BGH Beschluss v. - EnVZ 56/21

"Sekundäre Darlegungslast" der Bundesnetzagentur bei der Anwendung des § 4 Abs. 2 StromNVZ

Gesetze: § 65 Abs 3 EnWG, § 82 Abs 1 EnWG, § 86 Abs 2 EnWG, § 4 Abs 2 S 2 StromNZV, § 5 StromNZV

Instanzenzug: Az: VI-3 Kart 209/20 Beschluss

Gründe

1I. Die Betroffene ist ein europaweit tätiges Stromerzeugungs- und Stromhandelsunternehmen, das vor allem Strom aus Erneuerbare-Energie-Anlagen direkt vermarktet. Zu diesem Zweck bewirtschaftet sie in jeder der vier deutschen Regelzonen einen Bilanzkreis und hat mit den zuständigen Übertragungsnetzbetreibern jeweils einen Bilanzkreisvertrag geschlossen, der auf dem von der Bundesnetzagentur als Anlage zum Beschluss vom (BK6-06-013) festgelegten Vertragsmuster (Standardbilanzkreisvertrag 2011) beruht.

2Bei der Bewirtschaftung ihrer Bilanzkreise praktizierte die Betroffene zumindest in Grenzsituationen bei unvermeidbaren Unsicherheitsbandbreiten ein systemstützendes, regelzonenübergreifendes Risikomanagement. An drei Tagen im Jahr 2019 kam es zu erheblichen Abweichungen in der Systembilanz des deutschen Elektrizitätsversorgungssystems in Form von Unterspeisungen in einer nach Ansicht der Bundesnetzagentur die Systemstabilität gefährdenden Größenordnung. Näher bezeichnete Bilanzkreise der Betroffenen waren an diesen drei Tagen zu bestimmten Zeiten durchgängig unterspeist.

3Die Übertragungsnetzbetreiber sahen bei mehreren Bilanzkreisen, auch bei denjenigen der Betroffenen, angesichts des Ausmaßes der Unterdeckung Anzeichen für Prognosepflichtverletzungen der Bilanzkreisverantwortlichen und damit für Verstöße gegen deren Pflicht zur ordnungsgemäßen Bilanzkreisbewirtschaftung. Sie forderten die Betroffene daraufhin gemäß Ziff. 11.4. Satz 1 des Standardbilanzkreisvertrags 2011 auf, den Grund für die Unterspeisungen zu erläutern. Die von dieser vorgebrachten Erklärungen konnten nach Auffassung der Übertragungsnetzbetreiber den Verdacht einer Prognosepflichtverletzung nicht ausräumen, so dass sie den Sachverhalt gemäß Ziff. 11.4. Satz 2 des Standardbilanzkreisvertrags 2011 der Bundesnetzagentur meldeten. Diese leitete ein Aufsichtsverfahren nach § 65 EnWG gegen die Betroffene wegen des Verdachts einer Verletzung ihrer Pflichten als Bilanzkreisverantwortliche ein und stellte mit Beschluss vom fest, dass die Betroffene an zwei näher bezeichneten Tagen in bestimmten Bilanzkreisen ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen Bilanzkreisbewirtschaftung verletzt habe, indem sie jeweils keine ausgeglichene Viertelstunden-Leistungsbilanz zwischen den diesen Bilanzkreisen zugeordneten Einspeisungen und Entnahmen hergestellt und dadurch signifikante Bilanzungleichgewichte im Sinne der Ziff. 11.4. des Standardbilanzkreisvertrages (Strom) verursacht habe.

4Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Beschwerdegericht den Beschluss der Bundesnetzagentur aufgehoben. Die Rechtsbeschwerde hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Bundesnetzagentur mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

5II. Die gemäß § 87 Abs. 1 EnWG statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen Erfolg, weil Zulassungsgründe nach § 86 Abs. 2 EnWG nicht gegeben sind.

61. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner auf § 65 Abs. 3 EnWG gestützten Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Es sei nicht feststellbar, dass die Betroffene ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen Bilanzkreisbewirtschaftung gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 StromNZV, Ziff. 11.4. Standardbilanzkreisvertrag 2011 verletzt habe. Dass sie nicht alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die tatsächliche Erzeugung verlässlich und bestmöglich vorherzusagen, sei nicht ersichtlich. Die Betroffene habe den Vorwurf durch detailliertes Vorbringen entkräftet, dem die Bundesnetzagentur nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten sei. Auch sei die Ursächlichkeit der Prognosepflichtverletzung für die festgestellten signifikanten Bilanzungleichgewichte nicht feststellbar. Soweit die Bundesnetzagentur im Beschwerdeverfahren zur Begründung der Pflichtverletzung auf das von der Betroffenen praktizierte systemstützende, regelzonenübergreifende Bilanzkreismanagement abgestellt habe, brauche nicht entschieden zu werden, ob diese Art der Bilanzkreisbewirtschaftung mit den nationalen und den unionsrechtlichen Vorgaben übereinstimme. Die Bundesnetzagentur habe den angefochtenen Beschluss nicht auf eine solche - unterstellte - Pflichtverletzung gestützt.

72. Entgegen der Ansicht der Bundesnetzagentur stellt sich nicht die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 86 Abs. 2 Nr. 1 EnWG), ob die Unausgeglichenheit eines Bilanzkreises einen Pflichtverstoß des Bilanzkreisverantwortlichen im Sinne der § 4 Abs. 2 Satz 2, § 5 StromNZV in Verbindung mit Ziff. 11.4. des Standardbilanzkreisvertrages indiziert, von welchem sich der Bilanzkreisverantwortliche exkulpieren kann. Insoweit erfordert auch die Fortbildung des Rechts (§ 86 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. EnWG) keine Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Die aufgeworfene Frage ist nicht entscheidungserheblich.

8a) Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StromNZV ist der Bilanzkreisverantwortliche für eine ausgeglichene Bilanz zwischen Einspeisungen und Entnahmen in einem Bilanzkreis in jeder Viertelstunde verantwortlich und übernimmt als Schnittstelle zwischen Netznutzern und Betreibern von Übertragungsnetzen die wirtschaftliche Verantwortung für Abweichungen zwischen Einspeisungen und Entnahmen eines Bilanzkreises. Diese Pflichten konkretisiert Ziff. 5 des maßgeblichen, von der Bundesnetzagentur festgelegten Standardbilanzkreisvertrages. Ein Verstoß gegen diese Pflichten kann gemäß § 65 Abs. 3 EnWG von der Regulierungsbehörde festgestellt werden.

9b) Das Beschwerdegericht hat angenommen, der Bundesnetzagentur obliege es, den Nachweis eines gemäß § 65 Abs. 3 EnWG feststellungsfähigen Pflichtenverstoßes zu führen, weil die Zuwiderhandlung tatbestandliche Voraussetzung für die nachträgliche Feststellung eines Pflichtverstoßes sei und die Bundesnetzagentur im Bereich der Eingriffsverwaltung, insbesondere auch bei Anfechtungsbeschwerden im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren, die materielle Beweislast und das Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts trage. Wenn bestimmte Grenzwerte überschritten seien, indiziere ein bilanzielles Ungleichgewicht eine Pflichtverletzung sowohl nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StromNVZ als auch nach Ziff. 11.4. des Standardbilanzkreisvertrages 2011. In einem solchen Fall obliege es primär dem Bilanzkreisverantwortlichen, mögliche entlastende Erklärungen vorzubringen. Komme er dieser Darlegungslast nach, so treffe die Regulierungsbehörde eine sekundäre Darlegungslast. Selbst wenn unterstellt werde, dass das an den maßgeblichen Tagen in Rede stehende Ungleichgewicht ein solches Gewicht gehabt habe, dass es einen Pflichtverstoß der Betroffenen indiziere, sei ein Verstoß gegen das Gebot zur bestmöglichen Einhaltung des Mengengleichgewichts nicht feststellbar. Den von der Betroffenen zur Entkräftung einer indizierten Pflichtverletzung vorgebrachten Umständen sei die Bundesnetz-agentur aber nicht substantiiert entgegengetreten, obwohl ihr dies möglich und zumutbar gewesen sei.

10c) Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich in diesem Zusammenhang nicht gegen die Annahme des Beschwerdegerichts, auf Grundlage des Vorbringens der Betroffenen sei eine Pflichtverletzung bei der Prognose der zu erwartenden Ein- und Ausspeisungen nicht feststellbar, weil weder Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass inländische Bilanzkreisverantwortliche Echtzeit-Einspeisedaten oder Kürzestfrist-Prognosen in der von der Bundesnetzagentur geforderten Art und Weise nutzten, Kürzestfrist-Prognosen von Prognosedienstleistern für Deutschland und Europa angeboten würden noch, dass aktuellere als von der Betroffenen genutzte Wettermodelle verfügbar seien und aussagekräftigere Erkenntnisse hervorbrächten.

11d) Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde geltend macht, das Beschwerdegericht habe rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, dass die Betroffene eine unzulässige Methode zur Bewirtschaftung ihrer Bilanzkreise angewendet habe und daher eine "Exkulpation" nicht in Betracht komme, verhilft ihr das nicht zum Erfolg. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Bundesnetzagentur habe die im Beschlusstenor ausgesprochene Feststellung nicht tragend auf den Vorwurf einer unzulässigen Bewirtschaftungsmethode gestützt. Zulassungsgründe macht die Beschwerde insoweit nicht geltend, sondern setzt lediglich ihre eigene (rechtliche) Würdigung an die Stelle derjenigen des Beschwerdegerichts.

123. Lässt die Nichtzulassungsbeschwerde keine durchgreifenden Zulassungsgründe im Hinblick auf die vorgreifliche Frage einer Pflichtverletzung der Betroffenen erkennen, kommt es auf die von ihr weitergehend aufgeworfene Frage, ob die Feststellung eines Verstoßes gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Bilanzkreisbewirtschaftung die Feststellung der Kausalität des pflichtwidrigen Verhaltens für die im Bilanzkreis aufgetretenen Ungleichgewichte erfordere, nicht an.

134. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist auch nicht nach § 86 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. EnWG zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung veranlasst. Eine zulassungsrelevante Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung legt die Beschwerde nicht dar.

14Eine solche lässt sich aus der Annahme des Beschwerdegerichts, es obliege grundsätzlich der Bundesnetzagentur, den Nachweis eines gemäß § 65 Abs. 3 EnWG feststellungsfähigen Pflichtverstoßes zu führen und diesen darzulegen, nicht ableiten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestimmt sich die Beweislast nach materiellem Recht und ist in Auslegung der im Einzelfall einschlägigen Normen zu ermitteln; enthalten diese keine besonderen Regelungen, so greift der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht (, NVwZ 2020, 161 Rn. 25). Bei belastenden Verwaltungsakten trägt die Behörde die materielle Beweislast für die tatbestandlichen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen (vgl. , juris Rn. 25). Der Bundesgerichtshof hat bislang offengelassen, ob die Regulierungsbehörde darüber hinaus in jedem Fall die materielle Beweislast und damit das Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts trägt (, RdE 2014, 113 Rn. 23 - Festlegung Tagesneuwerte I). Jedenfalls aber hat er, wie die Beschwerde selbst hervorhebt, zur Frage der materiellen Beweislast bei der Anwendung des § 4 Abs. 2 StromNZV im gerichtlichen Verfahren noch keine Stellung genommen.

15Im Streitfall bedarf diese Frage indes keiner Entscheidung. Das Beschwerdegericht hat keine Beweislastentscheidung aufgrund mangelnder Aufklärbarkeit des Sachverhalts getroffen, sondern sich auf Grundlage des ausführlichen Vorbringens der Betroffenen nicht verpflichtet gesehen, den Sachverhalt nach § 82 Abs. 1 EnWG von Amts wegen weiter aufzuklären. Ohne dass darin eine - von der Beschwerde geltend gemachte weitere - Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu erkennen ist, hat sich das Beschwerdegericht dabei auf den anerkannten Grundsatz gestützt, dass die Mitwirkungslasten der Verfahrensbeteiligten die Ermittlungspflicht der Behörden im Verwaltungsverfahren wie auch diejenige der Gerichte im Verwaltungsprozess begrenzen (vgl. nur , NVwZ 2023, 265 Rn. 15 mwN; zum Verwaltungsverfahren , RdE 2010, 19 Rn. 21 - SWU Netze). Dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine "sekundäre Darlegungslast" der Bundesnetzagentur im Sinne einer Mitwirkungslast bei der Anwendung des § 4 Abs. 2 StromNVZ ausgeschlossen ist und eine solche Last die Amtsermittlung des Beschwerdegerichts nach § 82 Abs. 1 EnWG nicht begrenzen kann, zeigt die Beschwerde nicht auf. Derartiges ist auch nicht ersichtlich.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:120923BENVZ56.21.0

Fundstelle(n):
NAAAJ-51931