätte das Landgericht den Vollstreckungsstand der durch das Amtsgericht Unna am erteilten Weisung bzw. Auflage zur Erbringung von Arbeitsleistungen mitteilen müssen, um dem Senat die Überprüfung zu ermöglichen, ob die Nichteinbeziehung dieser früheren Verurteilung zu Recht erfolgt ist (vgl. Rn. 4; Beschluss vom – 6 StR 304/21 Rn. 4; Kölbel in Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 31 Rn. 63 mwN).
12e) Der Senat hebt daher den Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatgericht eine umfassende und widerspruchsfreie Strafzumessung zu ermöglichen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:130423B4STR499.22.1
Fundstelle(n):
TAAAJ-39679