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Lockerung der Anforderungen an den Nachweis einer Zahlungsunfähigkeit
BGH lässt Liquiditätsstatus als Prüfverfahren zu – eine kritische Auseinandersetzung
[i] BGH, Urteil v. 28.6.2022 - II ZR 112/21 NWB XAAAJ-18602 In einer wegweisenden Entscheidung hat der BGH vor wenigen Monaten die Methoden zur Ermittlung des Insolvenzgrunds der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) erweitert. Demnach kann neben der seit 2005 etablierten Prüfungsmethode im Wege einer Liquiditätsbilanz und der mittlerweile ebenso anerkannten Prüfung anhand eines Finanzplans die Zahlungsunfähigkeitsprüfung auch durch mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl erfolgen. Dies hat in der Praxis zu erheblichen Diskussionen darüber geführt, wie nun die Prüfung der Zahlungsunfähigkeit durchzuführen ist und wie sich insbesondere Geschäftsleiter gegen eine spätere Haftungsinanspruchnahme schützen können. Der Beitrag stellt die neue BGH-Entscheidung vor, ordnet sie im weiten Meinungsspektrum ein und gibt Handlungsempfehlungen für Geschäftsleiter.
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I. Bisherige Rechtslage und Praxis
Der [i] Gehrmann, Insolvenzverfahren, infoCenter NWB BAAAB-05672 Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner mangels verfügbarer Zahlungsmittel nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 InsO). Hinzukommen muss allerdings nach ständiger Rechtsprechung des BGH, dass eine derartige Deckungslücke quantitativ mindestens 10 % der fälligen Gesamtverbindlichkeiten erfasst (sog. Wesentlichkeitsgrenze) und zeitlich für mindestens drei Wochen (sog. Zahlungsstockungsfrist) besteht.
[i]Zweistufige Prüfung der ZahlungsunfähigkeitAuf dieser konzeptionellen Grundlage hat sich in der Praxis eine zweistufige Prüfung der Zahlungsunfähigkeit etabliert:
Zunächst sind in Form eines sog. Liquiditätsstatus die zum Prüfungsstichtag unmittelbar verfügbaren Zahlungsmittel (sog. Aktiva I) und die zum Stichtag fälligen Zahlungspflichten (sog. Passiva I) gegenüberzustellen.
Weist diese Gegenüberstellung eine Deckungslücke von 10 % der fälligen Gesamtverbindlichkeiten oder mehr aus, ist weiter anhand einer zeitraumbezogenenS. 220 Liquiditätsbilanz zu prüfen, ob diese Lücke für mindestens drei Wochen bestehen bleibt (sog. Zahlungsstockungsprüfung). In dieser Bilanz sind aktivseitig neben den Aktiva I auch jene Zahlungsmittel anzusetzen, die in der Drei-Wochen-Frist voraussichtlich erlangt werden können (sog. Aktiva II), passivseitig neben den Passiva I auch die erst im Drei-Wochen-Zeitraum voraussichtlich fällig werdenden Zahlungspflichten (sog. Passiva II). Ergibt auch diese Bilanz eine Deckungslücke von 10 % oder mehr, liegt grundsätzlich Zahlungsunfähigkeit vor; andernfalls handelt es sich lediglich um eine sog. Zahlungsstockung, die insolvenzrechtlich unerheblich ist.
Anstelle [i]Finanzplan nur bedingt geeigneteiner solchen Liquiditätsbilanz kann zur Zahlungsstockungsprüfung grundsätzlich auch auf einen Finanzplan zurückgegriffen werden. Dies hat der BGH mittlerweile anerkannt und entspricht auch den Empfehlungen des IDW. Zu beachten ist dabei allerdings, dass der Saldo eines Finanzplans keinen Bezug zur bilanziellen 10 %-Wesentlichkeitsgrenze des BGH aufweist und damit deren künftiges Über- oder Unterschreiten nicht (genau) abbilden kann. Insofern weist dieser nur einen begrenzten Anwendungsbereich auf.
[i]Defizite der LiquiditätsbilanzDie zweistufige Prüfung anhand einer Liquiditätsbilanz weist allerdings gewisse Defizite auf. So ist der ausgewiesene Deckungsgrad insbesondere durch die Nichtbezahlung von Verbindlichkeiten manipulierbar und hängt auch vom bloßen Volumen der Eingangsgrößen ohne Bezug zur tatsächlichen Liquiditätslage ab (sog. Volumeneffekt). Zudem ist eine Liquiditätsbilanz in der Durchführung prospektiv für Geschäftsleiter wie auch retrospektiv etwa für Insolvenzverwalter relativ aufwendig.
[i]Forderung nach einfacheren PrüfverfahrenVor diesem Hintergrund wird schon seit längerem für eine einfachere und klarere Prüfungsmethodik plädiert. So hat etwa im vergangenen Jahr der Berufsverband der Insolvenzverwalter und Sachwalter in Deutschland (VID) vorgeschlagen, auf der Basis absoluter Zahlen schon eine in drei Liquiditätsstatus ausgewiesene Unterdeckung ausreichen zu lassen. Inwieweit derartige Alternativverfahren genügen, war bislang allerdings unklar.
Mit der Entscheidung II ZR 112/21 hat der BGH nun dieses Streben nach einfacheren Verfahren im Kern aufgegriffen und bereits die Darlegung durch mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl ausreichen lassen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass dieses Verfahren (bis auf weiteres) nur einen begrenzten Anwendungsbereich aufweist und nicht mit einer generellen Liberalisierung der Zahlungsunfähigkeitsprüfung gleichgesetzt werden kann.
II.
1. Sachverhalt
[i]BGH, Urteil v. 28.6.2022 - II ZR 112/21 NWB XAAAJ-18602 Der Kläger ist Insolvenzverwalter einer GmbH und verlangt von deren Geschäftsführer die Erstattung von zwei Zahlungen in Höhe von jeweils ca. 1,6 Mio. €, die dieser im Rahmen eines Cash-Pools im November und Dezember 2013 an die Muttergesellschaft abgeführt hatte (§ 64 Satz 1 GmbHG a. F.). Dies stützt er auf die Behauptung, dass die GmbH bereits am zahlungsunfähig gewesen sei, und legt dazu über einenS. 221 Zeitraum von drei Wochen vier Liquiditätsstatus mit jeweils 40 % nicht unterschreitenden Unterdeckungen vor.
Das LG Lübeck und das OLG Schleswig haben die Klage des Insolvenzverwalters abgewiesen, weil sie den Nachweis der Zahlungsunfähigkeit der GmbH als nicht geführt ansahen.
2. Entscheidung des BGH
Der BGH hat die Entscheidung des OLG aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
[i]Liquiditätsbilanz nicht zwingend erforderlichGrundlegend hat er festgestellt, dass zur Darlegung einer Zahlungsunfähigkeit nicht zwingend eine Liquiditätsbilanz aufzustellen sei, sondern dies auch mit anderen Mitteln erfolgen könne. So sei es zulässig, die Zahlungsunfähigkeit durch einen Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Finanzplan für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen, in dem tagesgenau Einzahlungen und Auszahlungen gegenübergestellt werden, darzutun.
[i]Finanzplan oder mehrere Liquiditätsstatus genügen auchGleichermaßen könne die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit durch mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl erfolgen, in denen ausgehend von dem am Stichtag eine erhebliche Unterdeckung ausweisenden Status an keinem der im Prognosezeitraum liegenden bilanzierten Tage die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann.