BGH Urteil v. - X ZR 78/22

Entschädigungsfreier Rücktritt von einer Pauschalreise in die Türkei während der Corona-Pandemie

Gesetze: § 651g BGB, § 651h Abs 1 BGB, § 651h Abs 3 BGB, § 651h Abs 5 BGB, Art 12 Abs 2 EURL 2015/2302, Art 14 Abs 1 EURL 2015/2302

Instanzenzug: Az: 22 S 527/21vorgehend Az: 230 C 180/21

Tatbestand

1Die Klägerin beansprucht die Rückzahlung einer Anzahlung für eine Pauschalreise.

2Sie buchte am bei der Beklagten für sich, ihren Ehemann und ihr minderjähriges Kind eine Flugreise mit Hotelaufenthalt in die Provinz Antalya (Türkei), die vom 17. bis stattfinden und 2.149 Euro kosten sollte. Die Klägerin leistete eine Anzahlung in Höhe von 777 Euro.

3Bei dem Ehemann der Klägerin besteht aufgrund einer Vorerkrankung ein erhöhtes Risiko eines schweren Verlaufs einer Infektion mit Covid-19.

4Anfang August 2020 hob das Auswärtige Amt eine Reisewarnung wegen der Covid-19-Pandemie, die bis zu diesem Zeitpunkt für die gesamte Türkei galt, unter anderem für die Provinz Antalya auf. Das Robert-Koch-Institut stufte die gesamte Türkei weiterhin als Risikogebiet ein.

5Mit Schreiben vom stornierte die Klägerin die Reise unter Bezugnahme auf die pandemiebedingten Risiken am Urlaubsort und forderte die Beklagte zur Rückzahlung der Anzahlung auf. Die Beklagte teilte der Klägerin am mit, dass eine Unterbringung in dem gebuchten Hotel nicht möglich sei, aber eine gleichwertige Alternative zur Verfügung stehe.

6Das Amtsgericht hat die Beklagte zur Rückzahlung der geleisteten Anzahlung und zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren aus den Vorinstanzen weiter.

Gründe

7Die zulässige Revision hat keinen Erfolg.

8I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

9Das Amtsgericht habe zu Recht entschieden, dass die Klägerin von der gebuchten Pauschalreise gemäß § 651h Abs. 3 BGB ohne Entschädigungspflicht habe zurücktreten können.

10Bei der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie sei das Vorliegen von unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen am Urlaubsort zu bejahen. Die weitere Voraussetzung einer erheblichen Beeinträchtigung der Reisedurchführung oder der Beförderung der Reisenden zum Bestimmungsort sei zwar nicht aufgrund der in der Begründung des Amtsgerichts angeführten Tatsachen gegeben gewesen, folge aber daraus, dass das von der Klägerin gebuchte Hotel während des geplanten Aufenthalts geschlossen geblieben sei.

11Für einen kostenfreien Rücktritt genüge eine objektive Prognose, dass mit erheblicher Wahrscheinlichkeit unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe auftreten werden.

12Diese Prognose ergebe im Streitfall zwar nicht, dass die Klägerin und ihre Mitreisenden mit erheblicher Wahrscheinlichkeit an der gebuchten Reise nicht ohne erhebliche Beeinträchtigungen hätten teilnehmen können. Für den Reisezeitraum habe keine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes mehr für die Provinz Antalya bestanden. Die Klägerin habe keine konkreten Tatsachen vorgetragen, aus denen auf eine erhebliche Beeinträchtigung der gebuchten Reise habe geschlossen werden können. Hierfür reiche es entgegen der Auffassung des Amtsgerichts nicht aus, dass das Robert-Koch-Institut die gesamte Türkei weiterhin als Risikogebiet eingestuft habe. Der konkreteren und differenzierten Betrachtung des Auswärtigen Amtes sei der Vorzug zu geben. Eine positive Rücktrittsprognose lasse sich auch nicht auf eine mögliche erhebliche Gesundheitsgefährdung durch das Sars-CoV-2-Virus während der Anreise oder des Aufenthalts stützen, da die Reisenden dem Virus in ihrem Heimatland in gleichem Maße ausgesetzt gewesen seien. Die der Beklagten bei Vertragsschluss nicht bekannte Vorerkrankung des Ehemanns der Klägerin sei bei der Prognose nicht zu berücksichtigen, da sie seiner persönlichen Risikosphäre zuzuordnen sei.

13Gleichwohl sei ein entschädigungsfreier Rücktritt der Klägerin möglich gewesen, weil das gebuchte Hotel im Reisezeitraum pandemiebedingt nicht geöffnet gewesen sei. Die Unmöglichkeit der Unterbringung im gebuchten Hotel stelle eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise dar. Wegen der damit verbundenen erheblichen Eigenschaftsänderung habe die Klägerin ein kostenfreies Rücktrittsrecht nach § 651g Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 BGB und § 651h Abs. 1 Satz 2 und Abs. 5 BGB gehabt.

14II. Dies hält der rechtlichen Überprüfung jedenfalls im Ergebnis stand.

151. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil die Klägerin nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam vor Reisebeginn vom Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung der erbrachten Anzahlung verpflichtet.

162. Der Beklagten steht kein Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB zu, den sie dem Klageanspruch entgegenhalten könnte.

17Nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB kann der Reiseveranstalter bei einem Rücktritt des Reisenden vor Reiseantritt von diesem keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.

18a) Zutreffend hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Covid-19-Pandemie als Umstand im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB anzusehen ist, der grundsätzlich geeignet war, die Durchführung der Pauschalreise erheblich zu beinträchtigen (, NJW 2022, 3707 Rn. 24 und X ZR 84/21, NJW 2022, 3711 Rn. 23).

19Unvermeidbar und außergewöhnlich sind Umstände gemäß § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich darauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären.

20Diese Definition wurde aus Art. 3 Nr. 12 der Richtlinie (EU) 2015/2302 (im Folgenden: Richtlinie) übernommen. Erwägungsgrund 31 der Richtlinie nennt als Beispiele für solche Umstände Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus und erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie den Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen.

21Dass im Reisezeitraum (Oktober 2020) die Gefahr einer Erkrankung an Covid-19 ein nicht beherrschbares erhebliches Risiko für die menschliche Gesundheit darstellte, das dem normalen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innewohnte, und aufgrund der pandemischen Lage die Gefahr einer Infektion auf der gebuchten Pauschalreise bestand, zieht die Revision zu Recht nicht in Zweifel.

22b) Dagegen hält die Auffassung des Berufungsgerichts, im Zeitpunkt des Rücktritts habe keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestanden, dass die Durchführung der Reise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt werde, der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

23aa) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Tatbestand von § 651h Abs. 3 BGB erfüllt ist, wenn schon vor Beginn der Reise außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die Reise oder die Beförderung zum Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt ist.

24Eine erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB liegt nicht nur dann vor, wenn feststeht, dass die Durchführung der Reise nicht möglich ist oder zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit oder sonstiger Rechtsgüter des Reisenden führen würde. Wie sich insbesondere aus Erwägungsgrund 31 der Richtlinie ergibt, kann eine solche Beeinträchtigung schon dann zu bejahen sein, wenn die Durchführung der Reise aufgrund von außergewöhnlichen Umständen mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken in Bezug auf solche Rechtsgüter verbunden wäre. Die Beurteilung, ob solche Risiken bestehen, erfordert eine Prognose vor Reisebeginn.

25bb) Die Beurteilung, ob ein nicht zumutbares Risiko bestand, obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter. Die tatrichterliche Würdigung ist in der Revisionsinstanz lediglich darauf zu überprüfen, ob ein zutreffender rechtlicher Maßstab angelegt wurde, alle maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalls in die Würdigung eingeflossen sind, Denkgesetze und Erfahrungssätze berücksichtigt wurden und keinem Umstand eine offensichtlich unangemessene Bedeutung beigemessen wurde.

26Nach diesem Maßstab hält die Beurteilung des Berufungsgerichts, im Zeitpunkt des Rücktritts habe keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise bestanden, der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

27(1) Die Auffassung des Berufungsgerichts, angesichts des Umstands, dass das Auswärtige Amt am seine zuvor bestehende Reisewarnung zurückgenommen habe, sei der fortbestehenden Einstufung des Reiseziels als Risikogebiet durch das Robert-Koch-Institut keine Bedeutung beizumessen, trifft nicht zu.

28(a) Das Bestehen einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für den betreffenden Zeitraum stellt in der Regel ein erhebliches Indiz für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände am Bestimmungsort und eine Beeinträchtigung der Reise dadurch dar. Beeinträchtigungen durch außergewöhnliche Umstände im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB können aber auch dann vorliegen, wenn eine solche Warnung nicht ergangen ist (BGH, NJW 2022, 3707 Rn. 47 und NJW 2022, 3711 Rn. 29, jeweils mwN) oder aufgehoben wurde.

29Zu berücksichtigen sein können insbesondere auch Stellungnahmen fachkundiger Stellen wie etwa des Robert-Koch-Instituts oder der Weltgesundheitsorganisation, aber auch sonstige Äußerungen und Meldungen, die hinreichend zuverlässig Aufschluss über zu erwartende Gefahren und Beeinträchtigungen geben (BGH, NJW 2022, 3707 Rn. 48 und NJW 2022, 3711 Rn. 30).

30(b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt der Einstufung der gesamten Türkei als Risikogebiet, die im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung fortbestand, ungeachtet der Aufhebung der Reisewarnung durch das Auswärtige Amt Bedeutung für die Frage zu, ob mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Reise zu rechnen war.

31Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts als dringender Appell anzusehen, Reisen in das betreffende Gebiet zu unterlassen. Demgegenüber ist die Einstufung einer Region als Risikogebiet durch das Robert-Koch-Institut eine Empfehlung an den Reisenden, in eigener Verantwortung eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, ob er trotz bestehender Risiken eine Reise in diese Region antreten möchte.

32Bei der Prognose war auch zu berücksichtigen, dass die Gefahr sowohl einer Infektion als auch eines schweren Krankheitsverlaufs im Herbst 2020 durch das Fehlen einer Impfmöglichkeit und nicht gegebene Therapieoptionen erhöht war. Die Aufhebung der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für das gebuchte Reiseziel im Reisezeitraum führte vor diesem Hintergrund nicht dazu, dass die fortbestehende Einstufung der gesamten Türkei als Risikogebiet durch das Robert-Koch-Institut im Rahmen der vorzunehmenden Prognose keine Bedeutung mehr hatte.

33Das Berufungsgericht hat zudem nicht hinreichend berücksichtigt, dass nach seinen Feststellungen das Auswärtige Amt die Reisewarnung nur unter der Voraussetzung der strikten Einhaltung des von der türkischen Regierung verfügten umfassenden Tourismus- und Hygienekonzepts aufgehoben hat. Da Feststellungen des Berufungsgerichts dazu fehlen, ob zum Zeitpunkt des Rücktritts verlässliche Informationen hinsichtlich der Umsetzung dieses Konzepts vorlagen, lag auch deshalb nahe, dass sich die Reisenden weiterhin an der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts orientierten.

34(2) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise nicht deshalb zu verneinen, weil die Reisenden dem Virus in ihrem Heimatland in gleicher Weise ausgesetzt gewesen wären wie am Bestimmungsort.

35(a) Wie der Senat - nach Erlass des Berufungsurteils - entschieden hat, ist ein Entschädigungsanspruch auch dann ausgeschlossen, wenn dieselben oder vergleichbare Beeinträchtigungen im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie sowohl am Bestimmungsort als auch am Wohnort des Reisenden auftreten. Auch in dieser Konstellation ist eine Erbringung der vorgesehenen Leistung am Bestimmungsort nicht möglich. Dass diese Leistungen auch an anderen Orten nicht erbracht werden können, ist demgegenüber unerheblich (BGH, NJW 2022, 3707 Rn. 28).

36Der Umstand, dass die von einer Pandemie für den Reisenden ausgehenden Risiken im Falle einer Durchführung der Reise nicht höher sind als bei ihrer Nichtdurchführung, mag in einzelnen Konstellationen zwar dazu führen, dass es an einer erheblichen Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie fehlt.

37Ob eine pandemische Lage am Bestimmungsort eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise zur Folge hat, lässt sich nicht pauschal beantworten. Maßgeblich sind die Umstände des jeweiligen Falles, insbesondere die Gefahren, die dem Reisenden bei Durchführung der Reise drohen. Je nach Lage des Falles kann eine erhebliche Beeinträchtigung etwa zu verneinen sein, wenn die Teilnahme an der Reise mit keinem unzumutbaren Infektionsrisiko verbunden ist. Ein solches Risiko kann insbesondere dann ausgeschlossen sein, wenn ein engerer Kontakt mit anderen Reisenden oder sonstigen Personen nicht zu erwarten ist, zum Beispiel bei Unterkunft in Ferienhäusern oder -wohnungen und Anreise mit einem Mietwagen (BGH, NJW 2022, 3707 Rn. 37).

38Ist die Durchführung der Reise mit nicht zumutbaren Risiken verbunden, steht dem Reiseveranstalter demgegenüber nicht schon deshalb ein Entschädigungsanspruch zu, weil der Reisende vergleichbaren Risiken auch dann ausgesetzt wäre, wenn die Reiseleistungen an seinem Wohnort erbracht würden. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob es dem Reisenden zuzumuten ist, an der Reise trotz der damit verbundenen Beeinträchtigungen teilzunehmen. Sofern dies zu verneinen ist, kommt dem Umstand, welche Risiken dem Reisenden zu Hause drohen, keine eigenständige Bedeutung zu (BGH, NJW 2022, 3707 Rn. 38).

39(b) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat - im Zusammenhang mit einer Minderung des Reisepreises - entschieden, dass es für die Annahme einer Vertragswidrigkeit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen unerheblich ist, inwiefern auch am Wohnort des Reisenden entsprechende Einschränkungen angeordnet waren (, NJW 2023, 507 Rn. 33).

40Im Einklang damit ist auch die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Durchführung der Reise im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie durch pandemiebedingte Gefahren nicht dadurch ausgeschlossen, dass den Reisenden an ihrem Heimatort ebenfalls Gefährdungen durch Folgen der Pandemie drohten.

41(3) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist zudem die Vorerkrankung des Ehemanns der Klägerin im Rahmen der Prognose zu berücksichtigen.

42(a) Auch in diesem Zusammenhang braucht nicht abschließend geklärt zu werden, inwieweit bei der Beurteilung der Frage, ob die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt ist, individuelle Verhältnisse oder Eigenschaften des Reisenden zu berücksichtigen sind. In die Abwägung einzubeziehen sind solche Besonderheiten jedenfalls dann, wenn sie für die Durchführbarkeit der Reise erst aufgrund der außergewöhnlichen Umstände im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie Bedeutung gewinnen und die daraus resultierenden Gefahren für den Reisenden dem gewöhnlichen Reisebetrieb im Buchungszeitpunkt noch nicht innegewohnt haben (so zum Alter des Reisenden als risikoerhöhendem Faktor BGH, NJW 2022, 3707 Rn. 63).

43(b) Eine solche Konstellation liegt im Streitfall vor.

44Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, dass zum Zeitpunkt der Buchung die Vorerkrankung des Ehemanns der Klägerin einer Teilnahme an der Reise nicht entgegengestanden hätte. Die Pandemie und die daraus resultierenden Risiken haben demgegenüber dazu geführt, dass der Ehemann der Klägerin zu einer Personengruppe gehört, für die die Reise mit besonderen Gefahren verbunden war. Mit der Berücksichtigung dieser Veränderung wird nicht auf individuelle Verhältnisse abgestellt, die allein der Risikosphäre der Klägerin und ihres Ehemannes zuzurechnen sind, sondern auf objektive Umstände, die den Charakter der Reise verändert haben und deshalb in die durch § 651h Abs. 3 BGB und Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie definierte Risikosphäre der Beklagten fallen.

45c) Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht zu erwarten sind, kann der Senat selbst entscheiden, dass unter Einbeziehung der genannten Gesichtspunkte in die Prognose schon zum Zeitpunkt des Rücktritts der Klägerin mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von einer erheblichen Beeinträchtigung der von ihr gebuchten Reise durch die Pandemie auszugehen war.

46Zwar gehörte nur der Ehemann der Klägerin aufgrund seiner Vorerkrankung zu der besonders gefährdeten Risikogruppe. Angesichts der Buchung der Reise für die gesamte Familie mit einem minderjährigen Kind und der erheblichen Gesundheitsgefährdung eines Familienmitglieds konnten aber alle drei Angehörigen entschädigungsfrei von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten.

47d) Danach kommt es auf die Frage, ob die Schließung des gebuchten Hotels, auf die das Berufungsgericht maßgeblich abgestellt hat, eine erhebliche Beeinträchtigung der gebuchten Reise bedeutet (dazu BGH, NJW 2022, 3711 Rn. 34), nicht an.

48III. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.

49Auf die Frage nach der Berücksichtigung nachträglich eingetretener Umstände bei der Prognose im Rahmen des § 651h Abs. 3 BGB, die der Senat dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat (Beschluss vom - X ZR 53/21, MDR 2022, 1134; Rechtssache C-584/22), kommt es bei dieser Sachlage nicht an.

50Die für die Entscheidung des Streitfalls erheblichen Fragen sind zum Teil bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt und im Übrigen angesichts von Systematik und Zweck von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte clair", vgl. dazu 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 16 - C.I.L.F.I.T.).

51Dass die Fragen in der Instanzrechtsprechung unterschiedlich beurteilt werden und einzelne Gerichte vergleichbare Fragen bereits dem Gerichtshof vorgelegt haben, begründet für sich gesehen keine relevanten Zweifel an der Richtigkeit dieses Verständnisses.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:280323UXZR78.22.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-38681