BVerwG Urteil v. - 9 C 4/21

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 15 A 4037/19 Urteilvorgehend Az: 17 K 10264/17 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag für die Herstellung einer Erschließungsanlage im Stadtgebiet der Beklagten.

2Der Kläger ist Eigentümer zweier Grundstücke, die an einen Bereich der Straße "H.platz" angrenzen, der unter der Abschnittsbezeichnung "Hauptzug" als selbständige Erschließungsanlage Gegenstand der streitigen Beitragserhebung ist. Der Hauptzug (mitsamt eines "S.wegs" und einer "G.straße") führt um eine mittig als Parkplatz genutzte Fläche herum und ermöglicht so die Zufahrt zu Garagen im rückwärtigen Bereich der entsprechenden Grundstücke.

3Die Planung des "Hauptzugs" beruht auf dem am in Kraft getretenen Bebauungsplan Nr. ... In der Planzeichnung ist auf dem Grundstück N.straße ... u. a. ein Bestandsgebäude dargestellt, das mit einer maximal 10 qm großen Dreiecksfläche über die Straßenbegrenzungslinie hinaus in die Verkehrsfläche hineinragt. Dabei handelt es sich um eine 1958 errichtete LKW-Garage. Die näheren Einzelheiten der Flächenverteilung und -gestaltung des Plangebiets wurden in einem Gestaltungskonzept der Verwaltung vom konkretisiert, dem der (damals zuständige) Hauptausschuss des Rates im Juni 1978 zustimmte. Es sah unter anderem vom Zufahrtsbereich N.straße bis zur Abzweigung S.straße einen beidseitigen Gehweg vor, wobei auch in dieser Zeichnung ein Teil des Gebäudes auf dem Grundstück N.straße ... in den auszubauenden Bereich des nördlichen Gehwegs hineinragt.

4Die Bauarbeiten für den Straßenbau begannen im Jahr 1978. Im Folgejahr wurde der Gehweg im Zufahrtsbereich unter Aussparung der überstehenden Gebäudeecke der LKW-Garage angelegt. Die Herstellung des Straßenbegleitgrüns und der Beleuchtung folgte zwischen 1979 und 1980. Seitdem ist der Ausbauzustand des hier streitgegenständlichen Teils des H.platzes einschließlich der Bestandsgarage auf dem Grundstück N.straße ... unverändert.

5Während die Beklagte im Jahr 1983 den Ausbau der überbauten Dreiecksfläche aus Verkehrssicherheitsgründen noch für erforderlich hielt, vermerkte sie am , dass auf einen weiteren Ausbau verzichtet werden könne, da für die angetroffenen Verkehrsverhältnisse ein einseitig durchgehender Gehweg ausreichend sei. Eine Bebauungsplanänderung sowie der Erwerb der überbauten Dreiecksfläche wurden dementsprechend nicht mehr weiterverfolgt.

6Im Jahr 2015 vermerkte die Beklagte - wie schon 2013 -, dass es hinsichtlich der Gebäudeecke noch an der Erfüllung des Bauprogramms fehle. Realistischer als eine Beseitigung der Gebäudeecke sei eine Anpassung der Ausbauplanung an den vorhandenen Bestand. Mit Beschluss vom stimmte die nunmehr zuständige Bezirksvertretung B. daraufhin "der geänderten Straßenplanung für den H.platz gemäß dem vorhandenen Ausbau" zu (sog. Anpassungsbeschluss).

7Nach einer Schlussvermessung der als Verkehrsfläche ausgebauten Flächen und deren Eintragung im Grundbuch, wobei die überbaute Dreiecksfläche ausgespart wurde, vermerkte die Beklagte am , dass die Beitragspflicht nunmehr entstanden sei. Nach Anhörung setzte sie mit Bescheid vom gegenüber dem Kläger einen Erschließungsbeitrag in Höhe von 39 731,47 € fest. Mit Urteil vom hob das Verwaltungsgericht Köln den Beitragsbescheid auf, weil einer Beitragserhebung der Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit entgegenstehe.

8Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen wies die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung der Beklagten mit Urteil vom zurück. Der angefochtene Bescheid sei dem Grunde nach rechtswidrig. Das nordrhein-westfälische Kommunalabgabengesetz verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, weil und soweit es nach dem Eintritt der Vorteilslage eine zeitlich unbegrenzte Beitragserhebung erlaube. Die Verfassungswidrigkeit komme jedoch nicht entscheidungserheblich zum Tragen, weil jedenfalls mehr als 30 Jahre nach Eintritt der Vorteilslage eine Erhebung von Erschließungsbeiträgen in analoger Anwendung von § 53 VwVfG NRW in Verbindung mit dem Grundsatz von Treu und Glauben unzulässig sei. Dies sei hier der Fall, weil die Vorteilslage mit Abschluss der maßgeblichen Bauarbeiten im Jahr 1980 eingetreten sei.

9Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision. Während des Revisionsverfahrens trat am das Dritte Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Baugesetzbuches in Nordrhein-Westfalen (BauGB-AG NRW) vom (GV. NRW. S. 671) in Kraft, das mit dem neuen § 3 "Zeitliche Obergrenze für den Vorteilsausgleich von Erschließungsbeiträgen nach BauGB" Ausschlussfristen für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen einführte.

10Die Beklagte hält die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts weiterhin für falsch und rügt insbesondere eine Verletzung der §§ 127 ff. BauGB in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, weil das Oberverwaltungsgericht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung für den Eintritt der Vorteilslage eine vollständige Umsetzung des Bauprogramms für nicht erforderlich erachtet habe. Zudem komme die angenommene Analogie zu § 53 VwVfG NRW nicht in Betracht. Die Neuregelung des § 3 BauGB-AG NRW habe keine Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren. Es spreche schon einiges dafür, dass sie vorliegend nicht anwendbar sei, weil die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich sein dürfte. Jedenfalls aber stehe sie der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids nicht entgegen. Die in § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW geregelte Ausschlussfrist sei nicht einschlägig, weil die Vorteilslage erst mit Änderung der Ausbauplanung durch den Anpassungsbeschluss vom eingetreten sei.

11Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom und des Verwaltungsgerichts Köln vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

12Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

13Er hält die angegriffene Entscheidung im Ergebnis für richtig. Die Neuregelung des § 3 BauGB-AG NRW sei anwendbar, vorliegend greife jedenfalls die Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW ein.

Gründe

14Die zulässige Revision ist unbegründet.

15Mit Inkrafttreten der Neuregelung in § 3 des Gesetzes zur Ausführung des Baugesetzbuches in Nordrhein-Westfalen (BauGB-AG NRW), die auch dem vorliegenden Fall zugrunde zu legen ist (1.), ist zwar der entscheidungstragenden Argumentation des Oberverwaltungsgerichts zum Bestehen einer verfassungswidrigen Regelungslücke die Grundlage entzogen worden. Das Urteil erweist sich aber dennoch im Ergebnis als richtig, weil der angefochtene Bescheid nunmehr wegen Eingreifens der Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BauGB-AG NRW rechtswidrig ist (2.). Die Revision ist deshalb gemäß § 144 Abs. 4 VwGO zurückzuweisen.

161. Am ist das Dritte Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Baugesetzbuches in Nordrhein-Westfalen vom (GV. NRW. S. 671) in Kraft getreten, durch das mit dem neuen § 3 BauGB-AG NRW eine Regelung über die "Zeitliche Obergrenze für den Vorteilsausgleich von Erschließungsbeiträgen nach BauGB" eingeführt wurde. Die hier maßgeblichen Bestimmungen in § 3 Abs. 1 und 2 BauGB-AG NRW lauten (auszugsweise):

(1) Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach § 127 des Baugesetzbuches ... durch die Gemeinden erfolgt auf der Grundlage des Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen ... mit der Maßgabe, dass ihre Festsetzung unabhängig vom Entstehen der Beitragspflicht mit Ablauf des zehnten Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, ausgeschlossen ist.

(2) 1Für Erschließungsbeitragsbescheide, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens von Absatz 1 noch nicht bestandskräftig waren, beträgt die Frist 20 Jahre. 2Diese Frist gilt auch für das Erheben von Erschließungsbeiträgen, wenn die Vorteilslage im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bereits besteht.

17Diese Neuregelung ist auch im vorliegenden Revisionsverfahren zu berücksichtigen.

18Rechtsänderungen, die nach Erlass der Berufungsentscheidung eintreten, sind im Revisionsverfahren dann beachtlich, wenn das Berufungsgericht, entschiede es jetzt anstelle des Revisionsgerichts, sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. nur 7 C 7.14 - Buchholz 451.91 Europ. UmweltR Nr. 65 Rn. 14 m. w. N.). Ob das der Fall ist, bestimmt sich unabhängig von der prozessualen Konstellation und der gewählten Klageart nach dem materiellen Recht. Dabei sind maßgeblich für die Entscheidung eines Gerichts diejenigen Rechtsvorschriften, die im Zeitpunkt der Entscheidung für die Beurteilung des Klagebegehrens Geltung beanspruchen (vgl. 3 C 17.92 - BVerwGE 97, 79 <81 f.> und vom - 9 C 7.08 - Buchholz 401.61 Zweitwohnungssteuer Nr. 28 Rn. 19). Dies ist bei der vorliegend einschlägigen Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BauGB-AG NRW der Fall.

19Die Fristenregelung in § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW findet ausdrücklich Anwendung auf noch nicht bestandskräftige Erschließungsbeitragsbescheide (Satz 1) und erfasst Vorteilslagen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits bestehen (Satz 2). Die damit verbundene Rückwirkung entspricht dem erklärten Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragen und den im Beschluss vom - 1 BvL 1/19 - (BVerfGE 159, 183) formulierten Anforderungen entsprechen, indem für das Erschließungsbeitragsrecht rückwirkend eine verfassungsgemäße Rechtslage für alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen hergestellt werden sollte (vgl. LT-Drs. 17/16553 S. 2, 9).

20Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW bestehen vor diesem Hintergrund nicht, die Rückwirkung der Regelung ist vielmehr verfassungsrechtlich geboten (vgl. - BVerfGE 159, 183 Rn. 92). Auch die Länge der Frist von 20 Jahren begegnet keinen Bedenken. Anknüpfungspunkt für den Beginn dieser Frist ist, wie sich aus der Zusammenschau mit Absatz 1 ergibt, der Eintritt der Vorteilslage, so dass die Vorschrift entgegen den von der Beklagten geäußerten Bedenken auch hinreichend bestimmt ist.

212. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts erweist sich im Ergebnis als richtig, weil der angefochtene Bescheid auch unter Zugrundelegung des § 3 BauGB-AG NRW rechtswidrig ist. Denn die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ist nach § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BauGB-AG NRW ausgeschlossen. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass die maßgebliche Vorteilslage im Jahr 1980 eingetreten ist (a), ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden (b). Die zwanzigjährige Ausschlussfrist war daher bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids am abgelaufen (c).

22a) Mit der Neuregelung des § 3 BauGB-AG NRW hat der für die Festsetzung der Ausschlussfrist zuständige Landesgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen jedenfalls für das Erschließungsbeitragsrecht die nach dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verfassungsrechtlich gebotene zeitliche Begrenzung für die Erhebung vorteilsausgleichender kommunaler Abgaben geschaffen (vgl. dazu grundlegend - BVerfGE 133, 143). Einschlägig ist hier § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW, der in Anknüpfung an den Eintritt der Vorteilslage für "Altfälle", in denen bei Inkrafttreten der Regelung am Erschließungsbeitragsbescheide noch nicht bestandskräftig waren (Satz 1) oder die Vorteilslage bereits bestand (Satz 2), eine Frist von 20 Jahren nach Eintritt der Vorteilslage bestimmt, nach deren Ablauf die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ausgeschlossen ist. Die Voraussetzungen dieser Regelung liegen vor, weil nach den zugrunde zu legenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts die Vorteilslage im Jahr 1980 eingetreten ist und die zwanzigjährige Ausschlussfrist daher bei Bescheiderlass im Jahr 2017 abgelaufen war.

23aa) Das Oberverwaltungsgericht hat zur Bestimmung der Vorteilslage zunächst auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurückgegriffen. Danach kommt es im Erschließungsbeitragsrecht für das Entstehen der für die zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung relevanten Vorteilslage maßgeblich auf die tatsächliche - bautechnische - Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an, nicht jedoch darauf, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht - etwa die Widmung der Straße oder die Wirksamkeit der Beitragssatzung - vorliegen. Beurteilungsmaßstab dafür ist die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage. Entscheidend ist, ob die Anlage sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung nur provisorisch her- oder schon endgültig technisch fertiggestellt ist, d. h. dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht (vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58 Rn. 55 und vom - 9 B 53.18 - juris Rn. 7).

24Diesen Maßstab hat das Oberverwaltungsgericht auch im vorliegenden Fall zugrunde gelegt, aber eine Ausnahme vom Erfordernis der vollständigen Erfüllung des Ausbauprogramms unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit für geboten erachtet. Danach sei es unter dem Blickwinkel der Erkennbarkeit ausreichend, wenn die unmittelbar in der Erschließungsbeitragssatzung definierten Herstellungsmerkmale erfüllt seien, eine zweckentsprechende Anlagennutzung möglich sei, die Anlage aus Sicht eines objektiven Betrachters endgültig fertiggestellt erscheine und ein solcher nur durch das Studium des unveröffentlichten Bauprogramms von der mangelnden Umsetzung Kenntnis erlangen könnte. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Berufungsgericht im Streitfall bejaht.

25bb) Diese Ausführungen beziehen sich zwar nicht unmittelbar auf die Auslegung und Anwendung des - zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht geltenden - § 3 BauGB-AG NRW. Der Sache nach geht es aber um die Bestimmung der Vorteilslage, die im Hinblick auf das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Bestimmung einer zeitlichen Höchstfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ist. Dies entspricht gerade der Funktion, die auch der Vorteilslage im Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 und 2 BauGB-AG NRW nach dem Willen des Gesetzgebers zukommt. Dementsprechend hat das Oberverwaltungsgericht mittlerweile klargestellt, dass sein im vorliegenden Fall entwickeltes Verständnis vom Begriff der Vorteilslage auch im Rahmen von § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW gilt und die Abweichung von der vollständigen Erfüllung des Ausbauprogramms den "Sonderfall geringfügiger Abweichungen vom Bauprogramm" betrifft ( - juris Rn. 65 f.).

26Einen derartigen "Sonderfall" hat das Oberverwaltungsgericht hier angenommen und auf dieser Grundlage den Eintritt der Vorteilslage im Jahr 1980 festgestellt, weil die abgerechnete Erschließungsanlage bis zum Anpassungsbeschluss im Jahr 2016 wegen der in den Gehweg hineinragenden Gebäudeecke möglicherweise nicht im notwendigen Umfang die erforderlichen Teileinrichtungen des Bauprogramms aufwies, aber jedenfalls die oben genannten Voraussetzungen für eine geringfügige Abweichung vorlägen.

27b) Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass die Vorteilslage trotz der nicht vollständigen Erfüllung des gemeindlichen Gestaltungsprogramms bereits im Jahr 1980 eingetreten ist, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

28aa) Der Begriff der Vorteilslage als Ausgangspunkt für die Berechnung der landesrechtlichen Ausschlussfrist nach § 3 Abs. 1 und 2 BauGB-AG NRW ist im Gesetz nicht definiert; die Auslegung und Anwendung dieser landesrechtlichen Regelung obliegt grundsätzlich dem Oberverwaltungsgericht. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob die Anforderungen, die sich aus dem Bundes(verfassungs)recht ergeben, beachtet worden sind. Maßstab ist hier insbesondere das Verfassungsgebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, dem die landesgesetzliche Regelung gerade Rechnung tragen soll.

29Das im Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz des Vertrauensschutzes wurzelnde Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit soll gewährleisten, dass in Fällen, in denen die abzugeltende Vorteilslage in tatsächlicher Hinsicht eingetreten ist, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können, die Möglichkeit der Beitragserhebung gleichwohl zeitlich begrenzt ist. Maßgebend ist dabei der Begriff der Vorteilslage. Dessen nähere Bestimmung richtet sich nach der jeweils abzugeltenden Leistung, im Erschließungsbeitragsrecht also nach dem durch die Erschließung vermittelten Vorteil i. S. d. §§ 127 ff. BauGB; Anknüpfungspunkt ist dabei ein in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossener Vorgang ( - BVerfGE 159, 183 Rn. 68). Die Vorteilslage muss an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht außer Betracht lassen. Bei Beachtung dieser Vorgaben steht den Fachgerichten im Rahmen der grundgesetzlichen Bindungen ein Spielraum zu, der in verfassungsrechtlicher Hinsicht nur eingeschränkt überprüfbar ist ( - BVerfGE 159, 183 Rn. 69).

30bb) Diesen Spielraum hat das Oberverwaltungsgericht hier im Ergebnis nicht überschritten.

31Die oben zitierte, auch vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es für das Entstehen der Vorteilslage maßgeblich auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme ankommt und die Vorteilslage eingetreten ist, wenn dem gemeindlichen Bauprogramm und dem technischen Ausbauprogramm entsprochen wurde, ist vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gebilligt worden. Sie konkretisiert die Anforderungen an die Entstehung der erschließungsrechtlichen Vorteilslage aus der Perspektive des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ( - BVerfGE 159, 183 Rn. 71).

32Mit dem Erfordernis der - vollständigen - Erfüllung des Bauprogramms greift die Rechtsprechung zur Bestimmung des relevanten abgeschlossenen Vorgangs auf den Begriff der "endgültigen Herstellung" der Erschließungsanlage als Voraussetzung für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht nach § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB zurück. Danach ist eine Anbaustraße erschließungsbeitragsrechtlich endgültig hergestellt, wenn sie die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm (für die nicht flächenmäßigen Teileinrichtungen) und dem ergänzenden Bauprogramm (bezüglich der flächenmäßigen Teileinrichtungen) erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Ausbauprogramm entsprechen (vgl. nur 8 C 13.94 - BVerwGE 99, 308 <313>). Die vollständige Umsetzung des gemeindlichen Bauprogramms und des technischen Ausbauprogramms ist eine Voraussetzung, die in tatsächlicher Hinsicht vorliegen muss, damit die Erschließungsanlage endgültig hergestellt und der durch sie vermittelte Vorteil tatsächlich vollumfänglich nutzbar ist. Vor diesem Hintergrund ist es sachgerecht, dass die Rechtsprechung auch den Eintritt der für die zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung relevanten Vorteilslage davon abhängig macht.

33Zu diesem Grundsatz steht die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht im Widerspruch. Der Überlegung, dass die Vorteilslage erst mit der vollständigen Umsetzung des gemeindlichen Bauprogramms eintritt, liegt die Erwartung zugrunde, dass bei etwaigen Abweichungen vom Bauprogramm grundsätzlich noch mit dessen zukünftiger Verwirklichung durch entsprechende Anpassung der tatsächlichen Verhältnisse an die Planung zu rechnen und der abweichende Zustand der Erschließungsanlage insoweit nur vorübergehender Natur ist. Anders liegt der Fall, wenn aufgrund des langen Zeitablaufs feststeht, dass mit einer Änderung nicht mehr gerechnet werden kann. In diesem Fall wächst die zunächst nur teilweise, unvollständig oder in anderer Weise planabweichend hergestellte Anlage in eine selbständige Erschließungsanlage hinein. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass beitragsfähige Erschließungsanlage die Anlage in ihrem tatsächlich angelegten Umfang ist; maßgebend für die Bestimmung der Erschließungsanlage ist das durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägte Erscheinungsbild, nicht aber eine nur "auf dem Papier" stehende planerische Festsetzung (vgl. 8 C 56.89 - BVerwGE 88, 53 <55 f.> und vom - 8 C 14.92 - BVerwGE 95, 176 <185>). Der Umstand, dass eine Anlage über viele Jahre nicht weitergebaut wird, kann den Schluss rechtfertigen, dass die seinerzeitigen Ausbauarbeiten endgültig beendet worden sind (vgl. 9 C 11.15 - BVerwGE 155, 171 Rn. 28, vom - 9 C 25.15 - BVerwGE 156, 326 Rn. 26 und vom - 9 C 20.15 - BVerwGE 158, 163 Rn. 14). Dass in einem solchen Fall die Vorteilslage trotz Abweichung vom ursprünglichen Bauprogramm eintreten kann, hat auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt ( - BVerfGE 159, 183 Rn. 75). Maßgebend für diese Fallkonstellation ist, dass das ursprüngliche Bauprogramm tatsächlich aufgegeben worden ist. Der Beschluss, mit dem die Planung an den vorhandenen Zustand angepasst wird, vollzieht dann nur noch zum Zweck der Abrechenbarkeit die bereits abgeschlossene tatsächliche Entwicklung nach und bildet den rechtlichen Schlusspunkt.

34cc) Nach den im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts liegt hier eine solche Fallgestaltung vor. Danach hat sich seit Abschluss der Bauarbeiten im Jahr 1980 der Ausbauzustand der Erschließungsanlage H.platz - Hauptzug nicht mehr verändert. Die Beklagte selbst ging über viele Jahre (so schon im Vermerk vom ) davon aus, dass auf einen weiteren Ausbau an der Stelle der überstehenden Gebäudeecke verzichtet werden könnte, und verfolgte ihre ursprünglichen Ausbaupläne nicht weiter. Eine Veränderung des tatsächlichen Zustands der Erschließungsanlage durch nachträgliche Anpassung an das Gestaltungsprogramm stand nicht ernsthaft in Rede. Die Beklagte beabsichtigte vielmehr - wie insbesondere im Vermerk von 2015 zum Ausdruck kommt - den Erlass eines Anpassungsbeschlusses, um das Bauprogramm in Übereinstimmung mit dem verwirklichten Ausbauzustand zu bringen.

35Auf dieser Sachverhaltsgrundlage durfte das Oberverwaltungsgericht davon ausgehen, dass mit dem Abschluss der Baumaßnahmen im Jahr 1980 die Herstellung der Erschließungsanlage in tatsächlicher Hinsicht endgültig abgeschlossen und die Vorteilslage eingetreten war.

36c) Ausgehend von einem Eintritt der Vorteilslage im Jahr 1980 ist die Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 BauGB-AG NRW mit Ablauf des zwanzigsten darauf folgenden Kalenderjahres und damit mit dem Ende des Jahres 2000 abgelaufen, so dass bei Erlass des streitgegenständlichen Erschließungsbeitragsbescheids im Jahr 2017 die Erhebung von Erschließungsbeiträgen gemäß § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BauGB-AG NRW ausgeschlossen war.

373. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:151122U9C4.21.0

Fundstelle(n):
SAAAJ-38437