BVerwG Urteil v. - 8 CN 1/22

Kein Ausschluss der Wählbarkeit zu einem Integrationsbeirat bei Fehlen eines gesicherten Aufenthaltsrechts

Leitsatz

1. Eine Satzungsregelung, die die Wählbarkeit zu einem kommunalen Integrationsbeirat auf Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder einem gesicherten Aufenthaltsrecht im Sinne unionsrechtlicher Freizügigkeitsberechtigung oder einer Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz beschränkt, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

2. Eine satzungsrechtliche Ungleichbehandlung nach der voraussichtlichen Bleibedauer im Inland darf - unabhängig von der Frage ihrer Zulässigkeit im Übrigen - nicht an den Aufenthaltsstatus als Differenzierungskriterium anknüpfen; dieser eignet sich nicht als Grundlage einer Prognose der tatsächlichen Dauer des Aufenthalts in Deutschland.

Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, Art 3 Abs 3 GG, Art 18 Abs 1 Verf SN, § 25 Abs 5 AufenthG 2004, § 264 Nr 3 ZPO, § 560 ZPO, § 42 Abs 2 VwGO, § 47 Abs 2 S 1 VwGO, § 142 Abs 1 S 1 VwGO, § 144 Abs 3 S 1 Nr 1 VwGO, § 43 Abs 1 S 1 LKreisO SN 2014

Instanzenzug: Sächsisches Oberverwaltungsgericht Az: 4 C 20/19 Urteil

Tatbestand

1Die Antragsteller wenden sich gegen eine Satzungsregelung des Antragsgegners, nach der Personen mit Migrationshintergrund zum Integrationsbeirat des Antragsgegners nur wählbar sind, wenn sie über die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein - näher definiertes - gesichertes Aufenthaltsrecht verfügen.

2Im Oktober 2015 richtete der Antragsgegner gestützt auf § 43 Abs. 1 Satz 1 der Sächsischen Landkreisordnung - SächsLKrO - einen Integrationsbeirat ein. Aufgaben und Ziele, Zusammensetzung und Geschäftsgang wurden in der Ordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirates im Landkreis Leipzig - IBO - vom (ABl. Nr. 12/2015 S. 17) geregelt. § 1 Abs. 1 IBO sah vor, dass der Integrationsbeirat den Kreistag in Fragen berät, die die Menschen mit Migrationshintergrund in seinem Gebiet berühren, die Integration im Landkreis lebender Personen mit Migrationshintergrund aktiv fördert und sie ermuntert, Integrationsangebote zu nutzen. § 2 Abs. 1 Buchst. c IBO bestimmte, dass dem Integrationsbeirat auch zwei im Landkreis lebende Personen mit Migrationshintergrund angehören sollten.

3Im September 2018 fasste der Antragsgegner § 2 Abs. 1 Buchst. c IBO neu. Dem Integrationsbeirat sollten zukünftig drei seiner Einwohner "mit Migrationshintergrund und deutscher Staatsangehörigkeit oder gesichertem Aufenthaltsrecht, d. h. ausländische Personen mit Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis, freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger/innen und freizügigkeitsberechtigte ausländische Angehörige von EU-Bürger/innen" angehören.

4Die Antragsteller sind pakistanische Staatsangehörige, die im Gebiet des Antragsgegners wohnen. Nach rechtskräftiger Ablehnung ihrer Asylanträge erhielten sie regelmäßig verlängerte Duldungen.

5Am haben sie beim Oberverwaltungsgericht einen Normenkontrollantrag gegen § 2 Abs. 1 Buchst. c IBO in der Neufassung von 2018 gestellt. Zur Begründung haben sie ausgeführt, es verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 18 SächsVerf, Personen mit Migrationshintergrund ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder gesichertes Aufenthaltsrecht von der Wählbarkeit zum Integrationsbeirat auszuschließen.

6Das Oberverwaltungsgericht hat den Antrag mit Urteil vom abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Antragsgegner habe das ihm durch § 43 Abs. 1 SächsLKrO eingeräumte Ermessen bei der Ausgestaltung des Integrationsbeirates in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Insbesondere verstoße die Ermessensausübung nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 18 Abs. 1 SächsVerf. Dessen Anforderungen gingen vorliegend nicht über das bloße Willkürverbot hinaus. Freiheitsrechte der Antragsteller seien nicht betroffen. Das Differenzierungskriterium des gesicherten Aufenthaltsrechts knüpfe weder an ein persönliches Merkmal an, das für die Antragsteller nur schwer verfügbar sei, noch weise es eine Nähe zu Art. 3 Abs. 3 GG auf. Die Wählbarkeit von Einwohnern mit Migrationshintergrund auf solche zu beschränken, die deutsche Staatsangehörige seien oder über ein gesichertes Aufenthaltsrecht verfügten, sei gerechtfertigt, weil bei Ausländern ohne gesichertes Aufenthaltsrecht grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden könne, dass sie mittel- oder längerfristige Vorhaben der Integrationsarbeit begleiten könnten.

7Im Juli 2021 hat der Antragsgegner die Wählbarkeit zum Integrationsbeirat in seiner Hauptsatzung geregelt. § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung bestimmt seitdem, dass dem Integrationsbeirat drei Einwohner des Antragsgegners mit Migrationshintergrund und deutscher Staatsangehörigkeit oder gesichertem Aufenthaltsrecht, "d. h. ausländische Personen mit Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis, freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger und freizügigkeitsberechtigte ausländische Angehörige von EU-Bürgern" angehören. Im Oktober 2021 hat der Antragsgegner die Ordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirates im Landkreis Leipzig aufgehoben.

8Die Antragsteller haben ihren Normenkontrollantrag daraufhin auf § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners umgestellt und tragen zur Begründung ihrer Revision vor, die Vorschrift verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit sie Personen mit Migrationshintergrund ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder gesichertes Aufenthaltsrecht von der Wählbarkeit zum Integrationsbeirat ausschließe. Die durch die Vorschrift bewirkte Ungleichbehandlung sei einer strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen und nicht lediglich am Willkürverbot zu messen. Sie sei unverhältnismäßig und willkürlich, weil sie schon nicht geeignet sei, das mit ihr verfolgte Ziel der Sicherung der Arbeit des Integrationsbeirates zu erreichen. Der Aufenthaltsstatus lasse keine Rückschlüsse auf die typische Aufenthaltsdauer zu.

9Am hat der Antragsgegner dem bis dahin geduldeten Antragsteller zu 2 eine bis zum befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt.

10Die Antragsteller beantragen,

das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom zu ändern und festzustellen, dass § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners vom insoweit unwirksam ist, als über die darin genannte Voraussetzung eines Migrationshintergrundes hinaus die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein gesichertes Aufenthaltsrecht gefordert wird.

11Der Antragsteller zu 2 beantragt hilfsweise,

das genannte Urteil zu ändern und festzustellen, dass § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung insoweit unwirksam war.

12Der Antragsgegner beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

13Er hält die Umstellung des Antrags für unzulässig und verteidigt das angefochtene Urteil im Übrigen in der Sache.

14Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht am Verfahren.

Gründe

15Die zulässige Revision ist begründet. Die angegriffene Regelung ist unwirksam.

161. Der Hauptantrag der Antragsteller ist zulässig.

17a) In der Umstellung des Antrags liegt keine gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO unzulässige Antragsänderung. Insoweit kann offenbleiben, ob eine Änderung des Antragsbegehrens vorliegt, obwohl die angegriffene Regelung lediglich - unverändert - in die Hauptsatzung verschoben wurde. Selbst bei Annahme einer Antragsänderung wäre diese jedenfalls nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 264 Nr. 3 ZPO zulässig. Die Aufnahme der verfahrensgegenständlichen Wählbarkeitsvoraussetzungen zum Integrationsbeirat in § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners und die sich daran anschließende Aufhebung der Ordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirates im Landkreis Leipzig ist eine später, nach Antragstellung eingetretene Veränderung im Sinne der Vorschrift. Die von dieser vorausgesetzte Identität des Klagegrundes ist ebenfalls gegeben. Bei ihrer Beurteilung bleiben die Veränderung selbst und die Umstände, die sie herbeigeführt haben, außer Betracht (vgl. Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar ZPO, 6. Auflage 2020, § 264 Rn. 25 m. w. N.). Im Übrigen hat sich der zur Begründung des Antrags vorgetragene Lebenssachverhalt nicht geändert.

18b) In der Präzisierung des Begehrens durch den Revisionsantrag liegt keine teilweise Antragsrücknahme entsprechend § 92 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Sie lässt das Antragsziel und den ihm zugrundeliegenden Sach- und Streitstoff unverändert. Nach wie vor wenden die Antragsteller sich dagegen, dass die angegriffene Regelung die Wählbarkeit von Personen mit Migrationshintergrund zum Integrationsbeirat davon abhängig macht, dass diese über die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein gesichertes Aufenthaltsrecht im Sinne der Vorschrift verfügen.

19c) Der Antrag wahrt die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO auch hinsichtlich der Umstellung des Antrages auf die Regelung in § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung. Nachdem der Antragsgegner die angegriffenen Satzungsbestimmungen am in seinem Amtsblatt bekanntgemacht hatte, haben die Antragsteller am ihren Antrag rechtzeitig umgestellt.

20d) Beide Antragsteller sind antragsbefugt. Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann jede natürliche oder juristische Person einen Normenkontrollantrag stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO sind keine höheren Anforderungen zu stellen als nach § 42 Abs. 2 VwGO. Deshalb genügt es, wenn ein Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch den zur Prüfung gestellten Rechtssatz in einem eigenen subjektiven Recht verletzt wird. Die Antragsbefugnis fehlt nur, wenn unter Zugrundelegung des Antragsvorbringens Rechte des Antragstellers offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise verletzt sein können (stRspr, vgl. etwa 7 CN 1.20 - BVerwGE 172, 37 Rn. 10 m. w. N.).

21Danach ist der Antragsteller zu 1 als Inhaber einer Duldung antragsbefugt, weil § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners ihn von der Wählbarkeit zum Integrationsbeirat ausschließt und er dadurch in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein kann.

22Der Antragsteller zu 2 ist antragsbefugt schon, weil er durch die angegriffene, seinerzeit in der Integrationsbeiratsordnung 2018 enthaltene Regelung bei den letzten Wahlen zum Integrationsbeirat von der Wählbarkeit ausgeschlossen war und die deshalb mögliche Verletzung in Art. 3 Abs. 1 GG nicht mit der späteren Änderung seines Aufenthaltsstatus entfallen ist. Darüber hinaus kann er sich darauf berufen, durch § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners in absehbarer Zeit in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt zu werden. Absehbar im Sinne von § 47 Abs. 2 VwGO ist eine behauptete künftige Rechtsverletzung, wenn sie sich der angegriffenen Norm schon tatsächlich und rechtlich zuordnen lässt, weil die Entwicklung von der angegriffenen Norm zu der geltend gemachten Betroffenheit eine konkrete Wahrscheinlichkeit für sich hat ( 1 CN 1.98 - BVerwGE 108, 182 <184>). Davon ist hier in Bezug auf den Antragsteller zu 2 auszugehen. Denn seine Wählbarkeit zum Integrationsbeirat aufgrund der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis endet nach dem derzeitigen Stand mit Ablauf des vor den nächsten Wahlen zum Integrationsbeirat. Ob die ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis verlängert wird, ist derzeit nicht absehbar.

232. Das angegriffene Urteil beruht auf der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Das Oberverwaltungsgericht hätte die Beschränkung der Wählbarkeit von Einwohnern des Antragsgegners mit Migrationshintergrund ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder gesichertes Aufenthaltsrecht am Verhältnismäßigkeitsprinzip und nicht lediglich am Maßstab des Willkürverbots messen müssen. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Daraus ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen ( - BVerfGE 130, 240 <254>). Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet nicht nur, dass die Ungleichbehandlung an ein der Art nach sachlich gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium anknüpft, sondern verlangt auch für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung, der sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweist. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können ( 8 C 9.21 - NVwZ 2022, 1644 Rn. 24).

24Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben ( 8 C 9.21 - NVwZ 2022, 1644 Rn. 25). Die verfassungsrechtlichen Anforderungen verschärfen sich zudem, je weniger die Merkmale, an die die Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (stRspr, vgl. - BVerfGE 138, 136 Rn. 121 f. und vom - 1 BvL 5/18 - BVerfGE 153, 358 Rn. 94 f.). Eine strenge Bindung an die Erfordernisse des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gilt schließlich auch dann, wenn eine Differenzierung unmittelbar oder mittelbar zu einer Ungleichbehandlung von Personengruppen führt ( u. a. - BVerfGE 133, 377 Rn. 75).

25Das angegriffene Urteil geht davon aus, eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung wegen eines für den Einzelnen nicht oder kaum verfügbaren Differenzierungsmerkmals könne nur bei einer Ungleichbehandlung wegen persönlicher Merkmale vorliegen. Diese Annahme trifft nicht zu. Sie lässt unberücksichtigt, dass auch andere Differenzierungskriterien dem Einfluss des Betroffenen ganz oder weitgehend entzogen sein können (vgl. etwa - BVerfGE 151, 101 Rn. 64 f. zur Stiefkindadoption). Zu den nicht oder kaum verfügbaren Differenzierungsmerkmalen gehört nach der neueren bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch der aufenthaltsrechtliche Status nicht freizügigkeitsberechtigter Personen, also solcher, die weder über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen noch nach unionsrechtlichen Vorschriften Freizügigkeit genießen (BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvL 4/97 u. a. - BVerfGE 111, 160 <169 f.> und vom - 2 BvL 9/14 u. a. - NVwZ 2022, 1452 Rn. 87). Dies gilt besonders für Inhaber humanitärer Aufenthaltstitel, weil etwa das Bestehen zielstaatsabhängiger Abschiebungshindernisse oder die Fortdauer kriegerischer Auseinandersetzungen im Heimatstaat durch sie offensichtlich nicht beeinflusst werden können. Auch die Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht zwangsläufig durch eigenes Verhalten zu beeinflussen, weil sie auch von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation und der familiären Lage der Betroffenen abhängen kann ( u. a. - NVwZ 2022, 1452 Rn. 87).

26Danach hätte das angegriffene Urteil sich nicht auf eine Willkürkontrolle beschränken dürfen. Vielmehr hätte es die Ungleichbehandlung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit prüfen müssen. Das Bestehen eines gesicherten Aufenthaltsrechts im Sinne des § 16c Abs. 4 der Hauptsatzung des Antragsgegners ist für die Betroffenen nicht verfügbar. Die von diesem Begriff umfasste unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung ist regelmäßig aus der Unionsbürgerschaft und den daran anknüpfenden Rechten von Unionsbürgern und deren Angehörigen abgeleitet; damit ist sie - abgesehen von ihrer Nähe zu den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG - vom Einzelnen ebenso wenig zu beeinflussen wie nach der eben dargestellten Rechtsprechung der Aufenthaltsstatus nicht freizügigkeitsberechtigter Personen.

273. Das angegriffene Urteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit er die Wählbarkeit von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit vom Bestehen eines gesicherten Aufenthaltsrechts im dort definierten Sinne abhängig macht. Diese Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus ist unverhältnismäßig.

28Allerdings verfolgt sie ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel. Das Oberverwaltungsgericht hat die inhaltsgleiche Vorläuferregelung des § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners dahingehend verstanden, dass sie die Begleitung mittel- oder langfristiger Vorhaben der Integrationsarbeit sicherstellen soll. An diese teleologische Auslegung der irrevisiblen Vorschrift ist der Senat nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO gebunden. Die vom Satzungsgeber bezweckte Sicherung der kontinuierlichen Mitwirkung im Interesse der Funktionsfähigkeit seines Integrationsbeirates stellt ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel dar.

29Das Unterscheidungskriterium des gesicherten Aufenthaltsrechts ist aber nicht geeignet, dieses Ziel zu verwirklichen. Der Aufenthaltsstatus eignet sich für sich genommen nicht als Grundlage einer Prognose der voraussichtlichen Dauer des Aufenthalts im Landkreis und der damit verbundenen Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum kontinuierlich an der Arbeit des Integrationsbeirates mitzuwirken. Die Gründe, die zur Erteilung eines lediglich befristeten Aufenthaltstitels führen, sind nicht typischerweise vorübergehender Natur. Ihr Wegfall und der Zeitpunkt des Wegfalls des Aufenthaltszwecks sind ungewiss. Außerdem bestehen jeweils gesetzliche Verlängerungs- und Verfestigungsmöglichkeiten (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvL 4/97 u. a. - BVerfGE 111, 160 <174 f.>, vom - 1 BvL 2/10 u. a. - BVerfGE 132, 72 Rn. 27 f. und vom - 2 BvL 9/14 u. a. - NVwZ 2022, 1452 Rn. 90 ff.). Auch der Wegfall der häufigsten (vgl. BT-Drs. 19/28234 S. 33) Duldungsgründe der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung ist ungewiss. Das gilt etwa für Fälle einer alters- oder gesundheitsbedingt fehlenden Reise- oder Transportfähigkeit und für Fälle der ungeklärten Identität oder fortdauernden Passlosigkeit. Darüber hinaus bestehen für die Inhaber von Duldungen wesentliche rechtliche Möglichkeiten zur Verlängerung- und Verfestigung ihres Aufenthaltes. Hierzu zählt unter anderem die Duldung zur Fortsetzung einer qualifizierten Berufsausbildung nach § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Schließlich ist bei der Prognose der Aufenthaltsdauer neben der rechtlichen Ausgestaltung des jeweiligen Aufenthaltsstatus auch dessen Einbindung in die tatsächlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Auch diese können für eine positive Aufenthaltsprognose sprechen ( - BVerfGE 132, 360 Rn. 27).

304. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), weil weiterer Aufklärungsbedarf nicht besteht. Der dargelegte Gleichheitsverstoß führt zur Feststellung, dass § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners vom insoweit unwirksam ist, als über die darin genannte Voraussetzung eines Migrationshintergrundes hinaus die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein gesichertes Aufenthaltsrecht gefordert wird.

31Die Unwirksamkeit beschränkt sich auf die von den Antragstellern angegriffene Teilregelung. Diese ist nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB vom Rest der Norm abtrennbar (vgl. 4 N 3.87 - NVwZ 1990, 157 <158>). Außerdem ist anzunehmen, dass der verbleibende Teil der Norm auch ohne den für unwirksam erklärten Teil erlassen worden wäre (vgl. 4 NB 3.91 - NVwZ 1992, 567).

32a) Der angegriffene Teil von § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners ist vom Rest der Vorschrift abtrennbar. Er ist mit diesem nicht so verflochten, dass die Restbestimmung ohne den nichtigen Teil nicht sinnvoll bestehen bleiben könnte (vgl. zu diesem Kriterium 7 CN 1.11 - Buchholz 445.4 § 51 WHG Nr. 1 Rn. 28). § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners trifft auch ohne die gleichheitswidrige Beschränkung der Wählbarkeit von Einwohnern des Antragsgegners mit Migrationshintergrund eine vollständige Regelung, die die vom Satzungsgeber bezweckte Mitwirkung sachkundiger Einwohner mit eigener Migrationserfahrung an den Aufgaben des Integrationsbeirates gewährleistet.

33b) Es ist anzunehmen, dass der Antragsgegner den verbleibenden Teil von § 16c Abs. 4 Buchst. c seiner Hauptsatzung auch ohne den für unwirksam erklärten Teil erlassen hätte. Insoweit ist auf den nach objektiven Anhaltspunkten zu bestimmenden mutmaßlichen Willen des Normgebers abzustellen (vgl. 9 B 17.15 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 114 Rn. 9). Dieser ist vorliegend auf den Erlass der Vorschrift ohne den für unwirksam erklärten Teil gerichtet. Darauf deutet der Erlass der ursprünglichen Regelung über die Wählbarkeit zum Integrationsbeirat, welche die hier verfahrensgegenständlichen Einschränkungen der Wählbarkeit nicht enthielt (§ 2 Abs. 1 Buchst. c IBO). Er spricht dafür, dass der Satzungsgeber eher auf die rechtswidrige Einschränkung der Wählbarkeit als auf die Beteiligung der Personen mit Migrationshintergrund als sachkundigen Betroffenen verzichtet hätte.

34Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:291122U8CN1.22.0

Fundstelle(n):
NAAAJ-35851