BGH Beschluss v. - XII ARZ 35/21

Zuständigkeit für eine Überprüfung von Infektionsschutzmaßnahmen an Schulen: Ausschließliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte; Rechtswegverweisung; Vorermittlungen für ein Kinderschutzverfahren

Leitsatz

1. Für Maßnahmen gegenüber schulischen Behörden (hier: mit dem Ziel der Unterlassung schulinterner Infektionsschutzmaßnahmen) ist der Rechtsweg zu den Familiengerichten im Verfahren nach § 1666 Abs. 1 und 4 BGB nicht eröffnet; zuständig sind ausschließlich die Verwaltungsgerichte.

2. Eine Verweisung des Verfahrens an das Verwaltungsgericht kommt wegen unüberwindbar verschiedener Prozessmaximen beider Verfahrensordnungen nicht in Betracht (im Anschluss an , NJW 2021, 2600).

3. Elterliche Eingaben mit dem Ziel des Erlasses von Anordnungen gegenüber schulischen Behörden geben regelmäßig keine Veranlassung, Vorermittlungen für ein Verfahren nach § 1666 BGB einzuleiten; das Verfahren ist dann einzustellen.

Gesetze: § 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 4 BGB, § 5 Abs 1 Nr 4 FamFG, § 151 FamFG, § 17a Abs 2 GVG, § 17a Abs 4 GVG, § 40 Abs 1 S 1 VwGO

Instanzenzug: AG Wesel Az: 49 F 76/21

Gründe

I.

1Die Beteiligte hat mit Schreiben vom beim Familiengericht darum nachgesucht, ein Verfahren nach § 1666 BGB zu eröffnen und gegenüber den Lehrkräften und der Schulleitung der von ihrer 15jährigen Tochter besuchten Gesamtschule einstweilig anzuordnen, die schulintern getroffenen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), insbesondere die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, Abstandsgebote und gesundheitliche Testungen, vorläufig auszusetzen.

2Das Familiengericht hat den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und das Verfahren an das Verwaltungsgericht verwiesen. Das Verwaltungsgericht hat die ihm übersandten Verfahrensakten an das Familiengericht „zuständigkeitshalber zurückgesandt“, weil das Familiengericht zuständig und die Verweisung an das Verwaltungsgericht wegen eines groben Verfahrensverstoßes nicht bindend sei. Daraufhin hat das Familiengericht die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

II.

3Das Verfahren ist einzustellen, da zwar die Verwaltungsgerichte für das Rechtschutzbegehren der Beteiligten ausschließlich zuständig sind, eine Rechtswegverweisung in dem hier eingeleiteten Verfahren jedoch nicht in Betracht kommt und die vom Familiengericht ausgesprochene Verweisung nicht bindet (vgl. BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 10).

41. Der Bundesgerichtshof ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht berufen.

5Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 FamFG wird, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für das Verfahren zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, das zuständige Gericht durch das nächsthöhere gemeinsame Gericht bestimmt. Zwar ist diese Vorschrift auf den Kompetenzkonflikt zwischen einem Familiengericht und einem Verwaltungsgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste Bundesgericht den negativen Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird ( - NJW 2001, 3631, 3632; BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 5 mwN). Denn obwohl ein nach § 17 a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den eigenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 5 Abs. 1 Nr. 4 FamFG im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. - MDR 2013, 1242 Rn. 5 zu § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO; BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 5 zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO).

6Eine solche Situation ist vorliegend gegeben. Sowohl das Familiengericht als auch das Verwaltungsgericht haben erklärt, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei. Dabei ist unschädlich, dass sich das Verwaltungsgericht nicht im Beschlusswege für unzuständig erklärt, sondern die Verfahrensakte formlos an das Familiengericht zurückgegeben hat. Denn die Rückgabeverfügung ist mit einer beschlussähnlichen Begründung versehen, welche unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (NJW 2021, 2600) den endgültigen Rechtsstandpunkt einnimmt, dass der Verweisungsbeschluss des Familiengerichts keine Bindungswirkung entfalte. Damit ist der negative Kompetenzkonflikt ausgelöst.

72. Zu Recht hat das Familiengericht den eigenen Rechtsweg für unzulässig erklärt. Es hat das Schreiben der Beteiligten vom zutreffend dahin ausgelegt, dass gegen die Schule gerichtete Unterlassungsverlangen durchgesetzt werden sollen. Über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Sie betreffen das Schulverhältnis als Rechtsverhältnis zwischen dem Schüler und einer öffentlichen, von einer Gebietskörperschaft getragenen Schule, deren Handeln in inneren Schulangelegenheiten einschließlich der Schulordnungsmaßnahmen der öffentlichen Gewalt zugerechnet wird (BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 7). Davon erfasst werden auch von der Schule angeordnete Infektionsschutzmaßnahmen (BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 7; OLG Jena FamRZ 2021, 1043, 1047 f.; OLG Bamberg FamRZ 2021, 1539, 1540; - juris Rn. 10; OLG München FamRZ 2021, 1538, 1539; OLG Nürnberg FamRZ 2021, 935, 936; BeckOK VwGO/Reimer [Stand: ] § 40 Rn. 71a; vgl. auch Senatsbeschluss vom - XII ZB 34/21 - FamRZ 2021, 1402 Rn. 13 zur verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit für die Untersagung von Maßnahmen des Jugendamts).

8Eine daneben parallel bestehende Regelungskompetenz auf Grundlage des § 1666 BGB ist den Familiengerichten nicht eröffnet. Diese Vorschrift ermöglicht es den Gerichten in erster Linie, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Personensorgeberechtigten zur Einhaltung ihrer Schutzpflichten gegenüber dem Kind anzuhalten (vgl. BT-Drucks. 16/6815 S. 14 f.); als ultima ratio kommt hierbei die Entziehung der elterlichen Sorge in Betracht (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB). Zwar kann in besonders gelagerten Fällen bei Angelegenheiten der Personensorge auch eine Maßnahme gegen einen Dritten erfolgen (§ 1666 Abs. 4 BGB), wenn von dessen Verhalten eine Gefahr für das Kindeswohl ausgeht. Eine Befugnis des Familiengerichts zum Erlass von Anordnungen zur Durchsetzung des Kindeswohls gegenüber Behörden ist damit aber nicht verbunden. Denn Dritte im Sinne der Vorschrift sind nicht Behörden und sonstige Träger der öffentlichen Gewalt. Auf Grundlage des § 1666 BGB können die Familiengerichte auch die Jugendämter nicht zur Unterlassung von Maßnahmen der Jugendhilfe wie etwa einer Inobhutnahme verpflichten (Senatsbeschluss vom - XII ZB 34/21 - FamRZ 2021, 1402 Rn. 13 mwN; vgl. auch BVerwG FamRZ 2002, 668 f.). Umso weniger sind sie befugt, andere staatliche Stellen in ihrem Tun oder Unterlassen anzuweisen. Dies würde nämlich einen Eingriff in das Gewaltenteilungsprinzip bedeuten (OLG Jena FamRZ 2021, 1043, 1048; MünchKommBGB/Lugani 8. Aufl. § 1666 Rn. 181; Johannsen/Henrich/Althammer/Jokisch Familienrecht 7. Aufl. § 1666 a BGB Rn. 17; Meysen FamRZ 2008, 562, 563), für den es an der erforderlichen Rechtsgrundlage fehlt. Insbesondere legitimieren die §§ 1666, 1666 a BGB i.V.m. dem staatlichen Wächteramt einen solchen Eingriff nicht. Im Rahmen des schulischen Sonderrechtsverhältnisses sind die zuständigen Behörden ihrerseits an die das Kindeswohl schützenden Grundrechte gebunden. Die gerichtliche Kontrolle dieses Behördenhandelns - auch hinsichtlich Infektionsschutzmaßnahmen in den jeweiligen Schulen - obliegt hierbei allein den Verwaltungsgerichten; insoweit haben auch die §§ 23 b GVG, 111 Nr. 2, 151 Nr. 1 FamFG nicht die Bedeutung einer abdrängenden Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

93. Eine Zuständigkeitsbestimmung dahin, dass das Verwaltungsgericht zuständig sei, ist dem Senat jedoch verwehrt, da eine Rechtswegverweisung wegen unüberwindbar verschiedener Prozessmaximen des amtswegigen Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Klage- bzw. Antragsverfahrens der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht in Betracht kommt.

10Zwar ist auch im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine Verweisung auf einen anderen Rechtsweg nicht generell ausgeschlossen. So kommt beispielsweise die Verweisung einer beim allgemeinen Zivilgericht anhängig gewordenen Klage an das für Wohnungseigentumssachen zuständige Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Betracht, weil das für Wohnungseigentumssachen als sogenannte echte Streitsache ausgestaltete Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ähnlichen Verfahrensgrundsätzen folgt (vgl. - NJW 1984, 740). Umgekehrt kann ein beim Gericht für Notarsachen (§ 111 BNotO) anhängig gemachtes Verfahren, das als ein streitiges Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit anzusehen ist, an die Zivilgerichte verwiesen werden (BGHZ 115, 275 = MDR 1992, 185). Auch konnte ein Zuständigkeitsstreit zwischen dem für Kindschaftssachen zuständigen Familiengericht und dem für Vormundschaftssachen zuständigen Gericht der allgemeinen freiwilligen Gerichtsbarkeit durch Verweisung gelöst werden (Senatsbeschluss BGHZ 78, 108 = FamRZ 1980, 1107).

11Die Vorschrift des § 17 a GVG ist jedoch einschränkend dahin auszulegen, dass eine Verweisung von Amts wegen betriebener Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit mangels „Beschreitung eines Rechtswegs“ durch einen Antragsteller oder Kläger nicht in Betracht kommt, sondern diese bei fehlender Zuständigkeit einzustellen sind (BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 11; OLG Karlsruhe NJW 2021, 2054; OLG Frankfurt FamRZ 2021, 1383, 1384; OLG Jena FamRZ 2021, 1043, 1048; - juris Rn. 5, 10 f.; vgl. auch - juris Rn. 10 f.). Aufgrund der Eingabe der Beteiligten zu 1 und 2 vom hätte beim Familiengericht kein kontradiktorischen Regeln folgendes Antragsverfahren eröffnet werden können, das einer Verweisung an das Verwaltungsgericht zugänglich gewesen wäre (vgl. BVerwG NJW 2021, 2600 Rn. 11 f.), sondern allenfalls ein Verfahren von Amts wegen. Ein Verfahren von Amts wegen mit dem Ziel der Aufhebung schulischer Anordnungen ist der Verwaltungsgerichtsbarkeit jedoch wesensfremd.

124. Das Schreiben der Beteiligten vom gibt auch keine Veranlassung, Vorermittlungen für ein Verfahren nach § 1666 BGB einzuleiten, was der Senat selbst beurteilen kann (vgl. § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Das Verfahren ist deshalb ohne Verweisung einzustellen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:061021BXIIARZ35.21.0

Fundstelle(n):
NJW 2021 S. 3470 Nr. 47
MAAAH-93522