BVerfG Urteil v. - 1 BvR 1691/22

Eilantrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Aussetzung der Vollstreckung einer Kindesrückführung nach Spanien - zum Beginn der Monatsfrist (§ 93 Abs 1 BVerfGG) im Falle der Bestellung eines Verfahrensbeistands

Gesetze: Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 42 EGV 2201/2003, Art 24 EUGrdRCh

Instanzenzug: OLG Bamberg Az: 2 WF 125/22 Beschlussvorgehend AG Bamberg Az: 0206 FH 1/22 Beschlussvorgehend AG Bamberg Az: 0206 FH 1/22 Beschlussvorgehend OLG Bamberg Az: 2 WF 85/22 Beschlussnachgehend Az: 1 BvR 1691/22 Einstweilige Anordnung

Gründe

11. Die Beschwerdeführerin macht als Verfahrensbeiständin die Rechte des minderjährigen Kindes geltend. Sie wurde mit Beschluss vom vom Familiengericht zur Verfahrensbeiständin bestellt und hat am von den angegriffenen Entscheidungen erstmals Kenntnis erhalten. Sie begehrt im Rahmen ihrer am eingegangenen Verfassungsbeschwerde im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG die vorläufige Aussetzung eines Beschlusses zur Vollstreckung eines spanischen Titels zur Herausgabe des Kindes an dessen in Spanien lebenden Vater.

2Die Verfahrensbeiständin rügt die Verletzung der Rechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie eine Verletzung von Art. 24 GRCh. Das Kind sei im Erkenntnisverfahren vor dem Gericht in Madrid nicht gehört worden und es sei dort nicht berücksichtigt worden, dass es seit nahezu achteinhalb Jahren und somit fast sein gesamtes Leben in Deutschland lebe, den Vater nicht kenne und dessen Muttersprache nicht spreche. Eine Trennung von seinen Hauptbezugspersonen, der Mutter und dem Stiefvater, würde für das Kind auch eine Trennung von seinem Verwandten- und Freundeskreis in Deutschland bedeuten und ihm würde dadurch abverlangt, sich auf ein völlig neues Leben in einem ihm fremden Land mit fremden Menschen einzustellen.

3Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Beschluss der Kammer vom im Verfahren 1 BvQ 50/22 Bezug genommen, dem derselbe Sachverhalt zugrunde liegt.

42. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Die an einen solchen Antrag zu stellenden Zulässigkeitsanforderungen sind gewahrt und die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG liegen vor.

5a) Die erhobene Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr).

6aa) Die dem Kind bestellte Verfahrensbeiständin konnte die Rechte des Kindes im eigenen Namen zulässigerweise geltend machen und selbst Verfassungsbeschwerde einlegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 39). Die Verfassungsbeschwerde ist auch fristgerecht erhoben. Denn wie bei der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde im fremden Namen durch einen Ergänzungspfleger kommt es auch bei Verfahrensbeistandschaft für den Beginn des Fristlaufs grundsätzlich auf deren Kenntnis von den anzugreifenden fachgerichtlichen Entscheidungen an (vgl. jeweils zur Ergänzungspflegschaft BVerfGE 75, 201 <215>; 99, 145 <155 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1465/05 -, Rn. 27). Hier hat die dem Kind am bestellte Verfahrensbeiständin am von den angegriffenen Beschlüssen Kenntnis erlangt, sodass die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde bis zum Montag, dem läuft und die Einlegung am fristgerecht war.

7bb) Die Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der sofortigen Herausgabe des Kindes an den Vater wäre - auch unter Berücksichtigung des ausführlichen Vortrags des Vaters im Verfahren 1 BvQ 50/22 - nicht offensichtlich unbegründet. Es ist nicht auszuschließen, dass sowohl das Familiengericht als auch das Oberlandesgericht Art. 42 Brüssel IIa-VO in einer Weise ausgelegt und angewendet haben, mit der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Beeinträchtigungen von Grundrechte des Kindes einhergehen (vgl. näher dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvQ 50/22 -, Rn. 37 ff.).

8cc) Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232 Rn. 87>; stRspr). Danach liegen die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung vor. Für die dafür maßgeblichen Gründe wird auf die fortgeltenden Erwägungen der Kammer in ihrem Beschluss vom (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvQ 50/22 -, Rn. 45 ff.) Bezug genommen. Insoweit haben sich weder durch das Vorbringen des Vaters noch durch den Beschluss des Gerichts 1. Instanz Nr. 79 von Madrid vom , in der es sich inhaltlich nicht mit den geäußerten Bedenken gegen das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO befasst, neue für die Folgenabwägung bedeutsame Umstände ergeben.

9b) Die einstweilige Anordnung gilt bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, nach § 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG jedoch längstens für die Dauer von sechs Monaten.

103. Dem Vater des betroffenen Kindes wurde in dem auf Antrag der Mutter eröffneten Verfahren 1 BvQ 50/22, das dieselben fachgerichtlichen Entscheidungen zum Gegenstand hat, Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, von der er umfangreich Gebrauch gemacht hat. Die Kammer hat das dortige Vorbringen des Vaters im hiesigen Verfahren vor Erlass dieser einstweiligen Anordnung berücksichtigt.

11Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

12Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220901.1bvr169122

Fundstelle(n):
EAAAJ-24118