BVerwG Beschluss v. - 3 B 1/22

Abgrenzung von Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel; bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigende Erkenntnisse

Gesetze: § 21 Abs 4 S 1 AMG, § 86 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 13 A 1376/17 Urteilvorgehend Az: 7 K 3110/14 Urteil

Gründe

I

1Die Beteiligten streiten um die Frage, ob ein Erzeugnis der Klägerin als zulassungspflichtiges Arzneimittel oder als Nahrungsergänzungsmittel anzusehen ist.

2Die Klägerin stellt das Produkt "... Kapseln" her und vertreibt es als Nahrungsergänzungsmittel. Eine Kapsel enthält 50 mg Melissenextrakt und 0,5 mg Melatonin. Nach der Verzehrempfehlung sollen einmal täglich zwei Kapseln eingenommen werden.

3Auf Antrag des Regierungspräsidiums Darmstadt stellte die Beklagte mit Bescheid vom fest, dass es sich bei dem Produkt um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handle. Die nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens gegen diesen Bescheid erhobene Klage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht abgewiesen.

4Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom das erstinstanzliche Urteil geändert und den angegriffenen Bescheid aufgehoben. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Als Rechtsgrundlage für die angefochtene Feststellung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) komme allein § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG in Betracht. Dessen Voraussetzungen lägen nicht vor. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei der Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Dies bedeute jedoch nicht, dass Studien, Gutachten und Reviews sowie gerichtliche Entscheidungen, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt worden bzw. ergangen seien, bei der gerichtlichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden könnten. Dabei handle es sich nicht um neue, nicht berücksichtigungsfähige Tatsachen; vielmehr stellten sie Wissen um die Sachlage in einem anhängigen Verfahren dar, wie sie bereits im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorgelegen habe. Neue Erkenntnisse, die etwa durch gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten gewonnen oder durch die Beteiligten vorgelegt werden könnten, führten nicht zu einer Änderung der Sachlage. Hiervon ausgehend sei das Produkt der Klägerin weder ein Funktions- noch ein Präsentationsarzneimittel. Der für die Einstufung als Funktionsarzneimittel erforderliche wissenschaftliche Nachweis einer nennenswerten pharmakologischen Wirkung auf die physiologischen Funktionen sei nicht erbracht. Es stehe nach den vorliegenden Erkenntnissen weder positiv fest noch könne sicher ausgeschlossen werden, dass - wie die Annahme einer pharmakologischen Wirkung voraussetze - die Auswirkungen des Erzeugnisses der Klägerin auf die physiologischen Funktionen über die Wirkungen hinausgingen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben könne. Dies gehe zu Lasten der Beklagten, die die materielle Beweislast für die Unerweislichkeit der Voraussetzungen der Arzneimitteleigenschaft zu tragen habe. Die Klägerin habe zahlreiche Studien vorgelegt, nach denen bestimmte Lebensmittel einen verhältnismäßig hohen Melatoningehalt aufwiesen. Eine Würdigung der vorliegenden Erkenntnisse ergebe, dass die Frage, ob 1 mg Melatonin auch über Lebensmittel - insbesondere Pistazien, Cranberries oder Wildpilze - aufgenommen werden könne, wissenschaftlich nicht eindeutig beantwortet werden könne. Weitere wissenschaftliche Erkenntnismittel seien weder von den Beteiligten aufgezeigt noch sonst ersichtlich. Das Produkt der Klägerin sei auch kein Präsentationsarzneimittel. Es werde auf der Vorderseite des Etiketts an prominenter Stelle als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet; der übrige Produktauftritt erwecke nicht derart den Eindruck einer heilenden, vorbeugenden oder Leiden lindernden Wirkung, dass ein Verbraucher ungeachtet der Produktbezeichnung als Nahrungsergänzungsmittel von der Arzneimitteleigenschaft ausgehe.

5Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Beschwerde, zu deren Begründung sie sich auf die Zulassungsgründe der Divergenz, der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und des Vorliegens eines Verfahrensfehlers beruft.

II

6Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

71. Die Revision ist nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer Abweichung des angegriffenen Urteils von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen. Eine Divergenz im Sinne dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das Bundesverwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift oder desselben Rechtsgrundsatzes aufgestellt hat (stRspr, vgl. 3 BN 8.21 - juris Rn. 19).

8a) Die Beklagte macht geltend, das angegriffene Urteil weiche von den Vorlagebeschlüssen des Senats vom - 3 C 19.19 - und - 3 C 9.20 - ab, wonach maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einem Feststellungsbescheid nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG der Abschluss des Verwaltungsverfahrens ist. Hiervon abweichend nehme das Oberverwaltungsgericht an, dass Studien, Gutachten und Reviews sowie gerichtliche Entscheidungen, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt und veröffentlicht worden bzw. ergangen seien, bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen seien. Eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zeigt dieses Vorbringen nicht auf. Das Oberverwaltungsgericht hat im angegriffenen Urteil unter Bezugnahme auf die genannte Rechtsprechung des Senats auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens als maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt abgestellt und seine frühere entgegenstehende Ansicht ausdrücklich aufgegeben (S. 10 f. des Urteilsabdrucks). Die von der Beklagten als Abweichung von dem Rechtssatz des Senats betrachtete Auffassung des Oberverwaltungsgerichts zur Berücksichtigungsfähigkeit von Erkenntnismitteln, die erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt bzw. vorgelegt werden, betrifft nicht den maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der Sach- und Rechtslage, sondern die Frage, was zur maßgeblichen Sachlage in diesem Sinne gehört bzw. auf welcher Grundlage sie festzustellen ist. Hierzu verhält sich der von der Beklagten zitierte Rechtssatz in den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang weiter geltend macht, die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse könne zu einer Änderung der Sachlage führen, sind die hierzu von ihr angeführten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts - unabhängig davon, ob sie den Rechtsstandpunkt der Beklagten tatsächlich zu stützen vermögen - zu § 49 Abs. 2 bzw. § 51 Abs. 1 VwVfG, nicht zu § 21 Abs. 4 AMG ergangen.

9b) Im Weiteren macht die Beklagte geltend, das Oberverwaltungsgericht sei mit der Annahme, es sei nicht am Unternehmer, verbleibende Unklarheiten durch Vorlage entsprechenden Datenmaterials zu beseitigen, falls ein Produkt erhebliche Anhaltspunkte für ein Funktionsarzneimittel bieten sollte, von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Untersuchungsgrundsatz nach § 24 VwVfG abgewichen. Hiernach werde der Untersuchungsgrundsatz infolge von Umständen, die die Sphäre des Beteiligten unmittelbar berührten, durch dessen verfahrensrechtliche Mitwirkungslast eingeschränkt bzw. begrenzt. Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zeigt die Beklagte damit bereits deshalb nicht auf, weil die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts sich nicht auf dieselbe Norm beziehen. Die von der Beklagten bemängelte Aussage des Oberverwaltungsgerichts betrifft nicht die Reichweite des Untersuchungsgrundsatzes nach § 24 VwVfG, sondern die aus dem materiellen Recht folgende Beweislasttragung im Rahmen des § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG.

10c) Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang vorbringt, das Oberverwaltungsgericht gehe bei der Betrachtung seiner eigenen Aufklärungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO offenbar allein von Mitwirkungspflichten der Beklagten aus und verkenne damit die Parallelen zu § 24 VwVfG, zeigt sie ebenfalls nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht mit einem abstrakten Rechtssatz von einem dieselbe Norm betreffenden abstrakten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen ist. Vielmehr rügt sie allein eine vermeintlich fehlerhafte Beurteilung von Mitwirkungspflichten der Beteiligten. Gleiches gilt für die Ausführungen dazu, dass wissenschaftliche Erkenntnisse über das in Verkehr zu bringende Produkt der Sphäre des Unternehmers zuzuordnen seien.

11d) Ohne Erfolg bleibt schließlich der Vortrag, das Oberverwaltungsgericht sei von dem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannten Günstigkeitsgrundsatz abgewichen, weil es angenommen habe, die Beklagte trage auch die Beweislast für die Nichterweislichkeit der Tatsache, dass die Wirkungen des in Rede stehenden Präparats über die Wirkungen hinausgingen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf die physiologischen Funktionen habe. Hiermit rügt die Beklagte eine ihrer Ansicht nach falsche Anwendung allgemeiner Grundsätze bei der Bestimmung der Beweislasttragung im Rahmen des § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG, zeigt aber nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht von einem abstrakten, die Beweislastverteilung im Rahmen dieser Vorschrift betreffenden Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen ist. Die Behauptung einer fehlerhaften Anwendung eines Rechtssatzes, den das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt aber nicht den Anforderungen einer Divergenzrüge. Das Revisionszulassungsrecht kennt - anders als die Vorschriften zur Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) - den Zulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel nicht (stRspr, vgl. 3 B 37.21 - juris Rn. 9).

122. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens eindeutig beantwortet werden kann ( 3 B 37.21 - juris Rn. 14).

13a) Im Hinblick auf die Frage

"Führen Erkenntnisse, welche nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens beispielsweise durch die gerichtliche Einholung von Sachverständigengutachten gewonnen oder durch die Beteiligten vorgelegt werden, zu einer Änderung der Sachlage mit der Folge, dass sie bei der gerichtlichen Prüfung einer behördlichen Entscheidung nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG nicht berücksichtigt werden dürfen?",

zeigt das Beschwerdevorbringen - unabhängig davon, dass es nicht konkret benennt, welche vom Oberverwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnisse von der Fragestellung überhaupt erfasst werden - keine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit auf. Die Frage lässt sich vielmehr auf Grundlage der bestehenden Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens verneinen. Der Begriff der Sachlage meint die tatsächlichen Umstände, die vom Gericht daraufhin überprüft werden, ob sie den Tatbestand eines Gesetzes erfüllen. Zu diesen tatsächlichen Umständen gehört bei einer Entscheidung nach § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung des Präparats, insbesondere das Ausmaß der Auswirkungen des Erzeugnisses auf die physiologischen Funktionen (vgl. 3 C 19.18 - BVerwGE 167, 66 Rn. 17 ff.). Diese Auswirkungen müssen im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens gegeben sein (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 3 C 19.19 - Rn. 9 und - 3 C 9.20 - Rn. 8). Werden Erkenntnisse, die der Behörde zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt waren, erst im gerichtlichen Verfahren vorgelegt oder durch die Einholung gerichtlicher Sachverständigengutachten generiert, führt dies nicht zu einer Änderung von Art oder Umfang der Wirkungen des in Rede stehenden Erzeugnisses - und damit einer Änderung der entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände -, sondern dient vielmehr der Klärung, ob die erforderliche Wirkung im maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen hat. Zu einer solchen Aufklärung ist das Gericht auch grundsätzlich verpflichtet. Dass - bezogen auf einen in der Vergangenheit liegenden maßgeblichen Zeitpunkt - erst später Erkenntnismittel zugänglich werden, ändert nichts an der Pflicht des Gerichts aus § 86 Abs. 1 VwGO zu deren Heranziehung (vgl. 6 B 53.05 - Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 206 Rn. 21; siehe auch 4 B 62.08 - Rn. 19). Damit erlaubt und gebietet das deutsche Verwaltungsprozessrecht, der gerichtlichen Entscheidung auch solche Erkenntnisse zugrunde zu legen, die erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgrund der gebotenen Ermittlung des Sachverhaltes von Amts wegen nach § 86 VwGO gewonnen wurden, die aber über die Sachlage zum maßgeblichen Zeitpunkt Auskunft geben ( 3 C 15.09 - BVerwGE 136, 149 Rn. 22). Die Auffassung der Beklagten, es seien nur bereits im Verwaltungsverfahren existente und vorgelegte Erkenntnisse zu berücksichtigen, führte demgegenüber zu einer Präklusion der nicht im Verwaltungsverfahren vorgelegten Erkenntnisse im gerichtlichen Verfahren. Wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist die für eine solche Präklusion erforderliche gesetzliche Grundlage (vgl. 7 AV 1.02 - Buchholz 310 § 124b VwGO Nr. 1 S. 3) nicht ersichtlich.

14Zu keiner anderen Bewertung führt die von der Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach als Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 VwVfG auch der "Erkenntnisfortschritt" gilt ( 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 <281>). Diesem Urteil kann nicht entnommen werden, dass neue Erkenntnisse unabhängig vom materiellen Recht stets zu einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse und damit der entscheidungserheblichen Sachlage führen. Vielmehr heißt es in der Entscheidung lediglich, eine Änderung der Sachlage könne auch durch Gewinnung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse eintreten und es entspreche der Zielrichtung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, die objektive Erkennbarkeit von tatsächlichen Umständen der "wirklichen" Änderung der Sachlage gleichzusetzen ( 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 <281>). Eine über die Auslegung des § 51 Abs. 1 VwVfG in der konkreten Entscheidungssituation hinausgehende Bedeutung ist damit nicht erkennbar. Auch die von der Beklagten angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG, wonach nachträglich eingetretene Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift vorliegen, wenn aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse bestimmte, schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorhandene und berücksichtigte Tatsachen anders bewertet werden ( 7 B 190.81 - NVwZ 1984, 102 <103>), ist ersichtlich auf die Besonderheiten der Aufhebung eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes durch die Behörde bezogen. Rückschlüsse darauf, welche Erkenntnisse im Anfechtungsprozess zu berücksichtigen sind, lassen sich hieraus nicht ziehen.

15b) Auch die von der Beklagten aufgeworfene Frage

"Führt die von der zuständigen Bundesoberbehörde im Rahmen des § 21 Abs. 4 AMG aufzustellende Behauptung, dass es sich bei dem geprüften Produkt um ein Arzneimittel handelt, dazu, dass die Behörde die materielle Beweislast hierfür trägt, ohne dass es auf Mitwirkungsobliegenheiten des Unternehmers, dessen Produkt geprüft wurde, ankommt?",

kann auf Grundlage der ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantwortet werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass die Behörde den plausiblen Nachweis einer pharmakologischen Wirkung schuldet, wenn sie die Behauptung eines (Funktions-)Arzneimittels aufstellt (vgl. 3 C 5.09 - Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 17). Gegen die damit sie treffende Beweislast wendet die Beklagte sich nicht grundsätzlich, nimmt aber offenbar an, dass prozessuale Mitwirkungspflichten zu einer Einschränkung dieser Beweislast führen müssten. Mit dieser Annahme verkennt die Beklagte indes nicht nur, dass die Beweislasttragung sich aus dem materiellen Recht, nicht dem Prozessrecht ergibt (vgl. 4 B 18.19 - Rn. 12), sondern auch, dass Beweislastregeln und prozessuale Mitwirkungspflichten grundsätzlich verschiedene Schritte der gerichtlichen Entscheidungsfindung betreffen. Eine Beweislastentscheidung kann ein Gericht erst treffen, wenn nach Durchführung aller gebotenen Aufklärungsmaßnahmen die maßgebliche Tatsachenfrage unaufklärbar bleibt. Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch die Beteiligten kann allerdings die Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Gerichts herabsetzen (vgl. etwa 10 C 9.04 - juris Rn. 28). Prozessuale Mitwirkungspflichten der Beteiligten haben damit Bedeutung für die Frage, in welchem Umfang das Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären hat, nicht aber für die Frage, zu wessen Lasten es geht, wenn eine entscheidungserhebliche Tatsache auch bei der danach gebotenen Aufklärung unerweislich bleibt. Dementsprechend führt etwa ein Verstoß gegen die nach § 26 VwVfG bestehende Mitwirkungspflicht grundsätzlich nicht zu einer Umkehr der Beweislastverteilung ( 1 DB 8.00 - Buchholz 235 § 92 BDO Nr. 4 S. 4).

163. Schließlich ist die Revision auch nicht wegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

17a) Die Beklagte macht geltend, ein Verfahrensfehler liege darin, dass das Oberverwaltungsgericht in seine Beweiswürdigung Studien, Gutachten und Reviews sowie gerichtliche Entscheidungen einbezogen habe, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt und veröffentlicht worden bzw. ergangen seien. Hierin sieht die Beklagte sowohl einen Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO als auch gegen § 108 VwGO. Ein Fehler des Oberverwaltungsgerichts scheidet insoweit unabhängig davon, ob es sich überhaupt um einen Verfahrensfehler handeln würde, jedenfalls deshalb aus, weil - wie dargelegt - dessen Auffassung, es könnten auch nach der Widerspruchsentscheidung entstandene bzw. vorgelegte Erkenntnisse berücksichtigt werden, keinen rechtlichen Bedenken begegnet.

18b) Damit kann die Beklagte auch mit der Rüge, das Oberverwaltungsgericht sei zudem unter Verstoß gegen § 108 VwGO widersprüchlich davon ausgegangen, die im Laufe des Gerichtsverfahrens vorgelegten Erkenntnisse seien bereits bei der behördlichen Entscheidung bekannt gewesen, keinen Verfahrensfehler aufzeigen, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Abgesehen davon hat das Oberverwaltungsgericht eine derartige Feststellung in seinem Urteil auch nicht getroffen. Die von der Beklagten herangezogene Aussage auf Seite 11 des Urteils, nachträglich gewonnene Erkenntnisse stellten "Wissen um die Sachlage in einem anhängigen Verfahren dar, wie sie bereits im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorlag", ist zum einen lediglich eine abstrakte, nicht fallbezogene Darstellung, zum anderen kann sie nur so verstanden werden, dass die Sachlage ("sie") - nicht hingegen das Wissen um diese - bereits im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorlag.

19c) Auch soweit die Beklagte im Übrigen zur Geltendmachung eines Verfahrensfehlers auf ihre zur Divergenzrüge vorgebrachten Ausführungen betreffend den Untersuchungsgrundsatz und das Günstigkeitsprinzip Bezug nimmt, legt sie einen Verfahrensfehler nicht hinreichend dar. Insbesondere ist nicht ersichtlich, inwieweit diese Ausführungen, mit denen sich die Beklagte gegen die Annahmen des Oberverwaltungsgerichts zur materiellrechtlichen Frage der Beweislasttragung wendet, einen Fehler des gerichtlichen Verfahrens aufzeigen sollen.

204. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:211122B3B1.22.0

Fundstelle(n):
JAAAJ-31013